Dirk Maxeiner / 14.02.2016 / 10:30 / 2 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer (9): Körperschall und eine Betriebsanleitung wie Dostojewskis „Schuld und Sühne”

Ich habe kürzlich ein Festival für Oldtimer und Musikboxen besucht. In den sechziger und siebziger Jahren waren Auto und Musikanlage ja noch getrennte Gerätschaften. Auto vor der Tür, Musikbox drinnen im Club. Inzwischen sind beide Teile zusammengewachsen, zumindest für den tiefer gelegten Teil der Bevölkerung.  Zu einem für den Schaulauf nach Feierabend  hergerichteten Golf oder Astra gehört eine leistungstarke Beschallungsanlage mittlerweile dazu wie der Cognac zum flambieren.

Neulich nachts wartete ich an einem Zebrastreifen an der U-Bahn-Station Turmstrasse in Berlin Moabit darauf, dass die Ampel auf grün springt. Tief unter der Erde rumpelte die U9 Richtung Osloer Strasse. Man kann das Geräusch eigentlich nicht hören, man spürt es. So was nennt sich Körperschall. Dann schaltete die Fußgänger-Ampel um und ein sehr tiefer, sehr breiter und sehr schwarzer Mercedes mit sehr getönten Scheiben musste warten. Drinnen war eine hochwertige Beschallungsanlage im Einsatz. Die ganze Karosse schien sich im Rhytmus der Bässe aufzublähen und wieder zusammenzuziehen. Hören konnte man das eigentlich auch nicht, aber eben spüren. Türkischer Number-One-Hit in der Körperschall-Version. Deutlich rhytmischer als die U9.

Das gleiche habe ich im Osten übrigens auch schon bei einem getunten Trabi beobachtet. Nur war dessen Lichtmaschine ein bisschen zu schwach für die stromfressenden Bässe, weshalb die Scheinwerfer bei jedem tiefen Ton schwächer wurden, das hatte was von einer Lichtorgel. Außerdem fiel die Drehzahl mit jedem Bass in den Keller, was in etwa zu folgendem Klangerlebnis führte: Remm, demm, demm, BUUUMS, demm, demmm, demmmm.. Remm,demm, demmm BUUUMS, demm, demmm, demmmm...

In einer Auto-Verkaufsanzeige las ich dazu passend die technischen Daten eines gebrauchten und bereits angejahrten Volkswagen Golf. Von TÜV, Kilometerstand und Anzahl der Besitzer war keine Rede. Scheint nicht mehr wichtig zu sein. Statt dessen: „JVC-Headunit mit 4-Zoll-TFT-Bildschirm, DVD; CD; MP3, Monitor im Geigenkasten im Heckausbau, Zweikanal-Kicker-Endstufe für den Kicker-Woover, Vierkanal für Helix-Lautsprechersysteme vorne und hinten...“  Ich verstehe davon nicht allzu viel, vermute aber, dass man bei voller Leistungsabgabe das nächste Polizeirevier zum Einsturz bringen kann, was ja prinzipiell keine schlechte Idee ist. Die Jugend von heute hat es halt doch besser.

Ich erinnere mich jedenfalls noch an die akustischen Aufrüstungs-Maßnahmen, die ich meinem ersten mausgrauen Käfer zukommen ließ. Ich hatte ihn in den 60er-Jahren für 150 Mark in einer Blindversteigerung vom Wasserwirtschaftsamt in Trier erworben. Bei der Übergabe wurden noch auf dem Hof der Behörde die Schalldämmsiebe aus den beiden Auspuff-Endrohren entfernt, was den Käfer gefühlt doppelt so schnell und die Beamten ein bisschen fassungslos machte. Später kam dann doch noch ein gebrauchtes Radio hinzu, das äußerst intuitiv mit zwei Drehknöpfen und drei Stationstasten zu bedienen war. 

Eine Bedienungsanleitung brauchte man dafür nicht (und für den Käfer eigentlich auch nicht). Auch das hat sich inzwischen geändert und zwar gründlich. Mir ist neulich auf einer Oldtimermesse die Betriebsanleitung eines Mercedes 220 S Baujahr 1956 in die Hände gefallen. Der war damals sozusagen ein hochkomplexes Gerät. Umfang der Abhandlung: Übersichtliche 56 Seiten mit Abschmierplan und allem drum und dran. Zum Vergleich griff ich dann noch zu einer Betriebsanleitung für eine S-Klasse fünfzig Jahre später. Für den Modelljahrgang 2006 lag sie bei 572 Seiten (ohne Musikanlage, die ist nochmal so dick). Das entspricht in etwa Fjodor Dostojewskis „Schuld und Sühne“, der Inhalt lässt sich aber deutlich schlechter merken.

 

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Robert Haase / 16.02.2016

Sehr geehrter Herr Maxeiner, einfach schön mit Ihnen in automobilen Erinnerungen zu schwelgen. Klar, früher war alles besser und die Fliegen haben auch noch einen halben Zentner gewogen. Mein erster Käfer hatte noch nicht einmal eine Tankanzeige, dafür musste bei Ebbe im Tank der Reservehebel im Fußraum umgelegt werden. Aber, und das ist der große Unterschied zu heute, man war deutlich autonomer. Mit einem Satz 11er, 13er und 17er sowie Schrauberzieher, Hammer und einer Rolle Draht konnte man mit ein wenig technischem Verständnis fast alles reparieren. Mache ich heute die Motorhaube auf, sehe ich nur noch Plastikdeckel. Da bleibt bei Problemen nur der Weg zur Fachwerkstatt, die den Laptop mit der Diagnosesoftware anschließt. In Zukunft werden wir dann unseren Enkeln erzählen, dass es früher einmal Autos gab die man sogar noch selber steuern musste. Beste Grüße Robert Haase

Max Wedell / 14.02.2016

Ein Autoradio mit Stationstasten hatte ich auch mal. Das eigentlich sensationelle war aber, daß es einen KURZWELLEN-Empfangsteil hatte. Wenn ich also an der Ampel stand und aus dem Auto neben mir tönte Modern Talking heraus, konnte ich passende Repliken zurückschallen, etwa: Der deutschsprachige Dienst von Radio Bukarest berichtet über die außerordentlich erfolgreichen diesjährigen Ernteergebnisse der sozialistischen landwirtschaftlichen Kollektive in der Provinz Sibiu. Heute gibts da leider nur noch Rauschen, da im Zeitalter des Internet die kurzen Wellen allgemein stillgelegt wurden. Aber selbst Rauschen scheint mir noch eine überlegene Antwort zu sein, wenn es zu Verkehrskontakten mit vibrierenden Hip-Hoppern kommt.

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