Dirk Maxeiner / 28.02.2016 / 10:30 / 0 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer (10): Die ideelle Gesamtpatina

Ich habe seit vielen Jahren einen Zweitwohnsitz in Berlin Moabit. Mir gefällt schon immer der verschlampte Charme der Stadt, der sich in Moabit noch ziemlich gehalten hat. Da gehören aus der Zeit gefallene Kneipen und Gebrauchtmöbel-Depots dazu, aber auch Graffitis und Hundescheiße. Man kann das eine nicht ohne das andere haben, so ist eben die Logik des Verfalls. Nun wird mein Viertel in letzter Zeit zunehmend schick, gleich vorne an der Ecke hat jetzt ein so genanntes Buch-Cafe aufgemacht. Da sitzen schicke Menschen drin, die ironische Pepita-Hütchen tragen. Sie reden von allerlei Projekten und sind in erster Linie kreativ, das heißt sie arbeiten eher nicht. Und sie beschweren sich über die alte Dame mit ihrem betagten Schäferhund, der mal wieder den Bürgersteig zukackt. Man nennt diese Entwicklung Gentrifizierung. Sie ist wohl normal, hat aber einen unausweichlichen Effekt: Eines Tages steht man auf,  geht durch die Strasse vorm Haus und stellt fest: Die Hundescheiße ist weg - und der Charme auch. C’est la vie.

Wenn  ich spazieren gehe, dann besuche ich in Moabit auch gerne die Oldtimer-Remise. In diesem alten Straßenbahndepot ist alles untergebracht, was irgendwie mit Oldtimern zu tun hat. Und hier stellte ich einen ganz umgekehrten Trend fest: Immer mehr alte Autos werden ausdrücklich mit „Patina“ -  also mit dem leicht maroden Charme der Jahre angeboten. Je schöner die Patina, desto teurer das gute Stück. Seit neuestem gibt es sogar Offerten die Patina zu „konservieren“. Das ist natürlich ein bisschen ein Widerspruch in sich selbst. Eigentlich müsste man so ein Auto ja weiter verfallen lassen auch technisch. Pannen und Improvisation gehören im Grunde zum Charme dazu – genau wie diese Haufen in meiner Strasse – na sie wissen schon. Bei einem Besuch in Argentinien habe ich oft am Straßenrand Leute ihre Altwagen reparieren gesehen, die nur noch von Klebeband und Draht zusammen gehalten wurden. Das ist dann sozusagen eine ideelle Gesamtpatina, bestehend aus Auto, Besitzer und Situation. Aber vielleicht sehe ich die Sache auch ein bisschen zu philosophisch.

Die Mode der perfekt restaurierten Altwagen hat jedenfalls deutlich ihren Höhepunkt überschritten. Sie wird als Gentrifizierung des Oldtimers in die Geschichte eingehen. Der heutige Zeitgeist schätzt wieder die charaktervollen Spuren der Jahre. Nach jedem Blick in den Spiegel hoffe ich übrigens, dass dieser Trend bald auch gegenüber uns selbst einsetzen möge. Denn da bleibt Rost bedauerlicherweise immer noch Rost.

 

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