Mal vorweg: Der Sonntagsfahrer meldet sich heute aus dem Urlaub. Autofrei. Der Besucher von Venedig läßt sein Auto in einem der großen Parkhäuser an der Piazzale Roma zurück und vergißt es. Venedig ist die Stadt des Gehens und Spazierens. Für Faulenzer reicht aber der Sprung auf die Planken des Linienschiffes („Vaporetto“), das mich zur Haltestation Accademia befördert. In den engen Gassen herrscht schon mal Stop and Go. Die Gänge Richtung San Marco, Rialto-Brücke oder Accademia erinnern an einem schönen Wochenende an den Betrieb in einer Tokioter U-Bahn. Wahrscheinlich gibt’s demnächst Einbahnstraßen für Fußgänger, immer im Kreis herum. Die Frage ist nur, ob man den Touristen auch ein Kennzeichen verpasst, damit man Zuwiderhandlungen auch ahnden kann.
Faktisch bewegen sich auf den Haupt-Trampelpfaden aber ohnehin alle schon im Gleichklang der Herde. Sowas nennt man Mainstream. Und das gibt’s bekanntlich nicht nur in Venedig und nicht nur beim Rumlatschen. Wer das nicht mag, schlägt sich seitlich in die nächste Gasse. Da wird es gleich leerer. Ab und zu erbarmt sich ein Luftzug. Achse-Leser wissen, was ich meine.
Ich erkenne sogar mühelos den Markusplatz
Wer seine Ruhe haben und Venedig nur mit der Straßenreinigung teilen will, der steht einfach früh auf. Kein Problem, ich werde ja ohnehin von präseniler Schlaflosigkeit heimgesucht. Morgens um sechs ist die Welt noch in Ordnung. Keine Menschenmassen versperren die Sicht. Ich erkenne sogar mühelos den Markusplatz. Vom Canal Grande dringt das gleichmäßige Geräusch der großen Dieselmotoren aus dem Bauch der Schiffe herüber. Vaporetto, schwere Lastenkähne und elegante Wassertaxis mit polierten Edelholzdecks durchpflügen die glitzernde Wasserstrasse. Klappernd und klirrend fegt ein Straßenkehrer die Reste der vergangenen Nacht zusammen.
Unter dem Stichwort „Spazieren“ heißt es im ersten Wörterbuch der Gebrüder Grimm: „Zum Vergnügen gehen, Lustwandeln. Lehnwort aus dem italienischen spaziare.“ Und spätestens nach dem Mittagessen einen Espresso und einen Grappa. Kein Führerschein, der in Gefahr sein könnte. Noch nicht einmal der Gedanke daran. Gehen dient ja nicht nur der Fortbewegung, Verdauung oder Ausnüchterung, sondern auch dem Ausgleich der Psyche. Bei starker Anspannung springt der Mensch auf und geht umher, beim Gehen lassen sich Gedanken ordnen. Nicht umsonst fragt man: „Wie geht es Ihnen?".
Die Schule der altgriechischen Peripathetiker philosophierte grundsätzlich im Gehen. Bin zwar kein alter Grieche, komme aus dem Philosophieren aber gar nicht mehr raus. Und zwar über entscheidende Fragen. Ein Bier oder einen kalten Weißwein? Gerne auch: Nehme ich die Fondamenta Borgo oder Calle Trevisan? Rechts oder links? Ich beschließe linksrum die Fondamenta Borgo zu nehmen - und dann immer links im Kreis weiter. Komme mir vor wie Ramelow oder Trittin.
Statt auf Sarah Wagenknecht stoße ich auf eine Kneipe. Drinnen sind schon alle anderen, die sich verirrt haben. Amerikaner und Engländer, Norweger und Franzosen. Und ein paar Venezianer. Besucher und Bewohner sind in der Lagune längst eine untrennbare Symbiose zum gegenseitigen Nutzen eingegangen. „Wenn die Venizianer am Abend spazieren gehen, so meiden sie nicht etwas den Markusplatz, wo die Touristen sind, wie das die Römer mit der Via Veneto tun“, schreibt die Schriftsellerin Mary McCarthy. Statt dessen, so hat die verstorbene Wahl-Venezianerin beobachtet, „sehen sie sich die Touristen an, und die Touristen betrachten sich die Venezianer“. Das Hauptvergnügen der Venizianer sind die Ausländer. Wir sind Bestandteil des Unterhaltungsprogramms, besonders wenn wir uns in irgendeiner Weise verirrt haben.
Der smartphone-abhängige Tourist begegnet sich ständig selbst
Je hektischer der Besucher nach einem irgendwie anderen Venedig sucht, desto geringer dürfte der Erfolg sein. Das wahre Venedig ist, wie es im Reiseführer steht: Gondeln und Vaporetto, romantische Sonnenuntergänge und Gondoliere-Gesang, unheimliche Nächte und dunklen Kanäle, Harry’s Bar und Murano. Auf Brücken und in hohlen Gassen begegnet sich der smartphone-abhängige Tourist fortlaufend in Form eines anderen smartphone-Junkies aus, sagen wir mal, Shanghai oder Dallas. Das ist nicht schlimm, das ist Venedig. Die Stadt auf dem Wasser erzeugt fortwährend Spiegelung.
Manch einer empfindet Venedig als Freilicht-Museum. Doch das Klischee stimmt nur zur Hälfte. Die Lagunenstadt beweist, was menschliche Phantasie, Erfindungskraft und Entschlossenheit zu schaffen in der Lage ist. Die Stadt im Meer und der Mensch auf dem Mond erzählen im Grunde die gleiche Geschichte. Nichts spricht dafür, dass es Venedig geben könnte. Venedig ist eine vollkommen unwahrscheinliche, eine ganz und gar artifizielle Stadt
Dabei fällt mir ein: Wo bleibt eigentlich der steigende Meeresspiegel? Alles ist relativ: Venedigs Pfahlbauten sinken langsam ab, aber der Meeresspiegel lässt sich Zeit mit dem Steigen. Das zeigen die Bilder des italienischen Künstlers Canaletto, der im 18. Jahrhundert zahlreiche Ansichten von Venedig fertigte. Sie lassen Rückschlüsse auf den Meeresspiegel zu, mehr als hundertvierzig Jahre bevor dort die erste Pegelmessstation eingerichtet wurde. Ein Klimatologe des Nationalen Wissenschaftsrates von Italien errechnete aus der Chronik der Bilder einen durchschnittlichen Anstieg von 2,7 Millimetern pro Jahr, was erstaunlich gut zu den Abschätzungen über den heutigen Meeresspiegelanstieg passt.
„Venedig sinkt und sinkt und versinkt noch immer nicht. Seit Jahrzehnten schlagen Unesco, Wissenschaftler, Umweltschützer und Experten Alarm. In der Lagunenstadt Venedig steigt seit über hundert Jahren der Meeresspiegel jährlich um durchschnittlich 2,7 Millimeter“, heißt es etwas sarkastisch auf dieser Reiseseite. „Venedig versinkt langsam, und schuld sind die Behörden“, meint hingegen der Schweizer-Rundfunk, was wohl auch niemand wirklich hören will. „Der seit der letzten großen Eiszeit stetig steigende Meeresspiegel dehnte die Adria nach Norden aus“, steht wiederum in einem Spiegel-Beitrag, der jetzt auch schon wieder 5 Jahre alt ist. Seit der letzten Eiszeit, scheint es nicht viel Neues zu geben. Die Klima-Mahner dieser Welt lassen deshalb lieber Bangladesh oder Kiribati untergehen, da kommt man nicht so einfach hin, um die Verhältnisse vor Ort zu überprüfen.
Um ein Haar hätte ich einen Engel gekauft
Venedig ist im übrigen auch eine der wenigen Städte, die ihre Kopie überlebt hat. 1905 errichtete der amerikanische Tabak-Milliardär Abbot Kinney "Venice of America" mitsamt Campanile, Kanälen und nachgebauten Gondeln. Doch das meiste davon verschwand inzwischen unter den nachrückenden Straßen von Los Angeles, brannte ab oder verfiel. Das Original stemmte sich wesentlich erfolgreicher gegen den Zahn der Zeit. Dichter und Denker, Maler und Filmer lieben traditionell die Methaper dieser Stadt. Es gibt keinen festen Boden, keine Gewissheit, auf die Venedig gründen könnte. Insofern ist es schon wieder sehr modern. Und es wird deshalb auch die Prognosen des Potsdam-Institutes überleben.
Die nächste Stichprobe in Sachen Meeresspiegel nehme ich in Loreto, ein paar hundert Kilometer weiter südlich an der Adria-Küste. Die Basilika ist der zweitwichtigste italienische Wallfahrtsort. Als das Heilige Land an den Islam fiel, sollen einige Devotionalien von Engeln hierher getragen worden sein. Um ein Haar hätte ich mir in einem Souvenirshop einen riesigen Engel aus Kunststoff gekauft. Für die Küche, damit nix mehr anbrennt. 1.800 Euro war mir dann aber doch zu teuer.
Von der Basilika auf dem Berg ist die Aussicht aufs Meer immer noch die gleiche wie vor ein paar hundert Jahren. Wenn man von den Betonwaben der Hotels mal absieht. Am Strand ist sogar schon eine coole Bar offen. Lounge-Musik, die Belegschaft spielt Baskettball. Es kommt, wie es kommen muss: Der Ball segelt im hohen Bogen genau auf unseren Tisch zu. Ich opfere mein Mineralwasser und rette mit einem beherzten Griff den Aperol meiner Frau. Szenenapplaus von der Belegschaft. Komme mir vor wie Dirk Nowitzki. Man kommt ins Gespräch. Ich frage, wie es denn mit dem steigenden Meeresspiegel sei. Die jungen Leute werfen die Stirn in Falten ein wie Hans Joachim Schellnhuber: „Schlimm, ganz schlimm, ja die Klimakatastrophe!“. Ja wie, auch hier bei euch? Nein, in Loreto müsse man sich keine Sorgen machen, hier sei alles beim alten. Aber in der weiten Welt, da sei es ganz schlimm. Komisch, der Meeresspiegel steigt immer nur da, wo ich gerade nicht bin.
Die Staatsbahn scheint auch nicht so recht Angst vor dem Meeresspiegel zu haben. Der italienische Hochgeschwindigkeitszug fährt jedenfalls über hunderte Kilometer mehr oder weniger direkt am Strand der Adria entlang. Sieht nur aus wie ein U-Boot, ist aber immer noch keines. Wer am Strand liegt und den Fahrplan kennt, braucht übrigens keine Uhr. Alle halbe Stunde bebt die Erde. Aber das Meer bleibt schön brav wo es ist.
Den letzten Versuch die steigenden Fluten dingfest zu machen unternehme ich auf dem Sporn des italienischen Stiefels. Die Halbinsel Gargano gilt als unsichere Gegend, seit die türkischen Korsaren übers Meer kamen und sich ziemlich schlecht benahmen. Deshalb wurden im 16. Und 17. Jahrhundert zwischen Peschici und Vieste mächtige Wachtürme an den Strand gesetzt. Sie stehen immer noch da, genauso wie zur Zeit ihrer Errichtung, stolz und ohne nasse Füße. Heute hätte der Bau solcher Türme übrigens eine ganz schlechte Presse als skandalöse Grenzschutzmaßnahme – aber das ist wieder eine andere Geschichte.
Übrigens: In diesem Sonntagsfahrer ging es ja viel ums Gehen. Im nächsten wird das Tempo verschärft: Es geht ums Liegen.