Von Jesko Matthes.
Zum 1. April trat ich die Flucht an: Freitag frei genommen. Keine Tageszeitung. Weg von zu Hause. Kein Fernseher. Stattdessen ab in den Ruhrpott, zuerst ein Konzert. Weltmusik mit Sona Jobarteh, Kora-Harfenistin aus Gambia, erster Griot-Frau und ihrer Band. Fast drei Stunden mitreißende afrikanische Musik mit einem Schuss Jazz und Blues, in der ehemaligen Zeche „Carl“ in Essen. Örtliches Bier in der Pause. Zum Schluss singt sie ein Lied über den Frieden, das zwanzig Minuten dauert. Vor der ersten Reihe wird getanzt, danach Zugabe und standing ovations. Am nächsten Tag ein langer Spaziergang durch die Essener Innenstadt, mit Ehefrau und einer guten Freundin, gerade dreißig Jahre alt geworden, abends gleich noch ein Spaziergang, nun zu viert, mit unserem Hund, auf dem ausgedehnten Gelände der ehemaligen Zeche „Zollverein“, zuletzt gemeinsames Essen auf der Promenade des „CentrO“ in Oberhausen.
Gute Chancen also, den Kopf frei zu bekommen von Politik, wieder frei und offen zu werden für Multikulturelles von morgen, Industriekultur von gestern und den ganz banalen Alltag von heute. Von mir ist an diesem Wochenende keinerlei politisches Denken und Reden zu erwarten. Kopf zu.
Unpolitisches Reden
Wenn nur die Beifahrerinnen nicht wären. Auf der Heimfahrt in ihre kleine Wohnung in einem der ärmeren Viertel Oberhausens meldet sich unvermittelt die junge Frau vom Rücksitz: „Natürlich hat sich auch hier was verändert. Plötzlich werden ganze Einkaufszentren evakuiert, schwer bewaffnete Polizei rückt an. Über die Ergebnisse der Ermittlungen erfährst du fast nichts. In Duisburg sollen sie jemand verhaftet und wieder freigelassen haben. Wenn ich morgens auf dem Bahnsteig stehe, auf dem Weg zur Arbeit, dann denke ich, wenn jetzt hier einer dieser islamistischen Spinner mit der Axt randaliert, dann hast du keine Chance, auch wenn der Polizist unten vor dem Bahnhof steht, du hast das Ding im Rücken. Oder es knallt laut und du bist gleich tot, hoffentlich. Als Frau fühlst du dich ja sowieso wenig sicher. Na ja, man sagt ja, zuhause kann man auch von der Leiter fallen...“
Und das, obwohl sie einen langjährigen, muslimischen Partner hatte. Man dachte an Heirat. Seine Eltern akzeptierten das. Es seien die jüngeren Geschwister gewesen, die auf eine Muslima bestanden hätten, und so habe er sich eben eine Muslima gesucht. Die junge Frau, unsere Freundin, bezeichnet sich selbst als völlig unpolitisch. Vor allem liebt sie Reisen, kennt New York, Kalifornien, Barcelona. Weite Teile der Türkei hat sie mit ihrem damaligen Liebsten bereist.
Meine Frau, notorische Linkswählerin, als Jugendliche von Hamburg aus freiwillig ins Ferienlager der FDJ im Bezirk Rostock gereist, sich als politisch nicht mehr interessiert betrachtend, chronisch kopfschüttelnd über mein ständiges Politisieren, stimmt vom Beifahrersitz aus ein: „Ich weiß sowieso nicht, was die Leute alle hier sollen, wenn sie kein Recht auf Asyl oder – wie heißt das? - subsidiären Schutz haben.“
Es liegt ja nicht an mir
Nur zwei im Wagen schweigen: Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren, es ist dichter Stadtverkehr, vorbei an bunt beleuchteten Spielhallen, Sport-Bars, Kebap- und Currywurstbuden, Gebrauchtwagenhalden, Industriebrachen, Schimanski-Sentimentalitäten, du hast 'n Pulsschlag aus Stahl. Und mein Hund schweigt. Er ist schon alt, abgeklärt, oft genervt. Er schläft. Er tut wenigstens so. Ich muss gestehen, auch ich ziehe die Schultern hoch und den grauer werdenden Kopf ein und schweige. Denn so anstrengend ist die Fahrt nicht, als dass ich schweigen müsste. Manchmal ist es einfach besser, genau zuzuhören und dem mulmigen Gefühl zu trauen, es verändere sich tatsächlich etwas.
Plötzlich verstehe ich auch die „Mitte“, Joachim Gauck, Norbert Lammert, Sigmar Gabriel, Horst Seehofer, Angela Merkel. Ich sitze schon lange auf dem Fahrersitz und werde müde. Ich traue mich nicht mehr, alles zu sagen, was ich denke. Es könnte schlecht aufgenommen werden. Und auch ich reagiere verständnislos und gereizt, wenn man mir das Wochenende mit der Realität versaut.
Erst ganz zuletzt, beim Einschlafen schon, da denke ich erleichtert: Es liegt nicht an mir. Der Populismus kommt von den unpolitischen Beifahrersitzen.