Am 10. Mai dieses Jahres jährt sich zum 84. Mal der Tag der „Bücherverbrennung“ vom Mai 1933; im Rahmen der „Aktion wider den undeutschen Geist“ wurden auf öffentlichen Plätzen in Berlin und 21 weiteren deutschen Universitätsstädten die Bücher von Autoren verbrannt, die nach Ansicht der Nazis ihr Vaterland verraten hatten: Henrich Heine, Bertold Brecht, Erich Maria Remarque, Arnold Zweig, Heinrich Mann, Joseph Roth und viele andere.
An diesem Tag finden jedes Jahr in Schulen, Theatern und Literaturhäusern Lesungen aus den Werken der „verbrannten Dichter“ statt. Dagegen gäbe es im Prinzip wenig zu sagen, wenn das Ritual mittlerweile nicht im Sumpf der „Erinnerungskultur“ angekommen wäre.
Vor kurzem bekam ich eine Einladung, mich an einer Aktion zu beteiligen, die ein Berliner Galerist initiiert hatte. „Nachbarn lesen für Nachbarn, Freunde lesen für Freunde. Zeigen wir Mut!“
Die Aufforderung, Mut zu zeigen und Freunden und Nachbarn aus den Werken von „Autorinnen und Autoren“ vorzulesen, die „ins Exil verjagt, verfolgt und ermordet“ wurden, wurde mit der politischen Großwetterlage „in unserer Umgebung“ begründet. „Rechte ‚Christen’ wie (der) Trump-Berater Stephen Bannon, israelische Fundamentalisten, islamische Hassprediger, Vertreter des ‚Völkischen‘ wie Björn Höcke vom rechtsradikalen Flügel der AfD“ hätten „eines gemein: sie missachten die Freiheit der Kunst“.
Es ist in der Tat sehr mutig, „israelische Fundamentalisten“ mit „islamischen Hasspredigern“ in einem Atemzug zu nennen, denn kaum etwas macht den Bundesbürgern mehr zu schaffen als die Umtriebe der israelischen Fundamentalisten, vor allem im Bereich von Kunst und Kultur. Meine deutschen Mitbürger leiden darunter mehr als die Palästinenser unter der israelischen Besatzung.
Es gibt für diese Art von Phantomschmerz eine einfache Erklärung. Je länger das Dritte Reich zurückliegt, desto verzweifelter versuchen die Nachkriegsdeutschen, den Widerstand nachzuholen, den ihre Eltern und Großeltern zu leisten vergessen haben. Die „Antifa“ hat mehr Zulauf als je zuvor. Es ist so einfach, sich als „Antifaschist“ und Widerständler zu qualifizieren: Man muss seinen Freunden und Nachbarn nur ein Gedicht von Bert Brecht vorlesen. Das ist Mut in seiner edelsten Form.
Zuerst erschienen in der Züricher Weltwoche