Was für ein Sensationsfund! Und welch eine Aufregung! Landauf, landab wurde es stündlich in den Nachrichten gemeldet, die Sonntagszeitungen waren voll davon: ein Dokument sei aufgetaucht, das endlich belege, was von den führenden Köpfen des DDR-Regimes immer bestritten wurde, nämlich daß es einen Befehl ab, auf Menschen zu schießen, die das Land auf dem Fluchtwege verlassen wollten, Frauen und Kinder inbegriffen. Als ob irgendwo beim Militär ohne Befehl geschossen würde.
Die Fundmeldung war eine fabelhafte Gelegenheit, das Funktionieren unseres Medienbetriebs und seiner politischen Reflexbögen zu studieren; zur Geschichtsaufklärung trug der Fund indessen nicht das Geringste bei. Denn der Text des Schießbefehls war bereits vor zehn Jahren publiziert worden – zwar an entlegener Stelle, in einem Forschungsband, den kaum jemand zur Kenntnis nahm, aber der Neuigkeitswert der Sensationsmeldung des gestrigen Sonntags war damit allemal dahin.
Trotzdem erzitterte die Republik in einer Art historiographischem Starrkrampf: Journalisten bemühten sich, das Wo und Wie des Aktenfunds zu ergründen, die Kommentarmaschinen wurden angeworfen, Politiker gaben Statements voller Abscheu ab, und Radio- und Fernsehleute jagten unter größtem Zeitdruck jedem nur erdenklichen Interviewpartner zum Thema Schießbefehl hinterher; ein Stück Vergangenheit war plötzlich zur Tagesaktualität geworden.
So glaubte man zumindest. Doch bevor der Tag sich neigte, wurde klar, daß etwas Seltsames passiert war: eine Nachrichten-Fata Morgana in der heißen Wüste unserer modernen Kommunikationsmittel. Im gleißenden Licht der Neuigkeitserwartung erscheint manches als Sensation, was man seit zehn Jahren in Büchern lesen kann. Es genügt, daß irgend jemand irgend etwas als Sensation bezeichnet, und schon sagen es alle, da gibt es kein Halten mehr: Die Gefahr, eine Sensation zu versäumen, ist viel größer als die Peinlichkeit, bei diesem Übertreibungs-Festival mitgemacht zu haben.
Früher gab es hier und da noch einen griesgrämigen Kollegen, der sich im letzten Augenblick als Sensations-Terminator betätigte, weil er eine gute Nase und ein gutes Gedächtnis hatte, aber sonntags sind solche Leute nicht im Dienst, und überhaupt wurden die meisten von ihnen längst frühpensioniert, um Platz für die Hyperventilierenden schaffen. Die werden uns dereinst an einem ruhigen Sonntag ohne Vorwarnung noch mit der Sensationsnachricht verblüffen, daß sich die Erde um die Sonne dreht.