Roger Koeppel
Der eben verhaftete Informationsanarchist Julian Assange (Wikileaks) soll sich für politisches Asyl in der Schweiz interessiert haben. Die Behörden könnten dem Ansinnen, wenn es denn vorhanden ist, nur unter einer Bedingung zustimmen: Assange müsste seine Enthüllungsbörse Wikileaks mit sofortiger Wirkung einstellen. Warum? Weil Wikileaks bis jetzt noch nicht den Beweis erbracht hat, dass es sich um eine neutrale, dem journalistischen Öffentlichkeitsprinzip verpflichtete Einrichtung handelt. Stellt man ab auf Äusserungen Assanges, ist Wikileaks auch ein politisches Kampfinstrument, das gezielt auf die Destabilisierung der politischen Ordnung in den Vereinigten Staaten abzielt. Das zumindest geht aus Aussagen hervor, die Assange bei verschiedenen Gelegenheiten tätigte.
Dem amerikanischen Time Magazine gegenüber hielt er fest, dass er eine «gerechtere Welt» erschaffen wolle. In früheren Aufsätzen beschrieb er die USA gemäss Wall Street Journal als eine Art «Verschwörung», die durch Beherrschung der Informationsströme Macht ausübe. Diese Informationsflüsse wolle er durch Wikileaks beschädigen, mit dem Ziel, die «Verschwörung», so nennt er die US-Rechtsordnung, zu stoppen. Es kann nicht die Aufgabe der Schweiz sein, diesem Ansinnen den Schutz der Neutralität zu gewähren. Schon in früheren Zeiten galt: Wenn politische Aktivisten in die Schweiz flohen, hatten sie ihre Agitationen sofort zu beenden. Die Schweiz würde unglaubwürdig als Piratennest für Querulanten und über die Grenzen hinauswirkende Revoluzzer.
Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Journalisten und Organe, die Assanges Enthüllungen verbreiten? Sie müssen sich bewusst sein, dass sie einem möglicherweise militanten Moralisten bei der Destabilisierung einer Rechtsordnung behilflich sind. Sie haben es mit einem Informanten zu tun, dessen Motive zweifelhaft sind, und entsprechend sind alle Informationen vollständig neu zu bewerten. Es ist nicht so, dass Journalisten einen Freibrief hätten, alles, was ihnen tagtäglich zugetragen wird, aus purer Lust an der Indiskretion zu veröffentlichen. Assange kündigte an, demnächst brisante Dokumente aus der Bankenwelt zu verbreiten. Es wäre eine neue Schwelle.
Die Veröffentlichung von Geschäftsgeheimnissen privater oder teilprivater Firmen verletzt die Interessen der privaten Eigentümer. Hier hätten wir es nicht mehr mit der im Zweifelsfall legitimen Durchleuchtung des staatlichen Gewaltmonopols und seiner Machtansprüche zu tun, sondern mit einem unlauteren Angriff auf die Privatsphäre eines Unternehmens. Man mag einwenden, dass Grossbanken über indirekte Staatsgarantien nach wie vor eine Art Teil des öffentlichen Sektors bilden. Ungeachtet dessen sind es fragile Gebilde, die trotz allem der Konkurrenz ausgesetzt und zumindest teilweise in privater Hand sind. Die Enthüllung von Geschäftsgeheimnissen wäre tödlich. Es wäre verwerflich, wenn auch nicht erstaunlich, sollten sich renommierte Zeitungshäuser für die geplante Wikileaks-Attacke auf die Banken hergeben.
Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 49/10