Von Hyam Maccoby.
Hyam Maccoby verdanken wir eine der innovativsten wissenschaftlichen Interpretationen zur Ideen- und Wirkungsgeschichte des Christentums. Die damit eng verknüpfte Theorie des Antisemitismus ist deutlich belastbarer als beispielsweise die schwachbrüstigen Ansätze des Antisemitismusbeauftragten Michael Blume. Maccoby ist im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert worden, was u.a. am unglücklichen Publikationsort der ersten Übersetzungen, dem Ahriman-Verlag des Alt-SDSlers und Sektierers Fritz Erik Hoevels, liegen mag. Dem renommierten Hentrich & Hentrich Verlag gebührt das Verdienst, Maccobys A Pariah People: The Anthropology of Antisemitism (1996) nun in deutscher Übersetzung verfügbar gemacht zu haben. Achgut.com bringt Auszüge passend zur Karwoche:
Das Neue Testament stellte die Juden als verfluchtes Volk hin, dem eine außergewöhnliche Bestrafung zugedacht war. Schon in den Schriften des Neuen Testaments gilt die Zerstörung des Tempels als Erfüllung dieses Fluches, und das spätere Exil der Juden (das in Wirklichkeit nicht vor der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert begann) wurde vordatiert und als weitere Erfüllung des Fluches betrachtet. Es war allerdings nicht das Neue Testament selbst, das die Juden zu einem Pariavolk machte, obwohl es die Bühne bereitete und alle Bedingungen für diese Entwicklung festschrieb. Die Juden wurden zum Pariavolk als Folge des Triumphs des Christentums im Römischen Reich nach dem Regierungsantritt Konstantins, der sie zum ersten Mal zu einem untertanen Volk in einem christlichen Reich machte.
Auch dann dauerte es noch lange, bis die Juden zur Pariagruppe in einer christlichen Gesellschaft wurden. Trotz der ständigen feindseligen Predigten christlicher Lehrer auf allen Ebenen über einen Zeitraum von Jahrhunderten behielten die Juden ein menschliches und sogar würdevolles Erscheinungsbild in den Augen einer heidnischen Bevölkerung. Schließlich griff die Propaganda. Das 11. Jahrhundert kann als Wendepunkt bestimmt werden, als die Juden allmählich von der breiten Masse dämonisiert wurden. Sie wurden zur geächteten Gruppe, ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Umgang, von der Mischehe und von jedem ehrbaren Beruf. Wie dargelegt wurde, besteht die größte Ähnlichkeit ihrer Stellung mit jener der Unberührbaren im Hinduismus, die freilich viel besser dastanden, da sie nicht mit der Schuld des Gottesmordes belastet waren und nicht dämonisiert wurden oder der brutalen Verfolgung ausgesetzt waren, unter der die Juden im Christentum litten.
Das Mittelalter dauerte am längsten für die Juden im zaristischen Russland, wo sie unter mittelalterlichen Bedingungen bis ins 19. Jahrhundert lebten, als sich der sichere Hafen der demokratischen Vereinigten Staaten von Amerika für viele von ihnen auftat, die aus dem „Ansiedlungsrayon“ (das Gebiet im Westen des Russischen Reiches, das bis zu den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert zu Polen gehört hatte) und vor den Pogromen auf der Suche nach Freiheit flüchteten (um dort auf die angewiderte Grimasse von Menschen wie Henry Adams zu stoßen). Die Kontinuität zwischen dem mittelalterlichen Pariatum und dem modernen Antisemitismus kann man ganz deutlich in Russland sehen, wo die Abfassung der gefälschten Protokolle der Weisen von Zion stattfand, die Stütze und Bibel des modernen Antisemitismus.
Aber der größte Ausbruch von Antisemitismus fand nicht in Russland statt, sondern in Deutschland, wo die Kontinuität nicht ganz so stark ins Auge fällt und deshalb von allen geleugnet wurde, die den Antisemitismus von seinen christlichen Vorläufern loslösen möchten. In Deutschland wurden die Juden nicht in Ghettos zusammengepfercht, sondern waren in den höchsten Berufen vertreten, als Richter, Professoren, Naturwissenschaftler, Ärzte, Schriftsteller, Kritiker, Politiker. Sie erfreuten sich ihrer Freiheit und rühmten sich ihres deutschen Patriotismus. Aber hier wurden sie zusammengetrieben, in Lager im Osten geschickt und umgebracht unter Umständen, die an mittelalterliche Bilder von der Hölle erinnern, mit jeder Beigabe, die bitterer Hass sich als Demütigung, Hunger und Folter ausdenken konnte.
Deutscher Anstrich einer universellen christlichen Kampagne des Hasses
Den Deutschen dafür allein die Schuld zu geben, bedeutet für andere Christen, der eigenen Verantwortung auszuweichen. Es ist wahr, dass Deutschland die Schande der schlimmsten Verfolgung von allen trägt, und dies ist eine Fortsetzung der besonders boshaften Färbung der deutschen Judenverfolgung im Mittelalter. In Deutschland war es, wo die ersten Massaker im Zusammenhang mit den Kreuzzügen stattfanden. In Deutschland hatten die Passionsspiele eine besonders sadistische Schärfe und die Darstellungen von Juden in Kunst und Karikatur eine brutale, obszöne Note. Trotzdem ist dies nur der deutsche Anstrich einer universellen christlichen Kampagne des Hasses.
Das blühende deutsche Judentum, in der illusorischen „deutsch-jüdischen Symbiose“ mit Ironie und Trauer von Gershom Scholem beschrieben, hat dazu gedient, die Aufmerksamkeit von der historischen Kontinuität des Antisemitismus abzulenken. Ursachen sind angeführt worden, die in die Neuzeit gehören, wohingegen die Verfolgung und die antisemitische Propaganda der Nazis in Wirklichkeit ein Rückfall in mittelalterliches Denken und Verhalten war, veranlasst durch Ressentiment gegen den jüdischen Versuch, den Vorteil der Versprechungen der Aufklärung wahrzunehmen und der mittelalterlichen Rolle als Paria zu entkommen.
Es ist darauf hingewiesen worden, dass die Maßnahmen der Nazis, die die demokratischen Bürgerrechte der Juden beschnitten, in jeder Hinsicht die mittelalterlichen Verfügungen wiederholen. Außerdem war die aktuelle Propaganda, mit der die Juden verleumdet wurden, einschließlich der Ritualmordlegende, direkt der mittelalterlichen Literatur und Luthers antisemitischen Schmähschriften entnommen.
Angesichts dieser Kontinuität muss man wohl sagen, dass der Holocaust kein Mysterium war. Wenn ein Volk durch die Jahrhunderte ständiger Verleumdung und Dämonisierung ausgesetzt war, sodass ein allgemeiner Abscheu so tief eingeimpft wurde, um wie ein Instinkt zu funktionieren, kann es nicht überraschen, dass irgendwann eine Bewegung aufkommt, deren Ziel die Auslöschung dieses angeblichen Schädlings und Feindes der Menschheit ist. Wenn eine Nation eine demütigende Niederlage in einem großen Krieg erlitten hat und auch unter wirtschaftlicher Not leidet, ist es überhaupt nicht überraschend, dass ein Sündenbock in einer unbewaffneten Minderheitengruppe gefunden wird, die in den Köpfen der Menschen immer noch den Pariastatus einnimmt, der sich aus tiefen religiösen heilsbringenden Vorstellungen herleitet, oder dass eine politische Bewegung, die sich aus nationaler Verzweiflung speist, es sich nicht entgehen lässt, eine solche kraftvolle einende politische Waffe wie Abscheu und Misstrauen gegenüber den Juden zu nutzen.
Drehbuch der „Endlösung“ war auch im Christentum vorhanden
Bezüglich der „Endlösung“ der Nazis muss eine Sache angesprochen werden, die gewissermaßen gegen die allgemeine Stoßrichtung des vorliegenden Buches läuft. Ich habe die Tatsache hervorgehoben, dass die Juden ein notwendiges Element in der christlichen Religionsökonomie des Mittelalters waren und dass dies den Schutz der Juden vor dem Schicksal der Albigenser und anderer Ketzer erklärt. Bernhard von Clairvaux ist das führende Beispiel des christlichen Anliegens, die Juden vor der Vernichtung zu bewahren; wichtig war hier nicht nur das „Zeugnis“, das die Juden trugen, sondern auch der Glaube, dass die Wiederkunft Christi nicht ohne ihre Bekehrung stattfinden könne. Wegen dieses Glaubens an die Notwendigkeit jüdischen Überlebens wurden die Juden eine Kaste im Christentum – eine Pariakaste, gewiss, aber eine, die wie die Unberührbaren im Hinduismus gebraucht wurde, um das religiöse Spektrum zu vervollständigen.
Hitlers Entscheidung, die Juden vollkommen zu vernichten, könnte also als Abkehr von der traditionellen christlichen Strategie gegenüber den Juden verstanden werden. In Wirklichkeit ist es jedoch keine vollständige Abkehr, denn das Drehbuch der „Endlösung“ war auch im Christentum vorhanden. Es findet sich in den endzeitlichen Bewegungen, die von Zeit zu Zeit aufkamen und die um die Idee vom „Antichristen“ kreisten, vor allem gestützt auf 2 Thessalonicher 2,3-12. Diese Lehre wurde zuerst von den Kirchenvätern (Irenaeus, Hippolytus, Lactantius) ausgelegt. Die paulinische Passage wurde meist dahingehend gedeutet, dass zur Endzeit ein jüdischer Antichrist auftreten würde, der von den Juden als Messias betrachtet und eine mächtige jüdische Armee gegen die Streitkräfte des Christentums unter der Führung von Christus selbst anführen würde. Man glaubte auch, dieser Kampf würde zur völligen Vernichtung der Juden, Männer, Frauen und Kinder, durch die christlichen Streitkräfte führen.
Dieses Drehbuch widerspricht dem gängigeren Szenarium, wonach die Juden zur Zeit der Wiederkunft Christi zum Christentum bekehrt würden. Doch in einer Hinsicht stimmten die beiden Szenarien überein: dass die Juden zur Zeit des Endes nicht mehr notwendig sein würden. Sie würden verschwinden, entweder als Bekehrte oder als Opfer der Vernichtung. Die Existenz der Juden als Pariakaste in der Christenheit war in gewöhnlichen Zeiten notwendig, aber in der Endzeit hätte die triumphierende Kirche (Ecclesia triumphans) keinen Bedarf mehr an den Juden.
Also hatte Hitler in einem Strang der christlichen Tradition doch ein Vorbild für seine Vorstellung von der „Endlösung“. Tatsächlich war die endzeitliche Tradition besonders stark in Deutschland, wo Hitlers tönender Ausdruck vom „Tausendjährigen Reich“ einen endzeitlichen Widerhall hatte, der letztlich aus dem Neuen Testament (Offb 20,4–6) kam, aber auch an die von Thomas Münzer, der 1525 in Frankenhausen hingerichtet wurde, angeführten Wiedertäufer erinnert (…). Die Idee von einer endzeitlich inspirierten Volksbewegung, die die Hoffnung auf eine endgültige Befreiung der Welt von den Juden einschloss, wurde keineswegs von Hitler erfunden, wenn er auch seine eigene weltliche Version entwickelte. (…)
Der Holocaust ist die schwerste Krise, der sich das Christentum jemals stellen musste
Mehrere Faktoren zusammen haben verhindert, dass die Offensichtlichkeit der Vorläufer des Holocausts allgemein akzeptiert wurde. Die meisten jüdischen Publizisten und Forscher haben sich gescheut, den Holocaust christlichen Lehren und gesellschaftlichen Regelungen zuzuschreiben. Bernard Levin zum Beispiel schreibt in Abständen über den Holocaust in The Times und seine Botschaft ist immer die gleiche: Der Holocaust ist ein unergründliches Geheimnis. Auf einer höheren Ebene haben jüdische Denker wie Elie Wiesel und Emil Fackenheim ebenfalls ein Geheimnis aus dem Holocaust gemacht, indem sie seine Ursache irgendeinem dunklen Element des Bösen im Universum zuordnen. (…) Einige christliche Theologen haben in ihrem Eifer nach einer christlich-jüdischen Annäherung die Leiden der Juden im Holocaust als Echo der Kreuzigung gesehen, und einige Aussagen Elie Wiesels scheinen diese Deutung zu stützen. Von hier war es nur ein Schritt, den Holocaust nicht als spezifisch jüdische Erfahrung zu sehen, sondern auch als Teil der Geschichte und Mission des Christentums. Einige Christen, besonders solche mit jüdischen Wurzeln, aber auch einige, die trotz allgemeiner christlicher Gleichgültigkeit versuchten, den Juden zu helfen, starben in den Todeslagern. Der Tod dieser Christen, von denen die meisten als Juden starben, nicht als Christen, wurde als Bekräftigung des Anspruchs auf christliche Beteiligung als Opfer im Holocaust verstanden. In diesem Geist versuchte eine Gruppe von Karmeliterinnen, einen Konvent auf dem Gelände von Auschwitz zu errichten und war erstaunt, auf jüdischen Widerstand zu stoßen, da ihnen niemand erklärte, dass dieser aus der jüdischen Überzeugung komme, der Holocaust sei ein Ergebnis der christlichen Lehre und nicht etwa ein Beweis für deren Wahrheit.
Der Holocaust ist wahrhaftig ein Teil der Geschichte des Christentums, aber nicht in dem Sinn, den jene Christen beabsichtigten, die den Holocaust für die christliche Theologie vereinnahmen wollen. Der Holocaust ist die schwerste Krise, der sich das Christentum jemals stellen musste, weitaus größer zum Beispiel als die Reformation. Die christliche Antwort auf den Holocaust wird über die Zukunft des Christentums – und ob es eine Zukunft hat – entscheiden. Vielen Christen ist dies bewusst, und sie formulieren die Lehrsätze des Christentums, besonders jene der Christologie, im Licht der entsetzlichen Folgen früherer Lehren neu. Aber es herrscht immer noch sehr wenig Verständnis für die Rolle des Neuen Testamentes und der Kirchenväter in der Entwicklung der Dämonisierung der Juden. Einige christliche Autoren (zum Beispiel Rosemary Ruether, John Gager und Jack Sanders) räumen allerdings ein, dass die Evangelien antisemitisch sind. (…) Der modische Ausweg aus den antisemitischen Schmähungen der Evangelien ist, sie der „innerjüdischen Rivalität“ zuzuschreiben – ein Versuch mehr, die Schuld für den Antisemitismus auf die Juden selbst zu schieben! Wenn die Neuformulierung christlicher Doktrin einer winzigen Minderheit von Gelehrten überlassen bleibt und keine Auswirkung auf den christlichen Kanon hat, wird sie wohl kaum viel Wirkung auf die Kirche insgesamt ausüben, zumal die große Mehrheit der Christen (in Südamerika und Osteuropa zum Beispiel) noch unberührt von der modernen kritischen Methode ist.(…)
Der christliche Antisemitismus ist nicht die einzige Ausprägung des Antisemitismus, die es gibt, aber es ist diejenige, die den Holocaust hervorgebracht hat. Keine der anderen Arten (griechisch, römisch, gnostisch, muslimisch) drückte die Juden auf den Pariastatus hinab oder stattete sie mit dem gleichen Stigma und Abscheu aus, wodurch sie Ausbrüchen allgemeiner oder obrigkeitlicher Gewalt ausgesetzt wurden. Das Niveau der christlichen antisemitischen Propaganda, ihre Bestätigung in sakralen Texten und die Länge der Zeit, über die sie verbreitet wurde, sind ohne Parallele. (…)
Erklärungen des Antisemitismus gibt es zuhauf, aber sie bleiben in der Schwebe zwischen zwei Polen. Einerseits kann Antisemitismus als einmaliges und geheimnisvolles Phänomen betrachtet werden, für das keine rationale Erklärung vorgelegt werden kann. In dieser Ansicht können sämtliche Versuche, Ursachen entweder in gegenwärtigen oder in historischen Faktoren zu finden, bestenfalls nur unvollständige Erklärungen ergeben; insbesondere bleibt die Beständigkeit des Antisemitismus in allen Arten von unterschiedlichen historischen und geografischen Umständen unerklärlich. (…)
Antisemitismus ist nicht einmalig oder geheimnisvoll
Am anderen Extrem steht die Ansicht, dass Antisemitismus vollständig aus unmittelbaren Ursachen heraus zu erklären ist. Nach dieser Ansicht habe jede Generation ihren eigenen Antisemitismus, und es sei falsch zu versuchen, alle diese Antisemitismen zu einer zusammenhängenden historischen Kette zu verbinden; tatsächlich gebe es nicht so etwas wie Antisemitismus als historisches Phänomen, das die Jahrhunderte überspannt. Also hätten Ereignisse im Mittelalter keinerlei Bedeutung für antisemitische Äußerungen im 20. Jahrhundert. Antisemitismus sei im Grunde eine Form von Fremdenhass, eine Reaktion auf „den Anderen“ oder auf diejenigen, die nicht als zugehörig betrachtet werden. Da die Juden in irgendeiner Weise (gewöhnlich erklärt als jüdische Unzulänglichkeiten, d.h. „Exklusivität“) länger als alle anderen Fremde in der Gesellschaft geblieben seien, seien sie mehr Spielarten von Fremdenhass begegnet als andere, aber diese Spielarten müssten jeweils für sich behandelt und dürften nicht auf eine unzulässig metaphysische Art verknüpft werden. Das Studium des Antisemitismus bestehe aus der separaten Untersuchung von generationsmäßigen Antisemitismen, die jeweils in Bezug zu den soziologischen Zeitumständen analysiert würden.(…)
Mein eigener, in diesem Buch dargelegter Standpunkt verwirft beide oben genannte Standpunkte. Antisemitismus ist nicht einmalig oder geheimnisvoll, denn er enthält Elemente, die sich alle anderswo finden, wenn auch nicht in Kombination. Eine historisch ausgeprägte Gruppe, die eine verachtete, doch notwendige Rolle in einer größeren Gesellschaft spielt, die ihren Status durch religiöse Texte bestimmt – das alles ist keineswegs einmalig, denn die gleiche Charakterisierung kann man für die Unberührbaren im Hinduismus feststellen. Eine Gruppe, die Ansprüche auf historische Priorität hat und deren Rang deshalb im Interesse einer usurpierenden Mehrheit aberkannt werden muss – das ist noch verbreiteter, genauso wie die Zuordnung eines Usurpationsmythos zu einer solchen bedrückten Minderheit, um ihre Ersetzung zu erklären und zu entschuldigen. Der besondere Mythos, der an den Juden für Usurpationszwecke festgemacht wird, wiederum ist durchaus nicht einmalig. Es ist der Mythos des Heiligen Henkers, der dunklen Gestalt, die mit der Schuld der Gottesopferung belastet ist, und diese Rolle erscheint im Ritual und in der Mythologie vieler Kulturen, wo immer Schuld wegen eines zentralen Rituals der Opferung empfunden wird. Was allerdings einmalig ist, das ist die Anwendung dieses Mythos für die Zwecke der Usurpation und der Schaffung einer Pariakaste.
Hoffnung auf Lösung durch anthropologische Analyse des Neuen Testaments
Während ich die Ähnlichkeit des Antisemitismus mit vielen anderen gesellschaftlichen Äußerungen in anderen Kulturen einräume, verwerfe ich das zweite Extrem, den Antisemitismus mit lokalen soziologischen Faktoren zu erklären, unterschiedlich in verschiedenen Gesellschaften, so dass die Einheit des Antisemitismus als historisches Phänomen zerstört wird. Dies ist eine oberflächliche Herangehensweise, die den historischen Sachverhalt zerstückelt und verfehlt, den Antisemitismus als ein viele Jahrhunderte umfassendes Phänomen zu betrachten. Eine solche Herangehensweise bietet keine Hoffnung auf irgendeine grundlegende Lösung des Problems des Antisemitismus, weil es das Problem als eine Hydra zurücklässt, deren Köpfe man nach und nach abhacken kann, der aber ständig neue Köpfe nachwachsen. Während ich zustimme, dass es mehrere Arten von Antisemitismus gibt, bestehe ich darauf, dass der christliche Antisemitismus der bei weitem wichtigste in seinen historischen Folgen samt dem Holocaust ist. Während der islamische Antisemitismus keineswegs unbedeutend ist und in jüngerer Zeit wegen der Staatsgründung Israels noch wichtiger geworden ist, hat er keinen Holocaust auf dem Gewissen. Außerdem bietet er sich nicht in gleicher Weise wie der christliche Antisemitismus selbst zur Lösung an, weil fundamentalistischer Glaube im Islam noch kaum den Schock des Modernismus erfahren hat, und kritische Annäherungen wesentlich sind für die Lösung dessen, was im Kern ein religiöses Problem ist.
Das Christentum bietet dennoch eine gewisse Hoffnung auf eine Lösung, weil es die postfundamentalistische Phase erreicht hat. Es ist daher möglich, die Analyse christlicher religiöser Texte in einem wissenschaftlichen Geist anzugehen und ihren auf Opfer bezogenen Inhalt freizulegen. Trotz 200 Jahren nichtfundamentalistischer Kritik des Neuen Testaments hat diese Aufgabe gerade erst begonnen, weil die Wissenschaftler, seien sie noch so furchtlos in der Zerlegung der Texte und ihrer Zuordnung zu verschiedenen Dokumenten, sich immer noch dagegen sperren, sich dem Kern ihrer Grausamkeit zu stellen. Die anthropologische Analyse des Neuen Testaments ist der unverzichtbare Prolog zum Verständnis des Antisemitismus.
Auszug aus: „Ein Pariavolk. Zur Anthropologie des Antisemitismus“ von Hyam Maccoby, 1. Auflage der deutschen Ausgabe 2019, Hentrich & Hentrich Verlag: Berlin/Leipzig (Original: A Pariah People. The Anthropology of Antisemitism, London: Constable and Company Limited 1996), hier bestellbar.
Hyam Maccoby (1924–2004) war Talmudphilologe, Bibliothekar am Leo Baeck College in London und zuletzt Professor für Judaistik an der Universität Leeds. Er erforschte die Entstehung und historische Dynamik von Christentum und Judentum. Seine zentralen Werke Jesus der Pharisäer, Der Mythenschmied und Der Heilige Henker wurden auch außerhalb der akademischen Welt bekannt. Sein Theaterstück Die Disputation wurde in zahlreichen Städten der USA sehr erfolgreich aufgeführt.
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