Vera Lengsfeld / 26.06.2016 / 14:00 / 0 / Seite ausdrucken

Wo Europa noch aufbaut: Ein Besuch in Riga

Der Henker von Riga war ein romantischer Mann. Immer, wenn er seines Amtes walten, einen Adeligen auf dem Marktplatz einen Kopf kürzer machen oder einen armen Sünder vor den Toren der Stadt hängen musste, stellte er eine rote Rose in sein Fenster und alle Rigaer wussten, was bevorstand. Man konnte der Hinrichtung zusehen, oder nicht. Der Henker wohnte über dem Schwedentor, ein Durchbruch durch ein Haus, den die Schweden machten, um nach der Eroberung Rigas schneller in die Stadt zu gelangen.

Wegen der Grausamkeit der Eroberer war es den Lettinnen streng untersagt, Beziehungen zu schwedischen Soldaten zu unterhalten. Ein Mädchen verliebte sich dennoch in einen Schweden. Sie trafen sich jede Nacht heimlich an der Stadtmauer nahe dem Schwedentor. Als die Sache rauskam, mauerte der erzürnte Vater seine Tochter neben dem Schwedentor ein. Vage Umrisse an der Wand lassen die Stelle  heute noch erkennen. Die Legende will, dass Liebespaare, wenn sie das Schwedentor passieren, in lauen Sommernächten die Stimme der Eingemauerten hören können: „Ich liebe ihn dennoch!“ Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte sich eine Lettin zur Frau nehmen, treuere Gefährtinnen dürften kaum zu finden sein.

Die Sowjets haben sich an den Letten die Zähne ausgebissen

Lettland ist voll von solchen Geschichten. An dem kleinen Volk haben sich die Sowjets die Zähne ausgebissen. Mitten in Riga, auf der Freiheitsstraße, die auch schon Hitler-, Stalin- und Leninstraße hieß, steht die 42 Meter hohe Freiheitsstatue, offiziell „Mutter Lettlands“, im Volksmund aber Milka genannt. Die Sowjets hätten das kühne Denkmal gern abgerissen, wagten es aber nicht. Am Sockel wurden immer wieder Blumen abgelegt, besonders weiße Rosen, die lettische Nationalblume. Es kursierte der Witz: "Wie kann ein Denkmal gleichzeitig Reisebüro sein? Wenn man Milka Blumen schenkt, bekommt man eine Fahrkarte nach Sibirien." 1987 fand rund um das Denkmal die größte ungenehmigte Demonstration der Sowjetunion statt. Mehr als 5 000 Menschen ehrten die Opfer des Stalinismus. Gleichzeitig war es eine Ehrung für die „Waldbrüder“, lettische Partisanen, die nach der zweiten Okkupation den Sowjets bis in die 60er Jahre hinein die Stirn geboten haben. Wer sich schließlich ergab, kam dennoch ins Lager oder wurde zum Tode verurteilt.

Direkt neben dem Parlament befindet sich ein Barrikaden-Denkmal. Hier wird daran erinnert, dass sich die Letten nicht friedlich von der zusammenbrechenden Sowjetunion trennen konnten. Es gab Straßenkämpfe in Riga und in anderen Städten, die Tote und Verwundete forderten. Erst am 21.August 1991 konnten die Letten ihre Unabhängigkeit erringen.

Die segensreiche Seite der EU ist zu besichtigen

Wer heute durch die Straßen Rigas schlendert, sieht nicht mehr viel vom sowjetischen Mief und Verfall. Die meisten Gebäude sind restauriert. Riga erstrahlt im alten Glanz. Dazu trägt auch die mit EU-Geldern runderneuerte Infrastruktur bei. Das mit Abstand schönste Gebäude der Stadt ist das Schwarzhäupterhaus, das Domizil der unverheirateten Kaufleute. Wer davor steht, ahnt nicht, dass es sich um eine vollständige Rekonstruktion handelt. Das Gebäude wurde 1941durch Bombenangriffe vollständig zerstört und erst zum 800. Geburtstag Rigas im Jahre 2001 wieder aufgebaut.

Im scharfen Kontrast zur bunten Renaissance-Fassade des Schwarzhäupterhauses steht der schwarze Klotz des Okkupationsmuseums, das eine ausgezeichnete Ausstellung über die dunkelsten Kapitel Lettlands, die Okkupationen durch die Sowjets und  die Nazis, beherbergt. Unter anderem sieht man den Nachbau einer Gulag- Baracke, deren Originale nicht mehr vorhanden sind.

Nicht nur geschichtlich ist Riga eine Fundgrube. Auch architektonisch hat die Stadt viel zu bieten. Neben beeindruckender Backsteingotik vor allem viel Jugendstil. Mehr als 700 Jugendstilgebäude gibt es in der Neustadt. Das Beeindruckenste beherbergt ein Museum, das zeigt, wie um die Wende des vorigen Jahrhunderts in diesen Häusern gelebt wurde. Etliche Bauten tragen die Handschrift von Michail Eisenstein, dem Vater des berühmten Regisseurs Sergej Eisenstein, der seine Kindheit in Riga verlebte.

Viele Künstler werden von Riga angezogen

Im Augenblick ist die Stadt dabei, ihr ehemaliges Speicherviertel zu einem Kulturzentrum auszubauen. Das hat bereits viele Künstler angezogen. Die Speicher befinden sich in unmittelbarer Nähe des Zentralmarkts, der sich über fünf Hallen ausdehnt, in denn die deutsche Armee im Ersten Weltkrieg eigentlich Zeppeline bauen wollte. Auch in ihrer Architektur finden sich Elemente des Jugendstils und des Klassizismus.

Am anderen Ufer der Daugava, Rigas stolzem Fluß, steht seit wenigen Jahren ein imposantes Gebäude, dessen Form eines ungleichschenkligen Dreiecks die Blicke förmlich auf sich zieht. Es ist die neue Nationalbibliothek, die von innen noch viel sensationeller wirkt, als von außen. Ein riesiger, sich nach oben verengender Lichthof, lässt den Blick in alle Etagen offen. Gleichzeitig sieht man durch die Glaswände nach draußen. Trotz seiner Größe wirkt das Gebäude leicht und elegant. Michail Eisenstein, könnte er es sehen, wäre überrascht, aber sicher begeistert. Er liebte solche kühnen Lösungen in der Architektur.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Vera Lengsfeld / 11.03.2024 / 16:00 / 20

Wie rettet man eine Demokratie?

Warum lässt die schweigende Mehrheit zu, dass unter dem Schlachtruf, die Demokratie und das Grundgesetz zu verteidigen, beides ausgehöhlt wird? Was man ganz einfach tun…/ mehr

Vera Lengsfeld / 10.03.2024 / 16:00 / 9

Eine Schulung im Denken

Denken ist ein Menschenrecht, aber wer beherrscht die Kunst des Denkens? Warum ist Propaganda so wirksam und für viele Menschen so schwer zu durchschauen? Volker…/ mehr

Vera Lengsfeld / 06.02.2024 / 12:00 / 38

Wie man Desinformation umstrickt – und noch schlimmer macht

Wenn man gewisse „Qualitätsmedien" der Fehlberichterstattung und Manipulation überführt, werden die inkriminierten Texte oft heimlich, still und leise umgeschrieben. Hier ein aktuelles Beispiel.  Auf diesem Blog…/ mehr

Vera Lengsfeld / 04.02.2024 / 15:00 / 20

Die Propaganda-Matrix

Die öffentlich-rechtlichen Medien und die etablierten Medien leiden unter Zuschauer- und Leserschwund, besitzen aber immer noch die Definitionsmacht. Das erleben wir gerade wieder mit einer Propaganda-Welle. …/ mehr

Vera Lengsfeld / 02.02.2024 / 06:05 / 125

Wie man eine Desinformation strickt

Am 30. Januar erschien bei „praxistipps.focus.de“ ein Stück mit dem Titel: „Werteunion Mitglied werden: Was bedeutet das?“ Hier geht es darum: Was davon kann man davon…/ mehr

Vera Lengsfeld / 06.01.2024 / 06:25 / 73

Tod eines Bundesanwalts

Als ich noch in der DDR eingemauert war, hielt ich die Bundesrepublik für einen Rechtsstaat und bewunderte ihren entschlossenen Umgang mit den RAF-Terroristen. Bis herauskam,…/ mehr

Vera Lengsfeld / 29.12.2023 / 13:00 / 17

FDP #AmpelAus – Abstimmung läuft noch drei Tage

Die momentane FDP-Führung hatte offenbar die grandiose Idee, die Mitgliederbefragung unter dem Radar über die Feiertage versanden zu lassen. Das Online-Votum in der FDP-Mitgliedschaft läuft…/ mehr

Vera Lengsfeld / 19.12.2023 / 08:32 / 122

Mist als Abschiedsgeruch für die Ampel

Wahrscheinlich wird es die Ampel nicht auf eine Totalkonfrontation mit den Bauern ankommen lassen, sondern durch Teilrücknahme versuchen, die Proteste zu beenden, denn in Berlin…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com