Unglaublich. Da dachten wir, die Menschen draußen im Lande hätten bloß noch den nächsten Urlaub auf „Malle“, das Dschungelcamp oder Helene Fischer im Kopf, und dann dies: Überall, wo gestern gewählt wurde, ist die Wahlbeteiligung sprunghaft angestiegen, allein in Sachsen-Anhalt um mehr als zehn Prozent. In Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg gingen über siebzig Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen. Wann gab es das zuletzt?
Kein Gedanke mehr an eine fortschreitende Politikverdrossenheit, an den Nichtwähler als Bedrohung der Demokratie. Im Gegenteil, ein Ergebnis, das wieder Hoffnung macht, wenn auch nicht allen gleichermaßen. Die großen - oder muss man schon sagen die ehemals großen? - Volksparteien haben von dem Zuwachs wenig bis nichts gehabt. Allen voran musste die SPD Federn lassen. Doch auch die anderen werden, wenn der Rausch der Einzelerfolge verflogen ist, weniger fröhlich in die Zukunft schauen.
Der Sieg der Grünen in Baden-Württemberg verdankt sich auf den Punkt genau zu hundert Prozent der Sympathie der Schwaben für ihren Mundart sprechenden Landsmann Winfried Kretschmann. Nicht einmal der Bundesvorsitzende der GRÜNEN wagte am Wahlabend, seiner Partei einen Anteil an diesem Erfolg zuzuschreiben. Ganz ähnlich verhält es sich Rheinland-Pfalz. Auch da hat Malu Dreyer persönlich gewonnen, nicht die SPD.
Nimmt man das Ganze zusammen, müssen die einen wie die anderen, Rote, Schwarze und Grüne, abwandernden Wählern nachschauen, zusehen, wie sie von den einstigen Nichtwähler bei der Rückkehr an die Wahlurnen links liegen gelassen werden, im wahrsten Sinne des Wortes. Jeder für sich und alle zusammen haben sie verloren.
Da sie sich vor den Wahlen zu einem Block zusammengeschlossen hatten, um nahezu unterschiedslos auf die AfD einzuschlagen, mehr oder weniger unflätig, muss man nun auch ihre Verluste addieren, um zu verstehen, wer oder was am gestrigen Sonntag abgewählt wurde: Nicht diese oder jene Partei, sondern eine Parteien-Wirtschaft, die sich daran gewöhnt hat, das Volk in den Dienst ihrer Interessen zu stellen, über die Köpfe der Bürger hinweg zu agieren, koste es, was es wolle.
Kein Wunder also, dass viele jetzt völlig konsterniert wirken, geschockt, wie aus allen Wolken gefallen. Das Entsetzen, mit dem das politische Establishment auf den eigenen Niedergang einerseits und die Erfolg der AfD andererseits reagierte, bestätig eindrucksvoll, dass diese politische Kaste nicht mehr in der Gesellschaft verwurzelt ist. Von der Stimmung im Land vermag sie sich keine Vorstellung zu machen. Längst lebt sie in einem selbstgeschaffenen Biotop, in einem Wolkenkuckucksheim, in dem sie sich ihre eigene Realität erfindet.
Dafür vor allem haben CDU, SPD, GRÜNE und LINKE nun die Quittung bekommen. Zu offensichtlich versuchten sie, das Volk aufzuhetzen, indem sie gemeinschaftlich vor denen warnten, die ihnen den Platz an den Futtertrögen der repräsentativen Demokratie streitig machen könnten. Vergebens das Trommelfeuer, mit dem die kooptierten Medien, der öffentlich rechtliche Staatsfunk, die AfD bis kurz vor der Wahlen belegte. Selbst der Bundespräsident hat sich am Ende umsonst für den Status quo ins Zeug gelegt, als er Mitte vergangener Woche noch einmal das Hohelied auf die „repräsentative Demokratie“ anstimmte, die Bürger ermahnte, nicht zu viel direkte Mitsprache, zu viel „plebiszitäre Elemente“ zu beanspruchen. Denn: „Ohne die Parteien würden wir gehässiger miteinander umgehen.“
Eine Weissagung, die in der Tat Anlass zur Sorge gibt, bedenkt man, wie die Marktführer im politischen Gewerbe, SPD, CDU/CSU, GRÜNE, LINKE, schon jetzt mit dem unverhofft aus der Reihe tanzenden Volk „umgehen“, mit dem „Mob“, dem „Pöbel“, dem „Pack“. Politiker wie Bundesjustizminister Heiko Maas, der jegliche Kritik am Handeln der Regierung als „verbale Radikalisierung“ zurückweist, wissen nur zu gut, was sie zu verlieren haben. Pardon wird nicht gegeben, wenn es um die Demokratie geht, über die sie von Amts wegen verfügen. Wer naiv genug ist, zu glauben, dass ihm im Rechtsstaat auch das Recht der Kritik am politischen Betrieb zusteht, wird kurzerhand vom Platz gestellt. „Lupenreine Demokraten“ herrschen nicht bloß in Moskau, auch in Berlin haben sie gelernt, mit starker Hand „durchzuregieren“. Wer dagegen Einspruch erhebt, weil er sich bevormundet fühlt, „der verweigert sich der demokratischen Debatte“ - so wiederum die ganz eigene Logik eines Heiko Maas.
Sicher, man muss dem Mann nicht unrecht tun, indem man ihn für voll nimmt. Seine eigentliche Begabung liegt auf anderen Gebieten. Als „bestangezogener Politiker“ machte er öfter von sich reden; als Knallcharge zierte er unlängst das Cover der BUNTEN, Seite an Seite mit seiner Freundin, die wenig später das Bundesverdienstkreuz aus den Händen des Bundespräsidenten empfing. Dafür gab es gewiss gute Gründe.
Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass wir es heute mit einem politischen Personal zu tun haben, dem jegliches Gefühl für Maß und Werte abhanden gekommen ist. Wie die Monarchen ehedem ihre Herrschaftsansprüche aus dem ererbten Adel ableiteten, so leiten die Politiker heute die ihren aus der Zugehörigkeit zu dieser oder jener Partei ab. Dass das vielen zu wenig ist, haben die gestrigen Landtagswahlen deutlicher noch bestätigt als die Kommunalwahlen schon eine Woche zuvor in Hessen.
Die Bürger, scheint es, machen Anstalten, die Demokratie von Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Sie suchen nach einer Alternative zu der Parteien-Wirtschaft des politischen Kartells. Fündig sind sie bisher allein bei der AfD geworden, deren größtes Verdienst es vorerst ist, nicht involviert zu sein. Das mag wenig genug versprechen, eine „einfache Lösung“; mehr als das Nichts der anderen ist es allemal. Ein demokratisches Angebot, das Zehntausende zurück an die Wahlurnen führte.