Schockstarre in England. Der Supergau ist eingetreten. Die englische Nationalmannschaft mit ihrem bulligen Anführer Wayne Rooney lässt sich, wenige Tage nach dem Brexit-Votum, von den Isländern aus der Europameisterschaft hinauskatapultieren. Nun muss auf der Insel nicht nur ein neuer Premierminister sondern auch ein neuer Fußballtrainer für England gefunden werden. Die Suche nach dem Trainer könnte schwieriger werden als die nach dem Premier. Die interessanteste Option für Downing Street: Theresa May, als britische Angela Merkel und Anti-Boris-Johnson.
Was schmerzt mehr, dieser zweite, unfreiwillige Abschied aus Europa oder der gewollte politische? Eine Frage der Perspektive. Englische Fußball-Fans, für ihr robustes Auftreten bekannt, müssen kleinlaut zurück auf die Insel reisen, was nicht ohne Frust-Aktionen geschehen kann. Zu Hause angekommen hängt nun die letzte Hoffnung britischer Fußball-Fans an der bescheidenen keltischen Provinz Wales, deren Mannschaft nach einem Sieg über den ebenfalls keltischen Nachbarn Nordirland noch im Rennen ist. Bis Freitag haben sie eine körperliche und seelische Verschnaufpause. Dann müssen die Waliser gegen Belgien antreten, einen der großen Favoriten.
Das keltische hat überhaupt Saison
Das keltische hat überhaupt Saison. Schätzungsweise fünf Millionen Bürger des Königreichs haben irische Eltern oder Großeltern. Das gibt ihnen das Recht auf die Staatsbürgerschaft der irischen Republik. Der Run auf den irischen Pass hat schon begonnen. Die Republik Irland bleibt der EU als treues Mitglied erhalten, weshalb sich Staatsbürger der Republik weiter frei und mit allen Rechten in den Ländern der Europäischen Union bewegen können. Noch nie war es in Britannien so populär ein Ire zu sein, nach einer ewigen Geschichte freundlicher und unfreundlicher Herablassung gegenüber der irischen Nachbarinsel.
Andere Auslandsbriten – auch sie zählen zu Millionen – beginnen die Suche nach neuen kontinentalen Staatsbürgerschaften, was bisher den wenigsten stolzen Inhabern britischer Pässe in den Sinn gekommen wäre. Sogar Spanier wollen nun viele werden, obwohl der running gag in einer alten englischen Comedy-Serie (Fawlty Towers) ein extrem dämlicher Kellner namens Manuel war. Die Ursache seiner Dämlichkeit fasste Hotelbesitzer John Cleese gerne in vier kurze Worte: „He is from Barcelona.“ Und nun wollen viele Briten selber Manuels werden, allerdings nicht in Barcelona sondern an der Costa del Sol, wo sie oft seit Jahrzehnten eine zweite sonnige Heimat gefunden haben.
Entgegengesetzte Sorgen haben Kontinentaleuropäer, die in England leben und arbeiten und nun eine ungewisse Zukunft auf der Insel erwarten. Für sie wird die britische Staatsbürgerschaft möglicherweise notwendiger als bisher, wenn auch nicht attraktiver.
„We cross this bridge when we get there"
Dass die ersten ökonomischen Rückschläge des Brexit-Votums im Königreich zu spüren sind, war zu erwarten. Das Pfund sackte ab, die Londoner Börse auch und als letzte Rating-Agentur hat auch S&P den Briten die Bestnote AAA gestrichen. Was tun? Die künftige Brexit-Regierung hat offenbar keinen Plan, wie man mit der neuen Situation umgehen soll. Sie hat nach dem alten englischen Sprichwort gehandelt: „We cross this bridge when we get there.“ Nun steht man vor der Brücke und weiß nicht, ob und wie sie trägt.
Eine Aktionsgruppe, die ein zweites Referendum anstrebt, um Britannien in der EU zu halten, hat über eine Million Stimmen gesammelt. Eine sicherlich vergebliche Liebesmüh. Der ersten Euphorie in weiten Teilen Englands ist Ernüchterung, ja eine Katerstimmung gewichen. Ob ein Sieg über die Isländer etwas von der Euphorie zurückgebracht hätte, darf allerdings bezweifelt werden.