Tamara Wernli / 21.10.2016 / 20:00 / Foto: Donkey Hotey / 5 / Seite ausdrucken

Der Boss, ein Psychopath?

Vorgesetzte verbringen ja einen Grossteil ihrer Arbeitszeit damit, Mitarbeitende mit ihren fragwürdigen Angewohnheiten in Erstaunen zu versetzen. Sie taxieren einem beispielsweise mit diesem stechenden Blick, wenn man sich im Gang kreuzt. Oder sie begrüssen einen mit so übertriebener Begeisterung, dass der Schleim bis auf den Teppich tropft. Sie brechen am Ende ihrer Witze in Gelächter aus, mit dem sie jedes wiehernde Pferd in den Schatten stellen. Während wichtigen Präsentationen von Mitarbeitern tippen sie demonstrativ auf ihrem Smartphone herum, als läge das Ende des Syrienkrieges in ihren Händen.

Haben Sie gerade ein Aha-Erlebnis, liebe Leser? Dann liefere ich Ihnen heute möglicherweise eine Erklärung: Falls sich zu diesem Verhalten noch Narzissmus oder Egoismus hinzugesellen – Eigenschaften, zu denen Vorgesetzte ja ein besonders inniges Verhältnis pflegen – könnte es sein, dass Sie es bei Ihrem Chef mit einem Psychopathen zu tun haben.

Eine aktuelle Studie hat herausgefunden, dass 21 Prozent der CEO's einen "klinisch signifikanten Level" an psychopathischen Zügen aufweisen. Einer von fünf Vorgesetzten ist Psychopath – laut den Forschern ungefähr dieselbe Zahl wie unter Gefängnisinsassen (bei 1:100 liegt das Psycho-Verhältnis in der normalen Bevölkerung). Narzissmus, oberflächlicher Charme, mangelnde Empathie, Egoismus, manipulatives Verhalten – alles Anzeichen für psychopatische Züge.

Krankheitsbild oder Stellenbeschreibung?

Mit ihrer Untersuchung wollen die Studienverfasser Arbeitgebern helfen einen Weg zu finden, um potentielle Psychopathen vor einer Anstellung herauszufiltern. Der Gerichtsmediziner Nathan Brooks, der die Studie mit den Universitäten San Diego und Bond in Australien durchführte, empfiehlt Unternehmen, die Rekrutierung ihres Personals zu verbessern. Anstatt als erstes auf die Jobfähigkeiten zu fokussieren, sollte man den Kandidaten einem psychologischen Persönlichkeitstest unterziehen.

Ich bin verwirrt. Haben die Wissenschaftler da nicht etwas durcheinandergebracht? Sind es in gewinnorientierten, börsennotierten Betrieben nicht gerade Leute mit oben genannten Eigenschaften, die für den Managerjob am ehesten in Frage kommen? Wird von CEO's nicht verlangt, Leute zu entlassen ohne schlechtes Gewissen? Quartalszahlen um jeden Preis zu erreichen? Möglichkeiten für Umsatzwachstum zu finden, auch wenn sie nicht immer lupenrein sind? Für geschäftliche Vorteile auch mal seine Moral ein bisschen zu strapazieren?

"Typische Psychopathen veranstalten viel Chaos und tendieren dazu, andere Leute gegeneinander auszuspielen", sagt Nathan Brooks weiter. Erklärt er damit nicht einen grossen Teil von uns zu Psychopathen? Gerade erst habe ich nämlich ein paar wichtige Geschäftstermine komplett verwechselt (Chaos), weshalb mein Mann beim Hundehüten aushelfen musste. Dass er deswegen genötigt war, seine eigene Agenda umzustellen, hielt ich für irrelevant (mangelnde Empathie) – meine Jobperformance ist nun mal wichtiger (Egoismus). Damit ich ihn mit dem süssen Versprechen (oberflächlicher Charme) eines wilden Wochenendes (manipulatives Verhalten) um den Finger wickeln konnte, habe ich meine Planungsfehler einem Arbeitskollegen in die Schuhe geschoben (Leute gegeneinander ausspielen). Und weil ich der Überzeugung bin, dass mein methodisches Vorgehen Manager-Qualitäten offenbart (Narzissmus), werde ich mich demnächst um eine hohe Managmentstelle bewerben. Danke, Herr Brooks, für die nützliche Studie!

Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst.  In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen

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Leserpost

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Burkhard Miersch / 23.10.2016

Juhu, Sozial"wissenschaft” ist gar keine! Das wußte schon Richard Feynman. Er nannte das “Cargo-Kult”.

Andreas Rochow / 22.10.2016

“Sind es in gewinnorientierten, börsennotierten Betrieben nicht gerade Leute mit oben genannten Eigenschaften, die für den Managerjob am ehesten in Frage kommen?” Ja, so ist das! Und ich möchte ergänzen, dass ohne eine ordentliche Portion Egoimus, Rücksichtslosigkeit und Narzissmus kaum eine Erfolgskarriere denkbar wäre. Egoismus ist der natürliche essentielle Antrieb jeden Wettbewerbs. So ist es ist ein grundlegend in die Irre führender Gedanke der Studienautoren, diese Eigenschaften zu messen, um sie aufzulisten und zu einer Krankheitsdiagnose heranzuziehen! Die Psychopathie ist in seriösen internatinalen Klassifikationen gar nicht mehr zu finden. Sie ist längst vom “Volksmund” (Darf man das noch sagen?) okkupiert worden, während Psychologen und Psychiater sich mit Charakter- bzw. Persönlichkeits-Typologien befassen, die nicht gleichbedeutend mit einer Krankheitswertigkeit ist.

Anne-Marie Bekkaye / 22.10.2016

Sehr interessanter Beitrag. Mich würde die Studie von Nathan Brooks interessieren. Gibt es hierzu Quellen?

A. Walter / 22.10.2016

Nur die Person, die egoistisch und rücksichtslos ist, ist besonders erfolgreich im Beruf und im Geschäftsleben. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Das gilt insbesondere für Unternehmer und Manager aber auch genauso für die “normale” Belegschaft in einem Unternehmen. Der Unterschied liegt nur darin, dass sich dieses Verhalten für Unternehmer und Manager Manager finanziell deutlich stärker auswirkt, als bei den Arbeitnehmern u. Arbeitnehmerinnen. Es gibt niemand, der sehr vermögend ist, der nicht rücksichtlos und egoistisch gegenüber Mitarbeiter und Geschäftspartnern seine Ziele verfolgt hat. Mit Gutmenschtum ist noch niemand beruflich erfolgreich und reich geworden (nicht mal die Religionen u. ihre weltlichen Vertreter tun das). Die Erfahrung zeigt, dass insbesondere die Unternehmer, die bei Vorträgen immer wieder gerne erwähnen, wie mitarbeiterorientiert sie sind und die auch mit großen Spenden Sozialprojekte unterstützen am rücksichtslosesten mit ihren Mitarbeitern umgehen. So ist das ganz normale Leben auf dieser Welt. Damit muss sich Jede(r) arrangieren so gut er eben kann.

Thomas Gensch / 22.10.2016

Nun ich glaube, Sie hatten es noch nie mit einem waschechten Psychopaten in einer Führungsposition zu tun. Dann wüssten Sie nämlich, dass sehr wohl die Gefahr besteht, dass Unternehmen regelrecht zerstört werden. Bestehende Strukturen einreißen können die Kollegen sehr gut. Nur leider sind sie völlig außerstande neue tragfähige Strukturen zu schaffen. Und ja, sie spielen die Leute gegeneinander aus, indem sie eine Art “Kreis der Auserwählten” schaffen. Diese Show hat dann was von einem Guru und seinen Jüngern, die einzig berufenen sind, die Weisheiten des Herrn und Meisters zu verstehen versuchen zu dürfen. Dummerweise handelt es sich aber meist nur um mehr oder weniger geschickt verbrämte heiße Luft, die die völlige Planlosigkeit des Meisters kaschieren soll. Das entstehende Chaos führt dann endgültig zur Demotivierung der Mitarbeiter und “Dienst nach Vorschrift”. Da diese Leute oft sehr fleißig sind, versuchen sie das Chaos durch extremen persönlichen Arbeitseinsatz zu überdecken. Das klappt in einer arbeitsteilig organisierten Welt natürlich nur begrenzt. Kurz: wenn die Besitzer eines Unternehmens dieses gehörig umkrempeln wollen, sollten sie dafür einen Psychopaten einstellen. Allerdings sollten sie auf gar keinen Fall den richtigen Zeitpunkt verpassen, ihn wieder zu feuern.

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