Richard Wagner / 27.03.2008 / 07:53 / 0 / Seite ausdrucken

Den Schuh hoch halten oder Die Gerechtigkeit im Discounter

China ist ein Geschäftspartner. Das hämmert man uns Europäern täglich ein. Als wüssten wir es nicht. Zumindest von unseren Einkäufen beim Discounter. Das „Made in China“ ist auf Billigprodukten jeder Art zu finden. Manchmal erst nach längerem Suchen, als wolle es sich verbergen. Es handelt sch ja auch um kein Markenzeichen. Man kauft schließlich nicht ein Produkt, weil es aus China kommt. Man kauft es trotzdem.
  Wessen Geschäftspartner ist China eigentlich und warum? Alles, was in China hergestellt wird, könnte und kann auch wo anders hergestellt werden. Es wird sogar woanders hergestellt. Genau so gut, genau so schlecht. Genau so billig. Warum also China? Das sind alles Fragen, die sich kein Kunde im Discounter stellt. Aber stellt sich der Discounter selbst diese Fragen?
  Ein Discounter, könnte man sagen, ist nichts weiter als ein Geschäft, das den Eindruck erwecken will, die angesagten Standards der Konsumgesellschaft für alle erschwinglich zu machen. Arbeitet der Discounter damit nicht am Problem der Gerechtigkeit? Und ist er auf diese Weise nicht revolutionär? Manche behaupten, die Aufgabe des Discounters sei, die Unterschicht im Glauben zu lassen, sie könne an den Standards der Reichen partizipieren. Und zwar sofort und aus eigenem Entschluss. Zumindest mit einem Imitat aus China.
    Beim Discounter einzukaufen heißt im Grunde, Soft-Markenpiraterie zu betreiben. Der Unterschied zur harten Markenpiraterie besteht darin, dass der Discounter nicht behauptet, den Markenschuh billiger anzubieten, sondern einen wie der Markenschuh aussehenden Schuh, auf dessen Sohle „Made in China“ steht, nicht auf dem Oberleder. Der Discounter fälscht nicht Nike oder Adidas, er macht diese nicht einmal nach, er assoziiert bloß Nike und Adidas.  Damit macht der Discounter nicht mehr einfach nur ein Konsumangebot, er wird vielmehr zum Player der Erlebnisgesellschaft. Diese aber folgt den Geboten des Karnevals. Man verkleidet sich so gut man kann. Zumal es möglich ist, zu einem Sakko von Boss ein T-Shirt von Tchibo zu tragen, ohne das es weiter auffällt, es sei denn, man ist reich und prominent und verrät die Sache im Interview. Als gezielte Indiskretion gegen sich selbst. Was schließlich auch PR sein kann. Billig-PR.
  Phänomenologisch betrachtet sind Konsum-und Erlebnisgesellschaft die Billig-Erben der Grundsätze: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Weit und breit ist im Discounter kein Verkäufer in Sicht, der einem etwas aufschwatzen möchte. Man steht ganz allein vor den gut gefüllten Regalen, und welchen Flachbildschirm man mit nimmt, entscheidet man selbst. Auf eigenes Risiko. Letzten Endes zwingt einen keiner zum Billigeinkauf.
  Im Discounter gibt es - und das ist entscheidend - keine privilegierten Kunden. Man kann zwar mit Kreditkarte zahlen, aber es wird nicht weiter auffallen. Die Kassiererinnen werden nicht einmal registrieren, dass es sich eventuell um eine VIP-Karte handelt.
  Das Erfolgsgeheimnis des Discounters besteht in der Anonymität seiner Existenz. Sie macht nicht nur die Ware, sie macht auch den Kunden namenlos. So braucht er sich für nichts zu schämen. Weder für seinen Geiz, noch für seine Raffgier und schon längst nicht für den schlechten Geschmack. Auch nicht für das Chinageschäft. Das macht den Discounter für das Publikum attraktiv, für die Unterschicht, aber auch für die Prominenz. Diese will nicht nur ab und zu in der Menge baden, sie will auch an der Masse teilhaben. Für sie ist es Kult. Und damit allen anderen ebenfalls erlaubt.
  Menschenrechtsverletzungen? Umweltzerstörung? Nicht mit welchen Gedanken man den Discounter betritt, zählt, sondern mit welcher Ware man ihn verlässt. Die Schuhsohle aber verrät nichts beim Gehen, sie verrät es nur, wenn wir den Schuh hochhalten. Das aber machen wir, wenn überhaupt, nur mit Absicht.

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