Thomas Rietzschel / 14.06.2015 / 17:41 / 2 / Seite ausdrucken

Dekadenz und Toleranz

Das Einrennen offener Scheunentore ist bei den deutschen Politikern eine der beliebtesten Disziplinen im Wettstreit um die Gunst der Wähler, der Menschen, der Bürger.  In der abgelaufenen Woche haben sie sich dabei wieder einmal selbst übertroffen.

Während das Lumpengesindel des IS sich rühmte, gefangene Frauen, bevorzugt Christinen, für ein Handgeld als Lustobjekte zu verscherbeln, und bei den Saudis die Tradition auflebt, Ehebrecher zu steinigen, legten sich linke, soziale, liberale und grüne Demokraten hierzulande für die rechtliche Anerkennung der Homo-Ehe mutig ins Zeug.

Keiner sollte die Chance haben, dem anderen dabei zuvorzukommen. Kaum einer/eine, der oder die parteipolitisch etwas zu sagen hat, wollte versäumen, sich von einer Diskriminierung zu distanzieren, die es gar nicht mehr gibt. Jedenfalls können wir uns an keine Loveparade erinnern, die in den letzten Jahren nur unter massiven Polizeischutz hätte stattfinden können.

Solcher Sicherheitsvorkehrungen bedarf es nur noch, wo die „Wutbürger“ gegen das politische Establishment auf die Straße gehen. Die Kommandanten der Wasserwerfer werden da allemal schneller in Bereitschaft versetzt.

Über die gleichgeschlechtliche Liebe indes hält der Rechtsstaat seine schützende Hand seit langem. Sie zählt längst zu den sexuellen Selbstverständlichkeiten der modernen Konsumgesellschaft. Gehört es doch fast schon zum guten Ton, wenigstens ein bisschen schwul oder lesbisch zu sein. Wieso auch nicht. Immer wieder gab es in der Geschichte Epochen, in denen die Liebe vor allem spielerisch genossen wurde, weil es nicht mehr um die Reproduktion der Gesellschaft ging.

So wie die Menschen das Interesses an der Zukunft verloren, verlor die Liebe ihre existentielle Bedeutung. Alles sollte sich in der Gegenwart erfüllen, in ihrem lustvollen Genuss. Das eröffnete nicht nur der Kunst - man denke bloß an die Hochkultur der römischen Endzeit oder an das Fin de Siècle, an Egon Schiele und Gustav Klimt - ungeahnte Möglichkeiten. Es erlaubt auch in der Liebe vieles, was zuvor mit Tabus belegt war. Die sexuelle Toleranz zählt seit jeher zu den Errungenschaften der Dekadenz.

Jeder kann dann seiner Veranlagung entsprechend lieben, heute wie in früheren Epochen sexueller Befreiung. Daran ändern auch die Witze nichts, die über Schwule und Lesben nach wie vor im Umlauf sind, zumal es sehr viel weniger sind, als über die Heterosexuellen gerissen werden. Schließlich leben nicht mehr in den Zeiten, da man beim Sex das Licht ausknipsen und das Federbett über den nackten Hintern ziehen musste.

Nein und nochmals nein, es geht bei dem politischen Palaver um die Homo-Ehe mitnichten darum, einer bedrohten Minderheit endlich die versagte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wem das, die Anerkennung Andersdenkender und -fühlender, wirklich am Herzen läge, der müsste sich gerade heute mit ganz anderen Themen befassen. Denn tatsächlich werden in Deutschland noch immer oder bereits wieder Menschen diskriminiert, beschimpft und öffentlich verunglimpft, wie wir das noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätten.

Weil sie der Regierung nicht mehr über den Weg trauen, nennt Wolfgang Schäuble Tausende friedlicher Demonstranten „eine Schande für Deutschland“. Eine Partei, die volkswirtschaftlich begründete Zweifel an der Euro-Politik hegt, wird des „Rechtsradikalismus” geziehen; ihre Vertreter werden als „Nationalisten“ ausgegrenzt. Juden müssen sich als öffentlich „feige Sau“ anpöbeln lassen und fürchten, auf offener Straße angerempelt zu werden. Unter den Intellektuellen, der linken Elite des Landes grassiert ein Antisemitismus, der sogar die Frankfurter Rundschau veranlasste, vor einem ideologischen Rückfall in die Vergangenheit zu warnen.

Und die Politiker, unserer gewählten Volksvertreter, was tun sie, wenn sie nicht gleich vorneweg rennen wie bei der Hatz auf die Wutbürger? Weil sie gar nicht mehr wissen, wo sie noch hinschauen sollen, um das alles nicht wahrnehmen zu müssen, üben sie sich in höflicher Zurückhaltung und stürmen mit Getöse vornan, wenn es gilt, offene Scheunentore einzurennen.

Ihr Engagement für die Homo-Ehe ist ein Farce, über die man achselzuckend hinweggehen könnte, wenn der faule Zauber kein kalkuliertes Ablenkungsmanöver wäre, eine Falle, in die die Wähler tappen sollen. Wie ehedem die Spießer ziehen sie sich die Bettdecke - diesmal über den Kopf..

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Thomas Schmied / 15.06.2015

Sie haben eine gute Beobachtungsgabe, Herr Rietzschel. Danke, dass Sie Ihre Gedanken veröffentlichen. Was man gerade zur Agenda macht, ist oft nur gut kalkulierte Strategie. Die gegenwärtige Nummer mit der Homoehe ist dafür ein sehr anschauliches Beispiel. Diese “Diskussion” wurde bewußt jetzt losgetreten - ein Pseudo-Aufregerthema, das die Leute beschäftigen soll. Man kann sich prima profilieren, ohne etwas zu riskieren. Man “setzt ein Zeichen der Toleranz” - mal wieder. Es gibt gerade wichtigere Themen als die “Homoehe” - ja. Die ständig beschworene Toleranz wird nur selektiv propagiert - ja. Einer Mehrheit im Volk ist Politik eh egal, wenn sie sich nicht direkt auf das eigene Leben, das eigene Bankkonto auswirkt. Da hält man dann auch gern “mutig” und “tolerant” das eigene Fähnchen mal in den Wind, wenn die Sau “Homoehe” durch´s Dorf getrieben wird und am eigenen Haus vorbeirennt - man kann danach bequem die Türe wieder schließen, muß sich nicht mit den Bessermenschen herumärgern und hat wieder seine Ruhe.

Hubert Cumberdale / 14.06.2015

“Während das Lumpengesindel des IS sich rühmte, gefangene Frauen, bevorzugt Christinen, für ein Handgeld als Lustobjekte zu verscherbeln, und bei den Saudis die Tradition auflebt, Ehebrecher zu steinigen, legten sich linke, soziale, liberale und grüne Demokraten hierzulande für die rechtliche Anerkennung der Homo-Ehe mutig ins Zeug.” Ich kapiere diese “Logik” nicht. Nur weil anderenorts noch viel schlimmere Sachen passieren, darf man die deutsche Politik nicht kritisieren? Ansonsten schaut in dieser Hinsicht die eigene Bilanz auch nicht sonderlich gut aus. Wo waren denn die Artikel über Boko Haram auf der Achse? Wo waren die Artikel über die Massaker an Muslimen in der WELT? Wo wurde in konservativen Medien überhaupt mal Kritik an Saudi-Arabien geübt? In meiner Lebenszeit jedenfalls nicht. Für Konservative und Ex-Liberale scheinen auch die GEZ und der Mindestlohn größere Probleme zu sein als ISIS. “Weil sie der Regierung nicht mehr über den Weg trauen, nennt Wolfgang Schäuble Tausende friedlicher Demonstranten „eine Schande für Deutschland“. Eine Partei, die volkswirtschaftlich begründete Zweifel an der Euro-Politik hegt, wird des „Rechtsradikalismus” geziehen; ihre Vertreter werden als „Nationalisten“ ausgegrenzt. Juden müssen sich als öffentlich „feige Sau“ anpöbeln lassen und fürchten, auf offener Straße angerempelt zu werden. Unter den Intellektuellen, der linken Elite des Landes grassiert ein Antisemitismus, der sogar die Frankfurter Rundschau veranlasste, vor einem ideologischen Rückfall in die Vergangenheit zu warnen.” Es ist armselig, Progressive und verschiedene Minderheiten untereinander auszuspielen. Außerdem erscheint mir die neu entdeckte Judenfreundlichkeit der Konservativen extrem heuchlerisch. Die christliche Rechte in den USA macht immer auf Pro-Israel, verschweigt aber gerne, was ihrem Weltbild zufolge nach der Apokalypse mit den Juden passieren soll. Ebenso spielen nun deutsche Konservative die Juden sehr gerne gegen Moslems aus, werfen sich aber in anderen Fragen den Antisemiten aus dem *gida-Umfeld, äh, pardon, den “Tausenden friedlichen Demonstranten”, an den Hals. Ob Letztere intellektuell oder links sind oder zur Elite gehören, sei dahingestellt. In Sachen Judenhass sind die Parolen, die man jüngst auf Thüringer *gida-Demos hörte, allerdings eindeutig.

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