Von Hansjörg Müller
Sechs Seiten umfasst das Dokument, das 10 Downing Street am Dienstag veröffentlicht hat. «Dear Donald» hat der britische Premierminister David Cameron von Hand an den Anfang geschrieben, «Yours, David» ans Ende. Spätestens 2017, so hat Cameron seinen Landsleuten versprochen, sollen die Briten über die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU abstimmen können. In seinem offenen Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk hat der konservative Premier dargelegt, was sich seiner Meinung nach ändern muss, damit er unter seinen Landsleuten für einen Verbleib in der EU werben kann. Camerons Vorschläge liegen im Rahmen dessen, was zu erwarten war: Dass die EU das Ziel einer immer engeren Union aufgeben und Bürokratie abbauen solle, fordert er beispielsweise.
Es sind mässige Ansprüche, die hier formuliert werden. Mit viel gutem Willen als mutig bezeichnen kann man allenfalls Camerons Forderung, den Zugang von EU-Ausländern zum britischen Sozialstaat einzuschränken. Doch auch damit sollte die EU leben können: Die Personenfreizügigkeit, eines ihrer Grundprinzipien, bliebe unangetastet. Und dass die Vergabe gewisser Sozialleistungen an die Bürger deutlich ärmerer Länder bei gleichzeitiger Niederlassungsfreiheit auf Dauer schlicht nicht aufrechterhalten werden kann, ist eine nüchterne Überlegung, die auch in Brüssel für jeden nachvollziehbar sein sollte.
Ist die EU klug, kommt sie Cameron entgegen. Noch deutet allerdings wenig darauf hin: Einige der britischen Forderungen seien «hoch problematisch», liess sich die EU-Kommission vernehmen. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der gern die Rolle des Grobians spielt, nannte Camerons Pläne «illegal» – als wäre die Forderung nach Änderung einer bestehenden Regelung bereits ein Verstoss gegen diese.
Was den Brüsseler Funktionären zu denken geben sollte: In vielen Fragen, etwa wenn es um die Kompetenzen der EU und die der nationalstaatlichen Parlamente, aber auch um Einwanderungspolitik geht, unterstützt die Bevölkerung auch auf dem Kontinent mehrheitlich eher Cameron als die Brüsseler Kommission, das zeigen Umfragen, die der EU-kritische Thinktank Open Europe veröffentlicht hat. Manch nationalstaatlicher Regierungschef sieht es denn auch anders als Schulz oder Tusk: Camerons Auslegeordnung sei «eine gute Basis für Verhandlungen», schrieb der dänische Premier Lars Løkke Rasmussen.
Für Europa wäre ein Austritt Grossbritanniens womöglich schlimmer als für die Briten: In diesem Fall würde man sich rasch arrangieren, so wie man es ja auch mit der Schweiz getan hat, zu wichtig ist für beide Seiten der Freihandel zwischen dem Kontinent und dem Königreich. Der Schaden für die britische Wirtschaft hielte sich also in Grenzen. Der EU aber würde in ihren Reihen künftig ein Anwalt des Machbaren fehlen, der die Europäer vor allzu kühnen Plänen der Eurokraten schützen würde. Vielleicht ist es ja ausgerechnet David Cameron, der mit britischem Pragmatismus die europäische Idee vor der real existierenden EU retten kann.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung