Das verflixte siebzehnte Jahr

Von Rudolf Taschner.

Obwohl durch nichts belegt, vermuten wir doch, dass den Zahlen Symbolkraft innewohnt. So hat die Zahl 17, römisch XVII geschrieben, das man zu VIXI, lateinisch für: ich habe gelebt, umstellen kann, unheilschwangere Bedeutung: Die Siebzehnerjahre mögen den Beginn von Umwälzungen markieren. Sie tragen den Keim historischer Wenden in sich.

Für 1517 ist dies tatsächlich der Fall, und einige Parallelen zur Gegenwart sind frappant: Denn 1517 ist das Jahr Martin Luthers, eines Giganten, nicht nur körperlich, sondern auch der Weltgeschichte. Am 31. Oktober dieses Jahres schlug er seine 95 Thesen an das Portal der Schlosskirche zu Wittenberg mit dem Ziel, der Forderung einer grundlegenden Reform der ganzen Kirche „an Haupt und Gliedern“ in aller Öffentlichkeit Ausdruck zu verleihen.

Eine kluge Kirchenpolitik hätte sich die Bestrebungen der Anhänger Luthers zu eigen machen und damit die Spaltung und den Beginn des eigenen Verfalls aufhalten können. Man erkannte sogar diese Chance und wollte sie doch nicht nutzen – es ist genauso wie heute, da solche Torheiten zuhauf in Wirtschaft und Politik um sich greifen.

Proteste in der Reformgesinnung Luthers gab es bereits früher. Aber dem wortgewaltigen Augustinermönch kam der Buchdruck zugute, die Möglichkeit, seine Vorstellungen nicht nur einem erlesenen Kreis von Ausgewählten – heute würde man sagen: der Elite –, sondern einer unübersehbar breiten Öffentlichkeit kundzutun. So, dass ihn die damalige Elite – wenn man sich wieder der heutigen Sprache bedient – als Populisten brandmarkt. Und dies im wahrsten Sinn des Wortes, weil es Luther verstand, „dem Volk aufs Maul zu schauen“.

Die Bibel für alle - eine Gefahr 

Die größte Gefahr für den damaligen Klüngel der Amtskirche kam von der Verbreitung der von Luther ins Deutsche übersetzten Bibel innerhalb der Bevölkerung. Jede und jeder sollten die Heilige Schrift lesen und deuten. Und die Botschaft kam bei dem von der Elite verachteten Volk an. Luthers Einfluss war, wenn man bedenkt, dass die Verbreitung in Papierform und nicht elektronisch erfolgte und erst wenige des Lesens kundig waren, enorm.

Ein aus der Sicht der Elite noch verheerenderer Schachzug des von ihr verdammten Populisten war die Verbreitung von Flugschriften, den Vorläufern der Blogs, vor allem jene „Von der Freyheith eines Christenmenschen“. Begeistert las man das Wort: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“

Luther, der rein theologisch zu argumentieren meinte, ahnte nicht, welche Sprengkraft es in sich enthielt: Eine Jahrtausende alte Hierarchie wurde infrage gestellt. Der Reformator erlebte noch selbst entsetzt, wie „die mörderischen Rotten der Bauern“ seine Schrift verstanden. Sobald der Populist die Peitsche gibt, kann ein nachträgliches „Das habe ich nicht gewollt!“ das Rasen nicht aufhalten.

Auch in den Jahren 1617 und 1817 erahnten wachsame Zeitgenossen, dass fatale Fallstricke gelegt wurden, in welche die Weltgeschichte stolperte:

Jener von 1617 hat gottlob gegenwärtig in Bezug auf das Christentum an Aktualität völlig verloren, nicht jedoch in Bezug auf eine andere Religion, die sich janusartig zugleich in eine politische Ideologie zu verwandeln pflegt: 1617 ist das Jahr der Krönung des Habsburgers Ferdinand II. zum König von Böhmen, eines prüden und bigotten Protestantenhassers. Seine von katholischer Ideologie getriebene Politik mündete geradewegs in den verheerenden Dreißigjährigen Krieg.

Deutsche machen es den Franzosen nach

Der Fallstrick von 1817 liegt uns scheinbar näher: 1817 ist das Jahr des Wartburgfestes: Wenn sich die Franzosen einer Nation zugehörig fühlen, so können dies die Deutschen auch. Dies war die Devise des damals aufkeimenden Strebens, „Ein (sic!) Volk zu werden“, begleitet von Verbrennungen jener Bücher, die das bunte Bild der vielen kleinen deutschen Staaten verteidigten. Was sich daraus entwickelt hat, wissen wir.

Das grässlichste Unheil jedoch trägt das Jahr 1917 in sich: Nicht nur, dass in diesem Jahr der große europäische Krieg mit dem Eintritt Amerikas endgültig zu einem Weltkrieg mutierte, dessen Grauen sich zuvor niemand in seinen schrecklichsten Alpträumen hätte ausmalen können. 1917 ist das Jahr des Menschenhassers Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin.

„Im Unterschied zu typisch russischen Revolutionären, die, wie sein verstorbener Bruder, von idealistischer Begeisterung getrieben wurden“, schreibt der amerikanische Historiker Richard Pipes, „war und bleibt der Hass Lenins vorherrschender Impuls. In diesem emotionalen Boden verwurzelt, war sein Sozialismus von Anfang an vor allem eine Lehre der Zerstörung. Er widmete der zukünftigen Welt wenig Aufmerksamkeit, so beschäftigt waren sein Herz und sein Verstand damit, die Welt der Gegenwart zu zerschlagen.“

Peter Struwe, der den jungen Lenin gut kannte, schrieb über Lenins Hass, er habe Abstoßendes und Furchtbares an sich: „Auch wenn er in ganz unmittelbaren, ich würde sogar sagen: animalischen Gefühlen und Abneigungen verwurzelt war, so war er zugleich jedoch unvermittelt abstrakt und kalt, so wie Lenins ganzes Wesen.“

Die Revolution war ein Kinderspiel

Trotzki nannte ihn zynisch wie treffend Maximilien Lenin und öffnete ihm Ende Oktober 1917 mit einem brutalen Putsch die Pforte zur Macht. „Niemand außer einer Handvoll Anführer wusste“, schreibt Pipes, „was eigentlich passiert war: dass die Hauptstadt sich im eisernen Griff bewaffneter Bolschewiki befand und dass es niemals mehr so sein würde wie vorher. Lenin sagte später, der Beginn der Weltrevolution in Russland sei so leicht gewesen wie ein Kinderspiel.“ Die Voraussetzungen waren dafür wie geschaffen: Das riesige Reich, vom Krieg gebeutelt, mit gravierenden sozialen Problemen belastet, war nach der Februarrevolution seiner Wurzeln beraubt, ein Spielball wahnwitziger Ideologen.

1917 markiert den Untergang einer Welt in die Hölle der von Lenin geprägten Diktatur. Alle seine Apologeten machen anderen und zum Schluss sich selbst etwas vor, wenn sie nicht erkennen können, dass die Rede vom Neuen Menschen, von der Neuen Ökonomischen Politik und vom sozialistischen Staat für ihn nur Staffage für die Mehrung seiner grausamen Macht bedeutete, reichend vom Meuchelmord an dem Zaren und dessen Entourage bis hin zum Roten Terror mit Hekatomben brutal vernichteter unschuldiger Menschen. 1917 überschritt Lenin den Nullmeridian des Nihilismus und war darin bis heute anderen Hasardeuren der Geschichte Vorbild.

1517: das Jahr des Demagogen, der „dem Volk aufs Maul“ schaut, 1617: das Jahr der mit Religion getarnten fanatischen Ideologie, 1817: das Jahr der Chauvinisten, die in der Nation das Heil erblicken, 1917: das Jahr des zynischen Nihilisten, der einzig der Ausübung von Macht nachjagt – all dies ist uns nun, im Jahre 2017, keineswegs fremd. Wenn die Geschichte etwas lehren könnte, dann wäre es die Einsicht, dass es apokalyptische Reiter waren, die sich in den genannten Jahren in die Sättel schwangen. Aber selbst wenn die Geschichte lehrt: niemand hört ihr zu.

Das Vertrauen ist weg

Das Hören der Lehren der Geschichte täte dringend not. Denn das Jahr 2017 fällt  in eine Zeit, die von wachsender Instabilität durchdrungen ist. Innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft getroffene Vereinbarungen in Wirtschaft und Politik, vor allem die Kriterien von Maastricht und die Verordnung von Dublin als Voraussetzung der Schengen-Abkommen, wurden so lange umgangen, ja sträflich verletzt, dass das Vertrauen in die von den Staaten und der Europäischen Union garantierte Rechtssicherheit zerfällt.

Nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der Union, dem nur auf die lange Bank geschobenen Schulden- und damit einhergehend: Verarmungsproblem südeuropäischer Staaten und dem Erstarken politischer Kräfte, die den bisherigen Konsens in der Europapolitik nicht weitertragen wollen, wird der Ruf nach einer Neugestaltung der Europäischen Union lauter – allein, es ist völlig unklar, in welche Richtung diese Neugestaltung zielen soll und ob die Bevölkerung Europas einer solchen Neugestaltung mit überwältigender Mehrheit zustimmen würde. Ein europäischer Demos, der die Rechte des europäischen Souveräns beanspruchen sollte, existiert nicht. Er wird nie existieren.

Hinzu treten Probleme, die sich zwingend aus der Demographie ergeben und deren Verdrängung sie in Zukunft nur erschweren: Europa, mit seiner im Schnitt außerordentlich alten Bevölkerung, ist einem Einwanderungsdruck ausgeliefert, den zu bewältigen den Kontinent überfordert. Allein in Ägypten betrug die Bevölkerung um das Jahr 1900 etwa 11 Millionen, 2000 schon fast 68 Millionen, 2010 ca. 86 Millionen und sie hat gegenwärtig bereits die 90 Millionen-Grenze gesprengt. Hält der Bevölkerungsanstieg von zwei Prozent im Jahr an, bedeutet dies eine Verdoppelung der Bevölkerung in weiteren 35 Jahren.

Die einzig wirksame Maßnahme zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums in Afrika ist nicht die Verteilung empfängnisverhütender Präparate, sondern die Steigerung des Wohlstandes breiter Massen, der allein durch die Steigerung des Bildungsniveaus erreicht werden könnte. Die bisher Jahrzehnte lang nach Afrika geflossene Entwicklungshilfe – das Wort „Entwicklungshilfe“ durch den euphemistisch klingenden Ausdruck „Entwicklungszusammenarbeit“ ersetzen zu wollen, zeugt bloß von der grenzenlosen Unbeholfenheit der zuständigen Stellen, die ihr blamables Unvermögen mit politischen Korrektheit verbrämen – landete fast zur Gänze über die düsteren Kanäle der Korruption in den Privatvermögen Einzelner. Da ein zielführender und wirkungsvoll durchgesetzter Ansatz, die demographische Schieflage in angemessener Zeit zu bereinigen, nicht sichtbar ist, muss mit einer massiven Völkerwanderung nach Europa gerechnet werden.

Welche Tradition soll es sein?

Einwanderung nach Europa wäre nur dann zu begrüßen, wenn die hereinströmende Bevölkerung der Ehrgeiz erfüllte, sich die Tradition des Einwanderungslandes so gut es geht anzueignen. Doch dies gelänge nur, wenn man sich in den europäischen Staaten selbst, zumal in Deutschland und in Österreich, bewusst wäre, welche Tradition das Land prägt, und man zugleich rigoros den Erhalt und die Fortführung dieser Tradition verteidigte. Davon sind wir derzeit meilenweit entfernt.

Nur noch wenige verkünden stolz und unbeirrt, dass es sich um die von den antiken Städten Rom (mit seiner Staats- und Rechtsidee), Athen (mit seiner Wissenschaft und Philosophie) und Jerusalem (mit seiner Botschaft von der Ebenbildlichkeit jedes Menschen mit Gott) stammende, vom Christentum aufgesogene und von der Aufklärung veredelte Tradition handelt. Nur wenige glauben noch, wie es Imre Kertész nennt, an ein „individuelles moralisches Ziel (Liebe und Erlösung)“ und an einen „gemeinschaftlichen, kreativen Horizont (übergeordnete, höhere, geistigere und schöpferische Daseinsform), auf den der Mensch zuzusteuern wünscht“. Nur wenige, von ihren Zeitgenossen als verschroben belächelte Träumer, fühlen sich noch Idealen verpflichtet, welche diese Zeitgenossen, dem Trend der Beliebigkeit gehorchend, unbarmherzig und eigenartig lustvoll dekonstruieren. „Klassisch“ – falls man überhaupt noch versteht, was darunter gemeint ist – gilt als überholt.

Einwanderer, die in ein seiner Tradition verlustig gehendes Land dringen, stoßen in ein Vakuum vor, brauchen tatsächlich nichts zu lernen und können weiterhin ihren Atavismen frönen. Mit dem Resultat, dass sich die Gesellschaft des Landes zuerst zweiteilt, danach die verbliebenen Vertreter der verschüttgegangenen Tradition sich in Nischen vergraben, zu schlechter Letzt aussterben.

Die zweite industrielle Revolution

Das soeben beschriebene Versagen gegenüber der Vergangenheit geht zudem mit einem ebenso tragischen Versagen gegenüber der Zukunft einher. Denn wir stehen am „Vorabend einer Revolution“. So schrieb es, knapp vor Jahresbeginn 2017, der Wirtschaftsjournalist Josef Urschitz in der Tageszeitung „Die Presse“: „Der Grund für diese aufkeimende Revolution ist auch leicht zu verorten: Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen passen mit der wirtschaftlichen Realität nicht mehr zusammen. Sie sind auf eine Wirtschaft des 20. Jahrhunderts zugeschnitten, die es seit mindestens zwei Jahrzehnten nicht mehr gibt.“ Wie lautet, so muss gefragt werden, die treibende Kraft, welche die wirtschaftliche Realität von der des 20. Jahrhunderts abkoppelt? Die Antwort lautet, dass diese in der sich anbahnenden zweiten industriellen Revolution zu finden ist.

Um dies vor Augen führen zu können, soll an die Auswirkung der ersten industriellen Revolution erinnert werden, die Anfang des 19. Jahrhunderts begann und sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts fortsetzte: Zuvor war das Leben der meisten Menschen von der Landwirtschaft und – in geringerem Maße, was die Zahl der handelnden Akteure betrifft – vom Bergbau geprägt. Die Güter der Landwirtschaft wurden entweder, kaum bearbeitet, als Nahrungsgüter angeboten oder dienten, wie auch jene des Bergbaus, als Rohmaterial für Handwerksberufe, bei der Herstellung von Textilien, von Baumaterial, von den Gütern des täglichen Bedarfs und von Luxuswaren für die wenigen Vermögenden.

Die erste industrielle Revolution erschloss mit Maschinen und Fabriken völlig neue Arbeitsfelder, gestaltete die Bedürfnisse der Menschen grundlegend um, erschuf neue gesellschaftliche Strukturen. Doch sie führte vorerst nicht zu einer Entlastung der Menschen von der mühevollen Plage, die mit Arbeit verbunden ist, sie verlagerte diese vielmehr.

Vor allem für die in der Landwirtschaft tätigen niederen Bediensteten, die sich mit Strapazen ohne Hoffnung auf ein besseres Leben quälen mussten, war die Arbeit in der Stadt in einer Fabrik eine verlockende Möglichkeit, wiewohl sie auch dort zu Beginn des Maschinenzeitalters kaum bessere Lebensverhältnisse erwarteten.

Die Meisterleistung der Sozialdemokratie

Es war die phänomenale Meisterleistung der Sozialdemokratie, dass sie die mit der ersten industriellen Revolution verbundenen Möglichkeiten für die arbeitende Bevölkerung wahrnahm und in einem zähen Ringen politisch realisierte: Arbeit vermehrt nicht bloß den Wohlstand des Unternehmers und Eigners der Maschinen, sie hat auch den Wohlstand derer zu vermehren, die an den Maschinen die von ihnen abverlangten Leistungen erbringen. Hans-Ulrich Gumbrecht stellte in einem bemerkenswerten Text über „Europa als Lebensform“ fest, dass der von der ersten industriellen Revolution und dem sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Wandel geprägte europäische Kontinent „jener politische, soziale und kulturelle Raum geworden ist, in dem die Sozialdemokratie, so wie sie nach 1950 als Konzept Gestalt angenommen hatte, Wirklichkeit geworden ist. Von dieser Grundlage aus hat sie sich dann vielfältig weiterentwickelt.“

„Zum ersten Mal in der modernen Geschichte“, so Gumbrecht weiter, habe die Sozialdemokratie „die bisher stets exzentrischen Wertvorstellungen der Intellektuellen mit den Präferenzen einer Mehrheit zur Deckung gebracht, die sich diffus als ,Mittelklasse‘ versteht; und diese Konvergenz fungiert in den meisten Mitgliedsstaaten der Union selbstverständlich als Verhandlungsrahmen der Politik, ganz unabhängig davon, ob sich eine jeweilige Regierung eher als ,konservativ‘ oder eher als ,sozial‘ versteht.“

Nun aber bricht sich die zweite industrielle Revolution Bahn. Es sind die mit den Schlagworten einer umgreifenden Digitalisierung der Welt und einer „Industrie 4.0“ verwobenen Umwälzungen, welche zur Schlussfolgerung von Josef Urschitz führen, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit der wirtschaftlichen Realität nicht mehr zusammenpassen.

Die gute und die schlechte Nachricht

Die gute Nachricht lautet: Die zweite industrielle Revolution vollendet in gewissem Sinne die erste. Während die erste industrielle Revolution die Arbeit der Menschen von der Natur weg zur Maschine verlagerte, entlastet die zweite industrielle Revolution tatsächlich die Menschen von der mühevollen Plage, die mit dem Begriff Arbeit bisher offenbar untrennbar verbunden ist.

Ja, sogar noch mehr: Jede Arbeit, die sich auf einen Algorithmus, also auf ein vorgegebenes, schematisch ablaufendes, in einer Programmiersprache formulierbares Regelsystem reduzieren lässt, wird von der zweiten industriellen Revolution erfasst. Der Mensch, der diese Arbeit bisher erbrachte, wird durch eine Maschine vollends ersetzt. Dabei ist es einerlei, ob es sich bei dieser Arbeit um die Herstellung, die Vertreibung oder die Entsorgung eines Produkts handelt oder ob diese Arbeit aus Dienstleistungen besteht.

Der elektronische Butler führt den Haushalt, mechanische Pflegeroboter kümmern sich um Kranke und Pflegebedürftige, digitale Schulungsprogramme ersetzen Trainer, die Lehrstoff eintrichtern, automatisierte Mobilitätssysteme regeln den Personen- und Warenverkehr und ersetzen Chauffeure, Lokomotivführer, Flugzeugpiloten. Fabriken arbeiten vollautomatisch und praktisch menschenleer, landwirtschaftliche Betriebe werden rein maschinell geführt – für jede Arbeitsroutine nach Schema F gibt es den elektromechanischen Ersatz des Menschen.

Dementsprechend wird die Tätigkeit, die im Zuge der zweiten industriellen Revolution vom Menschen zur Maschine wandert, gar nicht mehr als Arbeit, sondern nur mehr als ein wie von selbst ablaufender Vorgang gesehen. Genauso taten es die Griechen der Antike bei den Tätigkeiten, die ihre Sklaven verrichteten: Die Griechen unterschieden klug zwei Arten von Tätigkeit: Die eine, pónos genannt, war die mit Plage, Mühe, Schweiß verbundene Sklavenarbeit. Die andere Arbeit ist hingegen mit dem Begriff érgon gekoppelt und steht für das kreative Werk.

Die Zweiteilung der Gesellschaft kommt

Darin ist das Handwerk genauso eingeschlossen wie die Aufzucht eines mit seinen Tieren verbundenen Landwirts, darin ist die schöpferische Leistung eines Künstlers genauso eingeschlossen wie das im lebendigen Dialog vollzogene Unterrichten junger Menschen. Wesentlich ist, dass man diese Arbeit nicht digitalisiert – nicht nur Arbeit, die sich prinzipiell der Digitalisierung entzieht, sondern auch Arbeit, die man glattweg nicht digitalisieren will. Weil man ihr den substanziellen Anteil an nicht digitalisierter Information, die man mit Begriffen wie „Wissen“, „Weisheit“ und „Intuition“ umschreibt, nicht entreißen möchte.

Die schlechte Nachricht lautet: In der zweiten industriellen Revolution lauert die beängstigende Gefahr, dass zu wenig Arbeit im Sinne des érgon zur Verfügung steht. In einer noch drastischeren Weise als vorher geschildert, wird es zu einer Zweiteilung der Gesellschaft kommen: Neben den wenigen einer Elite Zugehörigen, die mit einer erfüllenden Arbeit im Sinne des érgon die Zukunft gestalten dürfen, wird sich eine große Schar von Arbeitslosen heranbilden, die zwar aufgrund der Segnungen der zweiten industriellen Revolution keine materielle Not leiden, denen jedoch die kreative Teilnahme am Markt, reichend vom Handwerker bis zur Ärztin, versagt bleibt.

Sie wird das Schicksal ereilen, in ein nur zu Beginn als „dolce“ empfundenes „far niente“ zu stürzen. Einfach weil man sie nicht benötigt. Weil die Roboter ohnedies das Notwendige erledigen und ein zu geringer Bedarf an zusätzlicher menschlicher Arbeit besteht. Diese vielen werden zwar materiell befriedigt, aber ohne Lebenssinn ihr Dasein fristen. Sie bilden ein Proletariat, das nicht einmal mehr Ketten hat, die es verlieren könnte.

Angesichts all dieser Probleme und Gefahren steht zu befürchten, dass uns Verwerfungen und Kataklysmen bedrohen, dass wir in eine finstere Ära rasen, gesteuert vielleicht von einem Demagogen, der „dem Volk aufs Maul“ schaut, gesteuert vielleicht von einer mit Religion getarnten fanatischen Ideologie, gesteuert vielleicht von Chauvinisten, die in der Nation das Heil erblicken, gesteuert vielleicht von einem zynischen Nihilisten, der einzig der Ausübung von Macht nachjagt.

Das gute Siebzehnerjahr

Man mag bemerkt haben, dass in der Aufzählung der Siebzehnerjahre zu Beginn dieses Essays das Jahr 1717 fehlt. Tatsächlich war 1717 ein gutes Jahr – jedenfalls für die Habsburgermonarchie:

1717 war das Jahr des Prinzen Eugen, eines exzeptionellen Feldherrn, der in einem Atemzug mit Alexander dem Großen und Julius Caesar genannt werden darf. Von Sieg zu Sieg führte Eugen das Heer des Kaisers: Zenta, Carpa und Chiari, Höchstädt, Turin, Oudenaarde, Malplaquet, Peterwardein, Temeswar sind die Orte von Siegen, die Europa zutiefst beeindruckt haben.

Am 13. Mai 1717 bricht Eugen von Wien auf, um die osmanisch beherrschte Festung Belgrad zu erobern. Zuvor schenkte Karl VI., jener Kaiser, den Eugen wie einen „strengen Herrn“ empfand, dem Prinzen ein mit Diamanten reich besetztes Kruzifix: Er zweifle nicht, schmeichelte Karl, dass der Prinz unter diesem Zeichen siegreich sein werde. Und in der Tat kapitulierte die türkische Armee am 16. August. Das bis heute überlieferte Volkslied von „Prinz Eugen, dem edlen Ritter“ erzählt die Geschichte dieser Schlacht.

Damals war ein Reich mächtiger, je mehr Land seine Grenzen einschlossen. Denn die meisten Menschen waren in der Landwirtschaft tätig. Von ihren Ernten lebte man. Zusätzlich zählten die Bodenschätze des Landes. Eugen von Savoyen bescherte dem Habsburgerreich durch seine Eroberungen den Status einer Großmacht. Heute spielen die Landmassen nicht mehr diese entscheidende Rolle. In der Industrie- und Finanzwelt darf sich sogar die Schweiz als Großmacht fühlen. Selbst das kleine Österreich hätte das Potenzial dafür.

Auf lange Sicht wichtiger war des Prinzen Sieg in Belgrad, weil mit ihm die Gefahr der Expansion des Osmanischen Reichs nach Europa für Jahrhunderte gebannt war. Was Karl Martell bei Tours und Poitiers 732 im Westen gelang, tat ihm Prinz Eugen 1717 im Osten gleich. Nur dadurch war es im Donauraum möglich, dass die Aufklärung Fuß fasste. Prinz Eugen selbst, der mit Leibniz korrespondierte und auch mit Montesquieu und Voltaire in Kontakt stand, war ein Intellektueller ersten Ranges. Seine riesige Büchersammlung füllt heute den Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek.

Zugleich ist 1717 das Geburtsjahr Maria Theresias, jener Kaiserin, die im Vergleich zu den bedeutsamen Herrscherinnen der anderen Großmächte – sei es Englands Virgin Queen Elisabeth I., sei es die Frankreich beherrschende Katharina von Medici, sei es die russische Zarin Katharina II. – wie ein Juwel der Menschlichkeit hervorsticht.

Maria Theresia, Franz Stephan und Joseph

Trotz ihrer konservativen Haltung dürfte sie geahnt haben, dass die aus England und Frankreich kommenden neuen Ideen von Menschenbild und Staatsgewalt letztlich auch in ihrem Reich obsiegen werden. Der von ihr über alles geliebte Mitregent und Gatte Franz Stephan war selbst der Aufklärung gegenüber aufgeschlossen. Noch viel mehr war das aber ihr ältester Sohn Joseph. Bei ihm musste sie mit gewisser Betrübnis feststellen, dass er sich ihren Erzfeind zum Vorbild nahm, den preußischen König Friedrich, einem sich in Sanssouci mit den klügsten und sogar noch aus heutiger Sicht modern denkenden Köpfen Europas umgebenden Monarchen.

Maria Theresia duldete dies nicht nur, sie befolgte auch die Vorschläge ihrer Ratgeber von Joseph von Sonnenfels bis Gerard van Swieten, obwohl ihr bewusst sein musste, dass zum Beispiel die von ihr verordnete Unterrichtspflicht allen ihren Untertanen dem Lesen, ja sogar dem Verfassen aufklärerischen Gedankenguts Tür und Tor öffnete.

Dies ist die Botschaft, die uns „das gute Siebzehnerjahr“ 1717 für 2017 auf den Weg gibt: Allein in der Aufklärung und ihrer Verbreitung, allein in einer umfassenden Bildungsinitiative besteht die Chance, die hier aufgelisteten Probleme konstruktiv zu lösen, den hier genannten Gefahren glimpflich zu entkommen: Bildung verleiht Bewusstsein für die Verantwortung, die Staatenlenker auf sich nehmen. Bildung treibt Entwicklungsländer aus dem in Not und Elend treibenden Teufelskreis. Bildung ermöglicht die Einwurzelung in eine gute Tradition, sowohl bei den Einheimischen wie auch bei den Einwanderern. Bildung schließlich ermöglicht jedem, der ihrer teilhaftig wird, seinem Leben dadurch Sinn zu verleihen, dass er mit seiner Arbeit an der Gestaltung von Zukunft teilnimmt.

Professor Rudolf Taschner ist ein Österreichischer Mathematiker und Autor. Er gründete das Projekt math.space im Wiener MuseumsQuartier: Es stellt die Mathematik einer breiten Öffentlichkeit als kulturelle Errungenschaft vor.

https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Taschner

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Leserpost

netiquette:

Toni Keller / 17.02.2017

@ Jerzy Zylberg wohl in Geschichte geschlafen? Wikipedia irrt hier sehr! Aufgrund der sogenannten Pragmatische Sanktion wurde Maria Theresia Kaiserin und ihr Gatte bleib sein Leben lang Prinz von Lothringen und genau nicht Kaiser von Österreich. Ähnlich ist es zur Zeit in England wo Prinz Phillip eben genau nicht König von England ist.

JF Lupus / 17.02.2017

Die entscheidende Passage in diesem hervorragenden Beitrag ist “Einwanderer, die in ein seiner Tradition verlustig gehendes Land dringen, stoßen in ein Vakuum vor, brauchen tatsächlich nichts zu lernen und können weiterhin ihren Atavismen frönen. Mit dem Resultat, dass sich die Gesellschaft des Landes zuerst zweiteilt, danach die verbliebenen Vertreter der verschüttgegangenen Tradition sich in Nischen vergraben, zu schlechter Letzt aussterben.” Das wissen diejenigen ganz genau, die für die uneingeschränkte Zuwanderung ebenso verantwortlich sind wie für die Unterdrückung und Diskriminierung, ja, Kriminalisierung Andersdenkender verantwortlich sind. “Deutschland ist scheiße” dürfen linksgrüne straflos propagieren, das ist von der Meinungsfreiheit gedeckt. “Zuwanderung beenden, Nicht-Asylberechtigte ausweisen”, das ist nicht gedeckt von Artikel 5 GG, das ist rechts, populistisch oder gar “nazi”. Das Aussterben unserer Tradition, unserer Kultur und unseres Volkes mit seiner wahrlich nicht nur verdammenswerten (12 Jahre) Historie ist bereits im Gange und wird befeuert durch Linke, Grüne, Gutmenschen und skrupellose Politiker aller Parteien. In dieses Land noch ein Kind zu setzen, das ist kaum vorstellbar. Man kann den jetzt hier Lebenden nächsten Generationen nur raten, entweder massiv aufzustehen und den Spuk zu beenden oder auszuwandern.

Peter Zentner / 16.02.2017

@Jerzy Zylberg: Sie irren. Maria Theresia war sehr wohl eine Kaiserin: “Manche Herrscher sind als Institution wichtiger denn als Persönlichkeit, das ist der Fall bei Maria Theresias Vater, Karl VI.: Er ging in die Geschichte mit der wenig glamourösen, aber notwendigen Rolle ein, der Vater Maria Theresias gewesen zu sein und eine Nachfolgeregelung für das weibliche Familienmitglied gebastelt zu haben. Dass er zugleich Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und Herr eines der fünf mächtigsten Staaten Europas, nämlich der österreichischen Monarchie, war, macht ihn für die Nachwelt als Person noch nicht interessant. Anders bei Maria Theresia selbst, die ein facettenreiches Leben als lebenslustige Erzherzogin, Monarchin, die tapfer ihr Erbe verteidigte, allseits geliebte Landesmutter und schließlich konservative Reformerin führte. Sie weckt auch als Persönlichkeit unser Interesse, die Bürde und Würde des Amts hat den Menschen nicht überwuchert.” (Aus “Die Presse”, Wien.) Der angeheiratete lothringische Prinz Stephan war ihr Ehemann, hatte aber keinerlei formelle Macht, wenngleich Maria Theresia ihn als Berater schätzte. // Ceterum censeo: Prof. Taschners Essay ist meisterlich, nicht nur, was Maria Theresia betrifft.

Wilfried Cremer / 16.02.2017

Alle 300 Jahre passiert was Gutes. 1417 wurde Bruder Klaus (Patron der Schweiz) geboren. Seine vielleicht wichtigste politische Botschaft: “Machet den zun nit zu wit!”

Jerzy Zylberg / 16.02.2017

War Maria Theresia eine Kaiserin? Oder nur die Ehefrau eines Kaisers? Wie jede Gattin eines Kaisers wurde sie, obwohl nicht selbst gekrönt, als Kaiserin tituliert. Ein Kaiserin war sie nicht, obwohl sie ungewohnlich viel Macht besaß.

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