Das Terrorjahr 1977

Von Ingo Langner.

Siegfried Buback. Jürgen Ponto. Hanns Martin Schleyer. Drei Namen. Drei Männer. Drei politische Morde. 1977. In Deutschland in der Bundesrepublik Deutschland. Das ganze Deutschland war damals geteilt. Die westliche, bundesrepublikanische Hälfte war mit freien und geheimen Wahlen eine echte Demokratie. Die östliche Hälfte gab vor, das auch zu sein und nannte sich Deutsche Demokratische Republik. Doch nichts in dieser von einer Sozialistischen Einheitspartei hart und brutal regierten Diktatur war demokratisch. Zur Wahl standen nur Gleichgesinnte.

Eine legale Ausreise war dort so gut wie unmöglich. Wem das Leben in Unfreiheit zuwider war, der wurde durch eine mit Mauer, Stacheldraht, Selbstschußanlagen und Soldaten schwer bewachte Grenze gewaltsam an einer Flucht gehindert. Jeder Versuch konnte tödlich sein. Mindestens zweihundert Menschen sind an der deutsch-deutschen Grenze liquidiert worden. Bürger der Bundesrepublik konnten dagegen reisen, wohin sie wollten. So sah es 1977 in Deutschland aus. Der Westdeutsche war ein freier Mensch. Der Ostdeutsche war ein Untertan.

Dessen ungeachtet waren die Mitglieder einer 1970 gegründeten kleinen Gruppe felsenfest davon überzeugt, dass die bundesrepublikanische Demokratie bloß eine Maske war, die den darunter aufs Zuschlagen wartenden Faschismus verbarg. Inspiriert von marxistisch-leninistischen Schriften, den Revolutionen in Russland, China und Kuba und konkret unterstützt von den palästinensischen Guerilla-Bewegungen im Nahen Osten, nannte sich diese Gruppe Rote Armee Fraktion (RAF). Durch Terror wollte diese von Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin angeführte Stadtguerilla das „wahre Gesicht“ der „BRD“ offenbaren. Nach der Entlarvung würden die Bundesdeutschen massenhaft selbst zur Waffe greifen und nach einer blutigen Revolution eine echte kommunistische Gesellschaft der wahrhaft Freien und Gleichen errichten. Das war die Theorie der RAF. In der Praxis scheiterte sie auf der ganzen Linie.

Die neue RAF erwacht

Nachdem die Köpfe der RAF im April 1972 verhaftet, im Mai 1975 angeklagt und schließlich im April 1977 nach 192 Prozeßtagen wegen mehrfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren, erwachte 1977 eine neue RAF zum Leben. Das Ziel dieser zweiten Generation war deutlich bescheidener als das der ersten. Jetzt sollten vordringlich die immer noch am Prozeßort Stuttgart-Stammheim einsitzenden Genossen mit der Ermordung hochrangiger Mitglieder der bundesdeutschen Gesellschaft freigepresst werden. Dass bei den Terrorakten auch Menschen im Umfeld der Zielpersonen zu Tode kamen, wurde als „Kollateralschaden“ billigend in Kauf genommen.

Am 7. April wurde der Generalbundesanwalt Siegfried Buback ermordet, am 30. Juli der Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto. Als die Bundesregierung mit Kanzler Helmut Schmidt an der Spitze sich weigerte, dem Terror nachzugeben, wurde am 5. September der deutsche Arbeitgeberpräsident und Vorsitzender des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Hanns Martin Schleyer, zunächst entführt und am 18. Oktober schließlich ebenfalls ermordet.

Nach dem Weltbild der Baader, Meinhof, Ensslin e.a. befand sich die RAF in einem revolutionären Krieg mit der „BRD“. Sie waren die Rote Armee Fraktion und damit Klassenkämpfer im operativen militärischen Einsatz. Dieser Logik folgend waren Spitzenvertreter des Staates Klassenfeinde. Wenn es der revolutionären Sache dient, können Klassenfeinde getötet werden. So steht es im Lehrbuch der Revolution.

Demzufolge waren die Urteile von Stammheim, die in den Angeklagten gemeine Mörder sahen und ihnen den Status als revolutionäre Kombattanten ausdrücklich absprachen, als Klassenjustiz null und nichtig. Alle modernen Revolutionäre, ganz gleich ob links- oder rechtsideologisch motiviert, gehen davon aus, im Besitz der Wahrheit zu sein. Der Wahrheitsbesitz verleiht ihnen eine höhere moralische Legitimation. Ein Revolutionär ist Herr über Leben und Tod.

Louis-Antoine-Léon de Saint-Just de Richebourg, einer der Protagonisten der Französischen Revolution, pries am 3. März 1794 die blutige Schreckensherrschaft der Guillotine in einer Rede vor dem Konvent mit diesen Worten: „Europa soll erfahren, dass ihr auf französischem Territorium weder einen Unglücklichen noch einen Unterdrücker mehr sehen wollt, dass dieses Beispiel auf der Erde Früchte trage und die Liebe zur Tugend und das Glück ausbreite! Das Glück ist ein neuer Gedanke in Europa!“

Isolationshaft mit Privilegien

Im RAF-Trakt von Stammheim genossen die Gefangenen von Stammheim außergewöhnliche Privilegien. Dort wurden, anders als sonst in Gefängnissen üblich, Männer und Frauen nicht getrennt. Ihre Zellen waren weitaus größer als die gewöhnlichen. Tagsüber konnten sie einander sogar treffen und so in aller Ruhe Pläne zu ihrer Befreiung schmieden. Weil die Kriegslist zum Krieger gehört, erfanden die Gefangenen die perfide Mär von der foltergleichen Stammheimer Isolationshaft. Sie scheuten sich nicht einmal, ihre Lage mit der von Häftlingen in den NS-Vernichtungslagern gleichzusetzen. Wer auf die Propaganda von der „faschistischen BRD“ hereinfiel, der glaubte zu gern auch an Folter und Isolationshaft und wurde Sympathisant der RAF.

Die Rolle der RAF-Propagandisten wurde auch von ihren Rechtsanwälten übernommen. Die Anwälte waren selbst Teil des revolutionären Kampfes. Wie schwerwiegend das war, analysiert der Journalist und Rechtsanwalt Butz Peters ausführlich in den Anmerkungen seines Buches „1977. RAF gegen Bundesrepublik“ und in der Februarausgabe des Magazins „Cicero“.

Nach Peters war Hans-Christian Ströbele „eine Art Postbote der RAF, sein Anwaltskollege Kurt Groenewold Chef der Postsortierer“. Auch Otto Schily hat sich für Butz Peters mitschuldig gemacht. Es käme zwar niemand „auf die Idee, dass er sich mit den politischen Zielen seiner Mandantin Gudrun Ensslin identifizierte. Doch sein geschliffener Vortrag vermittelte RAF-Sympathisanten den Eindruck, der ‚bewaffnete Kampf’ sei legitim.“ Aus den mit der Isolationsfolterlüge indoktrinierten RAF-Sympathisantenkreisen geht die zweite Generation der RAF hervor. Darum folgert Butz Peters in seiner Hauptthese: „Ohne die Rechtsanwälte der ersten RAF-Generation hätte es die zweite Generation nicht gegeben – und auch nicht das deutsche Terrorjahr 1977.“

Nachdem die von palästinensischen Terroristen zum Zwecke der Freipressung der Stammheimer Gefangenen entführte Lufthansamaschine „Landshut“ in Mogadischu von deutschen Spezialkräften der GSG9 erfolgreich gestürmt worden war, begingen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe und Ingrid Schubert in ihren Zellen Selbstmord. Doch dieser Akt der Selbstauslöschung sollte nicht zum Zeichen des Scheitern werden. Darum hatten sie vor der Tat die Parole „Staatsmord“ ausgegeben. Von der RAF-Propaganda wurden Baader, Ensslin, Raspe und Schubert zu Märtyrern stilisiert. Aus dieser Lüge, die auch von ihren Rechtsanwälten verbreitet wurde, erwuchs schließlich sogar eine dritte RAF-Generation. Erst 1998 gab die RAF mittels einer Selbstauflösungserklärung ihr Scheitern zu. Ihr Schuldkonto ist mit 34 Mordopfern schwer belastet.

Was damals richtig war, kann heute nicht falsch sein

Wie die verstrickten Rechtsanwälte ihr damaliges Tun heute beurteilen, wissen wir leider nicht genau. Hans-Christian Ströbele zumindest scheint ein reines Gewissen zu haben. Der Bundesabgeordnete schreibt auf seiner Homepage: „Im Nachhinein ist vieles an unserem außergewöhnlich starken Engagement als Verteidiger für die Gefangenen aus der RAF vielleicht schwer nachzuvollziehen. Die besondere Situation, in der sich die Gefangen befanden, sowie deren Sonderbehandlung in den Gefängnissen waren ein Grund und eine Erklärung dafür. (...) Mein besonderes Engagement als Verteidiger der Leute aus der RAF erkläre ich aus den damaligen außergewöhnlichen Umständen. Ich habe es damals für richtig und notwendig gehalten und sehe es heute nicht viel anders.“

Ströbeles Aussage ist bemerkenswert. Es wäre interessant zu wissen, ob der streitbare „Grüne“ „außergewöhnliche Umstände“ als Rechtfertigung auch für jene Menschen gelten ließe, die willige Helfer der Nationalsozialisten waren. Aber das ist naturgemäß eine rhetorische Frage. Wir dürfen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die Maßstäbe, die Hans-Christian Ströbele für die Deutschen von 1933 bis 1945 anlegt, grundsätzlich anderer Natur sein würden. Doch das eben ist die leidige deutsche Crux. Man ist auf dem linken Auge blind.

Diese spezielle „Sehschwäche“ hat eine lange Tradition. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg kämpften in Deutschland zwei totalitäre Parteien um die Macht. Die KPD nahm ihre Befehle vom Führer Stalin entgegen und die NSDAP von Hitler. Schon damals hielten allzu viele Intellektuelle den Marxismus für jene Heilslehre, die zum Paradies auf Erden führen werde. Dass die Kommunisten bloß rotlackierte Faschisten waren wollten sie nicht wahrhaben. Für die Rote Armee Fraktion gilt das Nämliche. Erst als man am Ende des „Deutschen Herbst“ von 1977 erfuhr, daß Hanns Martin Schleyer mit einem aufgesetzten Schuß in den Hinterkopf nach Art der SS getötet wurde, begann unter den mehr oder weniger heimlichen Sympathisanten der RAF das große Nachdenken. Nur leider nicht bei allen.

Zuerst erschienen in der Würzburger "Tagespost - Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur“

Foto: Ralph Ueltzhoeffer CC BY 2.0, Link

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Volker Kleinophorst / 02.04.2017

Die Bundesrepublik war eine echte Demokratie. Da muss ich wirklich lachen. Selbst Helmut Schmidt sah das anders: „Es ist egal wer in Deutschland regiert. Die beiden großen Parteien, sowohl die CDU/CSU als auch die SPD, haben seit mehr als 50 Jahren praktisch am gleichen Strang gezogen“, sagte Schmidt am Donnerstagabend im Hamburger Hotel „Atlantic“ bei der Verleihung des Helmut-Schmidt-Journalistenpreises der ING-DiBa.” Bild 24.10.2014

Horst Jungsbluth / 02.04.2017

Der Berliner “Tagesspiegel” befasste sich 1994 in einem Beitrag mit dem “Sozialistischem Anwaltskollektiv” und man konnte so Erstaunliches lesen, dass es diesen “Linksanwälten” gar nicht auf Recht und Gesetz ankam, sondern dass sie nach rein subjektiven Kriterien, die sie selbst bestimmten, ihre Aufgaben wahrnahmen. Auch die heute von ihnen oft vorgebrachten Argumente, dass sie nur besonders engagiert ihre Mandanten verteidigten, kann man nicht folgen, wenn Ströbele mit der Aussage zitiert wird, “dass man nichts in die Rentenversicherung eingezahlt habe, da man bei einer siegreichen Revolution ausgesorgt hätte.”  Und diese Ungeheuerlichkeit haben alle überlesen?

Lasse Finow / 01.04.2017

...Auf dem linken Auge blind… ? Diese Metapher verhüllt eher Absichten und Zweck. Vorschlag: linke Augenklappe mit der Aufschrift “Staatsraison”.

Thomas Schlosser / 01.04.2017

Da der Autor, sicher in bester Absicht, lediglich die prominenten Opfer der RAF im Jahr 1977 erwähnt hat, erlaube ich mir, hier auch die ‘Kollateralschäden’ der RAF-Mörder namentlich zu benennen: Mit Siegfried Buback starben: Wolfgang Göbel Georg Wurster Bei der Entführung von Schleyer wurden ermordet: Heinz Marcisz Reinhold Brändle Helmut Ulmer Roland Pieler Während nach Buback und Schleyer Straßen und Gebäude benannt wurden, sind die ‘namenlosen’ Opfer der RAF-Mörder der Vergessenheit anheim gefallen, ob das dem Leid und der Trauer der Hinterbliebenen zuträglich war und ist, darüber soll sich jeder selbst seine Meinung bilden…..

Helmut Driesel / 01.04.2017

Ob sich die katholische Kirche in dieser Zeit dermaßen mit Ruhm bekleckert hat, um sich 2017 noch immer im Siegesgefühl schwelgend freudig auf die Brust zu klopfen, muss bezweifelt werden. Aber trotzdem will der Autor seinen Lesern vermutlich etwas Nützliches damit auf den Weg geben. Er meint wohl nicht den Rest von Ehrgefühl, der sie ihre Opfer gezielt auswählen ließ in Kreisen, denen man ein gewisses Schuldpotential zuinterpretieren konnte - im Gegensatz etwa zu den anonymen Amokläufen unserer Tage. Er meint auch nicht das intellektuelle Grundgerüst, das sich im Glauben, die gute Seite eines Klassenkampfes zu repräsentieren und daraus ethisch-moralische Rechtfertigung für das richtige Handeln abzuleiten, in reine Wahngebilde steigert. Er meint auch nicht das Herzblut, mit dem die damaligen Anwälte ihre Mandanten verteidigten, was sich der Autor sicher selber wünscht, wenn er selber welche bräuchte. Er meint, was trotz alledem Gutes dadurch heraus gekommen ist. Nach dem katholischen Prinzip - die Wege des Herrn sind unergründbar - hat diese parlamentarische Demokratie gelernt, mit innerer Bedrohung und Terror umzugehen. Und Hunderttausende haben die Überzeugung gewonnen, dass man in die Institutionen gehen muss, will man die Gesellschaft ändern. (Ob das so stimmt?) Oder meint Herr Langner doch etwas anderes? Also ich habe die führenden Köpfe der RAF über den eisernen Vorhang hinweg immer für viel zu intellektuell gehalten, um wirklich derart wahnhaft verbohrt zu sein. Wenn man die wenigen Statements der RAF liest, die im Internet zu finden sind, glaubt man, Botschaften aus einer anderen Welt vor sich zu haben. Auch ganz anders, als eingefleischte Kommunisten das hier im Osten oder in der SU formuliert hätten. Schon die Begriffsfindung RAF schreit unüberhörbar nach der Gegenfrage: “Wem nützt das?” Einzig plausible Antwort: Dem Verfassungsschutz! Und Franz-Josef Strauß! Nächste Gegenfrage: War denn nicht jeder lausige und übrig gebliebene 68iger klug genug, das zu erkennen? Eine Frau wie Meinhof? Oder die Anwälte wie Schily und Ströbele? Und wenn man heute Originaltöne von Verena Becker hört, fragt man sich unweigerlich, wie hätte die hier gelebt, was wäre aus der im Osten geworden? Eine Kriminelle? Oder eine “stille Botschafterin”? Es tut mir leid, ich kann mir keine RAF-Terroristen als gute DDR-Sozialisten vorstellen. Mit Sonderschichten und Subbotnik in einer heldenhaften Industriebrigade. Dazu fehlt mir die Phantasie.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Ingo Langner, Gastautor / 19.05.2012 / 06:43 / 0

Gott Internet

Ingo Langner Wer mit dem Instrumentarium eines Ethnologen die Wahlerfolge der Piratenpartei und die damit einhergehenden Diskussionen über die sogenannten neuen sozialen Netzwerke analysiert, wer…/ mehr

Ingo Langner, Gastautor / 08.10.2011 / 23:45 / 0

Wir waren das Beste, was die DDR je zu bieten hatte

Ingo Langner Vera Lengsfeld lässt nicht locker. Nachdem sie bereits 2002 mit „Mein Weg zur Freiheit“ Biographisches veröffentlicht hatte, liegt nun im 21. Jahr nach…/ mehr

Ingo Langner, Gastautor / 12.08.2011 / 17:55 / 0

Gründeutsch

Ingo Langner Die Grünen warnten vor einer Verharmlosung der Berliner Mauer. „Der Mauerbau vor 50 Jahren war ein fatales Datum der deutschen und europäischen Teilung“,…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com