Ein Gespenst geht um. Das Gespenst des Neoliberalismus. Es ist immer da, wo etwas schiefläuft. “Im Schleppnetz neoliberaler Wirtschaftspolitik” sieht etwa Sabine Leidig, Geschäftsführerin des globalisierungskritischen Netzwerks Attac, unsere Welt. Das Ergebnis sei nichts weniger als tödliche Armut für viele Menschen, militärische Gewalt zur Durchsetzung der Interessen der G 8 und die Vernichtung von Natur, Umwelt und Zukunft. Globalisierungskritiker, moderne Nazis und alte Linke, Kirchentagsbewegte, Gewerkschafter - alle warnen vor dem Gespenst. Nur weiß kaum einer, wie es aussieht.
Als “Schwundform des Liberalismus”, die politische Freiheit mit Privatisierung verwechselt”, hat SPD-Chef Kurt Beck in der FAZ den Neoliberalismus nun bezeichnet, als “Ideologie ohne Erdung”, die schuld sei, “dass sich elementare Spielregeln der sozialen Marktwirtschaft auflösen”. So macht sich Beck zu einem guten Beispiel dafür, wie Politiker einen Begriff ausweiden, mit neuem Inhalt füllen und als Waffe einsetzen. Denn der entfesselte Raubtierkapitalismus, der die soziale Marktwirtschaft verschlingt und die Staaten kaputt schrumpfen lässt, um das Recht des Stärkeren durchzusetzen, mag ein veritables Feindbild sein - “neoliberal” ist er nicht.
Der Begriff entstand Mitte der 30er Jahre, als liberale Denker den Liberalismus aus der Defensive retten wollten. Der politisch und wirtschaftlich unterbelichtete “Laisser-faire”-Frühkapitalismus war gescheitert. Nationalismus war en vogue, Rassen- und Klassenideologien, ebenso der Wunsch nach einem starken Staat. “Wir sehen, dass alles, was irgendwie nicht liberal ist, sich gegen alles zusammenschließt, was liberal ist”, schrieb der nationalistische Schriftsteller Arthur Moeller van den Bruck 1923 befriedigt.
In dieser Situation ging es Liberalen wie dem deutschen Ökonomen Alexander Rüstow darum, etwas klarzustellen. Sie stellten dem Liberalismus, der freiheitlichen Gesinnung, die griechische Silbe “Neo” (neu) voran und betonten, sie stünden für “einen starken Staat im Interesse liberaler Wirtschaftspolitik und zu liberaler Wirtschaftspolitik imInteresse eines starken Staates”.
“Dahinter steht die Auffassung, dass nur der Staat den freien Markt gewährleisten kann, indem er zum Beispiel Monopole und Diskriminierung verhindert”, sagt Detmar Doering von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung. Wissenschaftler wie Friedrich von Hayek, Wilhelm Röpke oder Walter Eucken, der Vater der sozialen Marktwirtschaft, waren Neoliberale. Zwar befürworteten US-Ökonomen wie Milton Friedman radikaler als sie die Freiheit der Marktgesetze - Staatsfeinde sind aber auch diese Neoliberalen nicht.
“Der Begriff hat in den 90er Jahren eine Umdeutung erfahren”, sagt Lüder Gerken, Präsident der liberalen Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung. Nach dem Wegfall des Ost-West-Konflikts und infolge der technischen Revolution herrschten Ängste vor einem entgrenzten Wirtschaftsraum. “Neoliberalismus” wurde zur Parole gegen alles, was mit marktwirtschaftlichen Reformen und Globalisierung zu tun hat.
Wie sehr der Begriff zur Propagandafloskel wurde, zeigt das Beispiel der “neoliberalen Globalisierung”, vor der G-8-Gegner im Namen Afrikas warnen. “Schutzzölle und Agrarsubventionen, unter denen die Dritte Welt leidet, sind das Gegenteil von neoliberal. Sie sind protektionistisch und Liberalen genauso ein Ärgernis wie vielen Globalisierungskritikern”, sagt Doering. “Aber an sachlichem Austausch besteht gar kein Interesse.” Zudem sei die Warnung vor ungebremster Marktwirtschaft, die mit Neoliberalismus verbunden wird, unbegründet. “Wir haben in den meisten Industrienationen eine Staatsquote von rund 50 Prozent.” Von einer Staatszerstörung durch Marktradikalismus könne keine Rede sein.
Vor genau diesem Schreckgespenst jedoch warnt Beck: “Wo das Recht auf dem Rückzug ist, tritt nicht die Freiheit auf den Platz, sondern das Privileg.” Diesen Satz würden alle Theoretiker des Neoliberalismus unterschreiben. Die Verleumdung ihres Gesellschaftsentwurfs als Rückzug des Rechts aber würde ihnen die Zornesröte ins Gesicht treiben. Doch kann man im politischen Streit Genauigkeit einfordern? “Ich verwende den Begriff Neoliberalismus nicht”, sagt Gerken. “Er ist bei mehr als 90 Prozent der Bundesbürger derart negativ besetzt, dass das gar keinen Zweck hat.” Gerkens Konsequenz: “Wir werden neue Begriffe für unsere politischen Ideen finden müssen.”
Kölner Stadt-Anzeiger, 13.6.07