Giuseppe Gracia, Gastautor / 29.05.2018 / 13:00 / Foto: yeowatzup / 5 / Seite ausdrucken

Das Negative am Positiven

Wer dem positiven Denken huldigt, muss ganz schön viel verdrängen: Ungerechtigkeit, Bösartigkeit, alles Schlimme. Dabei kann man sich den Abgründen stellen und trotzdem lebensfroh sein. 

Eine positive Lebenseinstellung hat nichts mit positivem Denken zu tun. Daran hat mich kürzlich meine Tante Angela-Maria erinnert. Sie betrachtet das Leben als wertvolle Sache, muss deswegen aber nicht Mord, Totschlag und Naturkatastrophen positiv von sich wegdenken. Sie muss die Dunkelheiten der Existenz nicht als „Chance“ sehen, nur um die Welt zu mögen.

Auch vom Gesundheitswahn oder der Anbetung der Natur hält meine Tante wenig, denn der Tod greift selbst nach dem gesündesten Menschen, und auch im schönsten Wald herrscht das Gesetz von Fressen und Gefressenwerden. Gewiss, die Natur bringt Schönheit hervor, aber auch Zerfall, Krankheit und Desaster. Abgesehen von der Ungerechtigkeit des Menschen, die unsere ganze Geschichte durchzieht.

Das alles muss man verdrängen, wenn man am positiven Denken festhält. Wenn man meint, man könne ohne positives Denken kein lebensfroher Mensch sein. Dann muss man systematisch am Abgründigen vorbeisehen und darf sich selber auch nicht zu lange im Spiegel anschauen. Keine Bösartigkeit, keine Verzweiflung oder Ohnmacht darf sich breitmachen, sonst gilt man als Glücksversager, als tragischer Schmied seines eigenen Elends.

Dabei wäre es etwas Positives, dem Negativen einen Stellenwert im Leben einzuräumen. Nur wer die Ohnmacht zulässt und das Leiden kennt, kann wirklich mitleiden und mitfühlen. Nur wer sich von der Wirklichkeit erschüttern lässt, nur wer sich in acht zu nehmen wagt vor den eigenen Schattenseiten, der flüchtet sich nicht in eine Traumwelt. Der sucht nicht eine ideale Welt mit idealen Menschen, sondern der arbeitet sich an der Wirklichkeit ab, die uns alle betrifft.

Und der weiß, dass die Wirklichkeit am Ende sehr eigensinnig ist, dass aber gerade das ihren Reichtum und Reiz ausmacht. Oder mit den Worten von Friedrich Dürrenmatt: „Die Welt ist eine Pulverfabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist.“

Giuseppe Gracia (50) ist Schriftsteller und Medienbeauftrager des Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Dieser Beitrag erschien zuerst im Schweizer "Blick".

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Leserpost

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Johann Wayner / 29.05.2018

Tja nun…die Thematik ist eigentlich und tatsächlich fast…im Bereich der Adoleszentenerkenntnis anzusiedeln…. Die “Dialektik” des Seins, seit urdenklichen Zeiten von Philosophie und Literatur beschrieben, scheint wohl immer noch nicht die Präsenz in den Gehirnen erreicht zu haben. Möglicherweise deshalb, weil Weltwahrnehmung nur in denselben stattfindet und zwar nur dort. Insofern birgt der Essay ein Moment der Erinnerung und Vergegenwärtigung, als Kontrapunkt gegen Eindimensionalität, die seit geraumer Zeit in Ausbreitung begriffen ist. Festzustellen ist: Von der Befindlichkeit eines Kien Peter und seiner Blendung sind wir ALLE nicht so weit entfernt.

Ferdinand Klar / 29.05.2018

was mir seltsamerweise sofort dazu eingefallen ist : wer befasst sich eigentlich ernsthaft mit einem gesunden und lebenserhaltenden Gefühl der Angst ? - Angst vor dem Ergebnis der eigenen Entscheidung - Angst vor dem Einfluss der Vorgaben Dritter - Angst, die dich zwingt, Entwicklungen und Beobachtungen erst einmal zu registrieren, zu bewerten und dann eventuell auch Konsequenzen für das   persönliche (Über)Leben zu ziehen - Angst ist - sofern man sich als eigenverantwortliches und selbtsbestimmtes Individium fühlt - für mich die Grundvorraussetzung,  um den   Herausforderungen des täglichen Lebens gerecht zu werden. - Angst ist allerdings dann nicht mehr notwendig wenn ich meine Eigenverantwortung sozialisiere (siehe auch Leserbrief Werner Arning).   Für mich gilt desshalb : Es lebe die Angst ! Lerne damit umzugehen und das Beste daraus zu machen !

Dirk Jungnickel / 29.05.2018

Mit dem sogenannte “Positive Denken”  wollen Psycho - Heiler diverser Provenienz   der kranken Seele aufmunternd zur Seite stehen.  Sie vernachlässigen dabei, dass die Folgen eben die o.g. Verdrängungen sind. Wer vor der Wirklichkeit flüchtet, gerät zwangsläufig ins Stolpern,  und die ideale Welt mit idealen Menschen gibt es nicht und wird es nie geben. Daran sind Utopien mancher “großer Denker” gescheitert. Am katastrophalsten die von Marx - Murx. Allerdings gilt es zu beachten, dass ausschließlich negatives Denken auch Unheil bringt. Also die Binse: Das Gegenteil von einem Fehler ist wieder ein Fehler.

Georg Dobler / 29.05.2018

Verehrter Herr Gracia, Sie haben es genau verstanden. “...  nur wer sich in acht zu nehmen wagt vor den eigenen Schattenseiten ...”. Meine Sichtweise, die natürlich subjektiv in diese Beurteilung einfließt, habe ich aus Büchern die sich mit den uralten Lehren befassen. In der Vielzahl der Autoren ist mir besonders glaubwürdig Penny McLean aufgefallen, die ausdrücklich darauf verweist, dass das ausschließliche positive Denken ein Fehler sei, denn das Dunkle und Leidvolle gehört zum Leben, zu dieser Welt und unserem Lernprozess. Schließt man das Dunkle ganz aus, kann es in sehr unangenehmer Weise in unser Leben herein drängen um sich bemerkbar zu machen, uns zwingen uns damit auseinanderzusetzen. Es jedoch zuzulassen, uns auch mit den eigenen dunklen Seiten, wie Sie es schreiben, zu beschäftigen, das ist der richtige Weg, der auch helfen kann persönliche Katastrophen zu mildern oder im besten Fall auszuschließen.  Sich mit dem Guten UND dem Bösen auseinanderzusetzen ist die Pflicht und Aufgabe aus dem Apfel den wir verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis gegessen haben.  So habe ich das Ganze verstanden.

Werner Arning / 29.05.2018

Es gibt sie, die Daueroptimisten. Die, die ihren Optimismus regelrecht zur Schau stellen, sobald sie sich in der Öffentlichkeit bewegen oder überhaupt nur unter Menschen kommen. Nicht selten sind dieses innerlich verzagte Menschen, die sich jedoch selbst „besiegen“ und eine optimistische Aussendarstellung an den Tag legen. Jeder kennt hierfür Beispiele. Doch ist diese Art von heiterem Optimismus häufig aufgesetzt, gespielt, eine schauspielerische Leistung. Diese Menschen sind nicht zu beneiden. Sie sind des öfteren einsam, im Grunde sehr verschlossen. Hinter ihren Witzen und ihrer angeblichen Lebensfreude steckt dann in Wirklichkeit Lebensangst. Doch möchten Sie andere und sich selber gerne vom Gegenteil überzeugen. Ob dieses Schema besonders auf Menschen, die viel in der Öffentlichkeit stehen, zutrifft, wäre eine Betrachtung wert. Ich hätte da so ein paar Politiker/innen im Auge,  zu denen die Beobachtung eventuell passen würde.

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