Rainer Bonhorst / 20.07.2016 / 10:00 / 2 / Seite ausdrucken

Das Jein zu Europa fing mit Churchill an

Aus Anlass des Besuchs von Theresa May in Berlin heute hier ein Blick zurück in die jüngere Geschichte des Königreichs, das auch im politischen Sinn eine Europa vorgelagerte Insel bleiben möchte. Bei diesem Blick zurück hilft mir Boris Johnson, das aktuelle Enfant terrible der britischen Politik, mit seinem Buch „Der Churchill-Faktor. Wie ein Mann Geschichte machte.“ Winston Churchill, der Held des Johnson-Buches war früher auch ein Enfant terrible und kann als Leitfigur für das englische Verhältnis zur Europäischen Union dienen.

Die Frage, die man im Zusammenhang mit dem Brexit an Churchill stellen kann, lautet: War der große alte Brite ein Europäer oder ein Europa-Skeptiker? Die einfachste Antwort: Churchill war so sehr oder so wenig Europäer wie seine britischen Landsleute. Oder anders gesagt: Er war in Sachen Europa so hin- und her gerissen, so gespalten wie seine Landsleute und damit Begründer einer modernen Tradition. Gut 70 Prozent der Briten haben beim Referendum mitgemacht. Von ihnen haben sich 51,9 Prozent gegen die EU entschieden. Ein klares, aber auch knappes Ergebnis, das ein gespaltenes Land offenbart.

Wie hätte sich Churchill entschieden? Er wäre der Entscheidung vielleicht ausgewichen, indem er eine andere Frage gestellt hätte. Nämlich die: Muss ein guter Europäer eigentlich in der EU sein? Sind die Schweizer keine guten Europäer? Sind die Norweger keine guten Europäer? In der aktuellen Situation versuchen die Briten ja, sich in ein Insel-Norwegen zu verwandeln.

Ganz nah an Europa, aber nicht Teil Europas

Allerdings hat sich Churchill schon in den 30er Jahren für eine Art Vereinigte Staaten von Europa nach dem Vorbild der USA ausgesprochen. Er war selber ein halber Amerikaner, weil seine Mutter von dort kam. Den Begriff der Vereinigten Staaten von Europa hat er immer wieder verwendet. Und als die Labour-Regierung im Jahr 1950 bei der Gründung der europäischen Montan-Union nicht mitmachte, hat er als Sprecher der Opposition dem amtierenden Premier Clement Attlee wegen seines übertriebenen Nationalismus heftig die Leviten gelesen.

Das war übrigens die Ursünde oder auch das Urbekenntnis der Briten: Dass sie bei den Anfängen des europäischen Einigungsprozesses nicht dabei waren. Aber man muss sich die Psyche des damaligen Königreichs vor Augen führen. Als die Neugestaltung Europas begann, war Großbritannien nicht nur Kriegssieger sondern immer noch eine Großmacht von Weltrang und ein Kolonialreich. Indien, die schönste Perle in der Königskrone, war gerade erst, in die Unabhängigkeit entlassen worden, wie man damals so herablassend formulierte (1947). Afrika begann erst zu wackeln. Man blickte hinaus in die Welt, und dies mindestens so intensiv wie nach Europa.

Und was tat Churchill, der Befürworter der Vereinigten Staaten von Europa, als er ein Jahr nach dem englischen Nein zur Montanunion selber wieder Regierungschef wurde? Nichts tat er. Er hielt sich vornehm zurück. Er versuchte nicht, das Nein Attlees in ein Ja umzuwandeln. Und seine Reden in dieser Zeit hatten einen ganz anderen, für heutige Ohren vertraut englischen Ton.

Churchill sprach sich weiter für die Vereinigten Staaten von Europa aus, sah sein Land aber hauptsächlich als Geburtshelfer.Zum Beispiel sagte er: „Wir sind mit Europa, aber nicht in Europa. Wir sind verbunden, aber nicht eingebettet. Wir sind interessiert und beteiligt, aber nicht absorbiert.“ Ein anderes mal sagte er: „Wir wollen aufs Intimste verbunden sein, aber wir können kein gewöhnliches Mitglied einer Europäischen Vereinigung sein.“ Da haben wir die englische Haltung von Anfang an. Ganz nah an Europa, aber nicht Teil Europas.

Ohne die Kämpfernatur Churchill wäre die Geschichte anders verlaufen

Ein englischer Leserbriefschreiber hat das im „Guardian“ so formuliert: „Wir haben den Krieg gewonnen und jetzt sollen wir uns von Brüssel und Berlin vorschreiben lassen, was wir zu tun haben.“ Dass die Briten den Krieg gewonnen haben, verdanken sie zum großen Teil Churchill. Boris Johnson beschreibt in seinem Buch die Stimmung in London, als das Angebot aus Berlin auf dem Tisch lag, dass Hitler England in Frieden lassen werde, wenn die Engländer ihn auf dem Kontinent gewähren ließen.

Das war ein verlockendes Angebot. In London wimmelte es von Politikern, die auf eine Appeasement-Politik setzten. Neville Chamberlain, der Mann, der Böhmen an Hitler auslieferte, war nicht allein. Der erste Weltkrieg war noch nicht sehr lange her und die Briten hatten keine Lust auf einen neuen Krieg. Wäre da nicht Churchill gewesen, mit seiner Haltung, dass man Hitler nur mit Gewalt bremsen kann. Johnson schildert in seinem Buch überzeugend, wieviel Mühe Churchill hatte, diese entschlossene Haltung gegenüber Deutschland im Kabinett durchzusetzen. Aber er schaffte es. Er war eine Kämpfernatur. Ohne diese Kämpfernatur wäre die Geschichte vielleicht ganz anders verlaufen.

Wie schillernd seine Haltung zu einer europäischen Union auch was: Churchill war als einsamer Kämpfer gegen Hitler auf jeden Fall ein guter Europäer, mehr noch ein Retter Europas. Ein Retter eines Europas der Kultur und der Demokratie, als Hitler dabei war, dieses Europa zu zerstören. Die zwiespältige Haltung Churchills und der Briten zu Europa zeigte sich wieder mal, als ich 1975 als Korrespondent nach London ging. Die Briten waren gerade mal ein gutes Jahr Mitglied der damaligen Europäischen Gemeinschaft, und sie waren schon aufgerufen, in einer Volksabstimmung zu entscheiden, ob sie drin bleiben wollten. Überall Leute mit Raus- oder Drinbleiben-Buttons: Ich dachte, ich spinne, als ich das, frisch vom Kontinent, sah.

Cameron war die ewige Diskussion seiner Landsleute um die EU leid

Aber was sollte man anderes erwarten? Den Anfang hatten sie ja selber verpasst, und dann hat ihnen Charles de Gaulle1963 den verspäteten Zutritt verweigert. Sie mussten draußen bleiben, bis der Franzose tot war. Da waren die Strukturen Europas längst festgezurrt. Trotzdem haben sie sich im Jahr 1975 mit klarer Mehrheit für den Verbleib ausgesprochen. Selbstverständlich war das nicht.

Und diesmal dachte David Cameron, dass es wieder so ausgeht. Beide Großparteien Englands, Labour und Tories, waren in der Europa-Frage so gespalten wie damals Churchill. Und Cameron war die ewige Diskussion seiner Landsleute und Parteifreunde um die EU leid. Er pokerte siegesgewiss mit dem Versprechen eines Referendums, um sich als Pro-Europäer den Rücken zu stärken, und verlor. Und hinterließ ein Trümmerfeld.

Ein gewisses Chaos war wohl unvermeidbar. Aber man hätte besser vorbereitet sein können. Die EU-Befürworter hatten keinen Plan B, falls es schief gehen sollte. Die Brexit-Leute hatten nicht einmal einen Plan A, falls es klappen würde. Das ist sehr englisch. Man liebt es auf der Insel nicht, sich wie die Deutschen auf große strategische Gedankenkonstrukte einzulassen. Mir hat mal ein englischer Offizieller kopfschüttelnd gesagt: Wenn wir politische Besucher aus Deutschland haben, fragen die uns immer nach unserem Gesamtkonzept. So was haben wir nicht.

Die Engländer sagen: „We cross this bridge, when we get there.“ Auf Bayerisch: Schau'n wir mal, dann sehen wir schon. Sie sprechen auch gerne mit selbstironischem Stolz vom Durchwurschteln (vom „muddle through“), was sie in der Tat mit großer Improvisationskunst erfolgreich betreiben. Vielleicht haben sie in nächster Zeit ja noch einen großen Durchwurschtel-Geistesblitz.

Boris Johnson muss als männliche Trümmerfrau Frondienste zu leisten

Der Ex-Bürgermeister, Buchautor, Churchill-Verehrer und große Brexit-Held Boris Johnson wollte sich aus dem Staub machen, als er das Chaos sah, das er mit angerichtet hat. Aber er musste als Außenminister von Theresa Mays Gnaden wieder antreten, mit dem Auftrag, als männliche Trümmerfrau Frondienste zu leisten. Das geschieht ihm auch recht. Er hat zwar heftig für Brexit gekämpft, aber aus zweifelhaften Motiven. Johnson ist in Sachen Europa so hin- und her gerissen wie sein Vorbild Churchill. Sein Kampf gegen Europa war zu einem großen Teil ein Kampf gegen seinen alten Schul- und College-Kameraden (beide Eton und Oxford) David Cameron. Ein Spiel also unter nicht ganz erwachsen gewordenen Männern.

Und jetzt hat eine Frau die Verantwortung übernommen. Theresa May hofft auf Angela Merkel. Sie ist selber eine Art Angela Merkel. Sie ist wie die deutsche Kanzlerin ruhig und ausdauernd. Und sie kann genauso hart sein. In ihrem neuen Kabinett hat die frisch gewählte Premierministerin brutal aufgeräumt und die alte Garde rausgeschmissen, wie es Angela Merkel nicht härter hätte machen können.

Jedenfalls haben die Briten sich und uns eines der größten politischen Erdbeben der Nachkriegszeit beschert. Müsste statt der Damenriege ein neuer Churchill her? Es gibt ihn nicht, und er wird auch nicht gebraucht. Wir haben ja keinen Krieg sondern nur eine hoffentlich friedliche Scheidung bei weiterer guter Nachbarschaft. Ein John Bull im Stile Churchills würde die Krise im Zweifel noch zuspitzen.

Hätte ein so ungewöhnlicher Mann wie Churchill heute in der Politik überhaupt noch eine Chance? Bei dem Lebenslauf und dem kantigen Charakter. Churchill war schon früh ein Enfant terrible. Er scheiterte auf mehreren Elite-Schulen, und schmiss zweimal die Aufnahmeprüfung fürs Militär, bis er im dritten Anlauf in die Militärakademie Sandhurst aufgenommen wurde.Er war ein draufgängerischer Soldat und ein ebenso draufgängerischer Kriegsberichterstatter in Afrika und anderswo. Als Politiker war er höchst umstritten, weil er gleich mehrmals die Partei wechselte. Über seine unruhigen frühen Jahre hat er später gesagt: „Es ist ein großer Vorteil im Leben, die Fehler, aus denen man lernen kann, möglichst früh zu begehen.“

In seinem Fall stimmt das auch: Churchill erhielt als Autor historischer Bücher den Literatur-Nobelpreis und wurde der bedeutendste britische Staatsmann der 20. Jahrhunderts. Er den Lauf der Geschichte entscheidend verändert. Das ist Boris Johnsons „Churchill-Faktor“. Jetzt hat das britische Volk den Lauf der Geschichte verändert, und es passt in die neue Zeit, dass zwei ruhige, aber energische Frauen die Aufgabe haben, diese ziemlich dramatische Veränderung in halbwegs geordnete Bahnen zu bringen. Aber auch ohne einen Churchill, diesen zugleich begeisterten und zögerlichen Europäer, ist es, finde ich, ein großer Verlust, dass England die Europäische Union verlässt.

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Reiner Hoefer / 21.07.2016

Europa (gemeint ist eine Staatengemeinschaft, genannt EU - eine verräterische Anmaßung) ist ein groß angelegtes Projekt der Entmündigung der Völker und eine Entdemokratisierung. Die Mitwirkung des lästigen und störenden Volkes wird auf diesem Wege auf ein unbedeutendes Minimum reduziert. Deshalb will die Hälfte der Briten raus aus diesem Korsett, selbst um den Preis eventueller wirtschaftlicher Nachteile. In der Abwägung ziehen die Briten ihre Freiheit und Selbstbestimmung allem anderen vor, man verkauft seine Seele nicht. Ich bewundere sie und wünsche ihnen Erfolg und Wohlergehen.

Hein Mueck / 20.07.2016

Richtig, Herr Bonhorst! Churchill sah das Empire nie in Europa, aber immer an der Seite Europas. Das war aber mitnichten ein Ausdruck von Wankelmut.  Er war nicht “hin- und hergerissen” in der europäischen Frage. Vielmehr wollte er ein United KIngdom an der Seite der United States of America und der United States of Europe. Es kam anders, der Verlust des Weltreiches nach dem gewonnen Krieg bedeutete eine andere, bescheidenere Rolle für Great Britain.

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