Gastautor / 17.01.2016 / 09:52 / 11 / Seite ausdrucken

Das Jahr der Entscheidung

Thilo Sarrazin

1,2 bis 1,5 Millionen Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika sind 2015 als Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge oder illegal nach Deutschland eingewandert. Die genauen Zahlen kennt man nicht, da viele sich nicht haben registrieren lassen und es über viele Monate kein geordnetes Grenzregime mehr gab.

Mittlerweile hat die Verwaltung wieder besser Tritt gefasst. Auch hat letztlich nur derjenige Chancen auf Wohnung, Krankenversicherung und Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz – mithin auf die Segnungen des deutschen Sozialstaats - der sich ordnungsgemäß registrieren lässt, sei es auch mit falschen Ausweispapieren, ganz ohne Papiere oder mit falschen Angaben zur Begründung seines Kommens. So werden sich am Ende wohl alle registrieren lassen, die wirklich in Deutschland bleiben wollen

Alle diese Menschen fanden Unterkunft, sie werden ernährt, gekleidet und medizinisch versorgt. Deutsche Bischöfe und auch Bundespräsident Gauck lobten das ehrenamtliche Engagement vieler Deutscher, und überall ist der Stolz spürbar, sich selbst und der Welt gezeigt zu haben, dass es das bessere Deutschland wirklich gibt.

Die Rolle des Ehrenamts erfüllt sich bei der Essensausgabe in Flüchtlingslagern und bei der Verteilung gebrauchter Kleider, aber sie endet auch dort: Wohnraum, Lebensunterhalt, Sprachkurse, berufliche Bildung, Beschulung der Kinder, medizinische Versorgung müssen aus Steuergeldern bezahlt werden. Polizisten, Sozialarbeiter und Lehrer tragen die erste Welle der Anpassungslast. Die zweite Welle tragen die materiell Schwächeren unter den eigenen Bürgern - am Arbeitsmarkt, beim Wettbewerb um günstigen Wohnraum und bei der Anspannung der medizinischen Versorgung. Die dritte Welle kommt auf den deutschen Steuerzahler zu, denn aus dem Laufenden lassen sich die langfristigen Kosten nicht abzweigen.

In der Vergangenheit betrugen die jährlichen Geldleistungen pro Asylbewerber durchschnittlich 6.000 Euro. Die Beanspruchungen an die soziale Betreuung, das Bildungssystem, die medizinische Versorgung, den Polizei- und Justizapparat treten hinzu. So ist es sicherlich niedrig gerechnet, wenn man die laufenden jährlichen Kosten eines Asylbewerbers mit 10.000 Euro ansetzt. Die Einwanderungswelle des letzten Jahres verursacht also dauerhafte jährliche Kosten von 12 bis 15 Milliarden Euro.

Wenn ein Teil der Zuwanderer Arbeit findet, können sich diese Kosten ermäßigen. Durch den absehbaren Familiennachzug werden sie andererseits erhöht. Wegen fehlender Qualifikation werden wohl 70 bis 80 Prozent der Zuwanderer auf sehr lange Sicht oder dauerhaft Geldleistungen der sozialen Mindestsicherung beziehen. Auch ist anzunehmen, dass die zumeist sehr jungen Zuwanderer einen erheblichen Familiennachzug auslösen, der (so die Erfahrungen der Vergangenheit) ihre Zahl auf das Drei- bis Fünffache steigen lässt. Mittel- und langfristig bedeutet also die Asylbewerber- und Flüchtlingswelle des letzten Jahres einen Bevölkerungszuwachs von 5 bis 6 Millionen Menschen, die zu 70 bis 80 Prozent von sozialer Mindestsicherung leben werden.

Das sind langfristige jährliche Kosten von 50 bis 60 Milliarden Euro. Wäre die Bundesrepublik Deutschland ein bilanzierendes Unternehmen, so müsste sie für diese Dauerlast, der keine finanziellen Erträge gegenüberstehen, Rückstellungen bilden.

Die durchweg sehr jungen Einwanderer haben im Durchschnitt eine fernere Lebenserwartung von 50 bis 60 Jahren. Deckt man nur die Hälfte dieser Zeit durch Rückstellungen ab, so ergibt sich ein kalkulatorischer Bedarf von 1,5 Billionen Euro. (Zum Vergleich: Die gesamte deutsche Staatsverschuldung betrug Ende 2015 2,2 Billionen Euro).

Diese Zahl muss noch nicht erschrecken. Schließlich hat Westdeutschland auch den Transferbedarf von rund 2 Billionen bewältigt, der durch die Wiedervereinigung mit der ehemaligen DDR entstand.

Was ist aber, wenn der Zustrom an Kriegsflüchtlingen, Asylbewerbern und illegalen Einwanderern nach Deutschland in den nächsten Jahren so weiter geht? Dann würde praktisch die Bank gesprengt. Nichts könnte in Deutschland so bleiben wie es ist. Das sozialstaatliche Versprechen wäre am Ende, und eine wesentliche Legitimationsgrundlage des demokratischen Deutschlands würde zerbrechen.

Die chaotischen Folgen und der verantwortungslose Charakter der von Angela Merkel betriebenen Willkommenskultur sind in den letzten Monaten immer wieder kritisiert worden. Zu Beginn des neuen Jahres ist das aber wie Jammern über verschüttete Milch.

Im Verlauf des Jahres 2016 wird sich zeigen, ob der Bundesregierung die Wende zu einer realistischen Politik gelingt. Alle Signale deuten darauf hin, dass es dazu sowohl an der Einsicht als auch am Willen fehlt.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

R. Helene van Thiel / 17.01.2016

Wen interessieren in diesem Zusammenhang schon Zahlen? Schließlich geht es darum, ein „freundliches Gesicht“ zu zeigen. Im übrigen sind Zahlen sowieso „nicht hilfreich“, wie eine Expertin schon anläßlich des Erscheinens eines Buches voller Zahlen festgestellt hat.

Josef Kneip / 17.01.2016

Eine nüchterne und sachliche Analyse von einem, der von unseren Gutmenschen-Politikern und Mainstream-Journalisten in die rechte Ecke gestellt wurde. Zu Unrecht, wie ich meine. Sarrazin hat seine Darlegungen immer mit Fakten unterlegt. Er ist halt kein Gutmensch und kein Schwärmer, sondern einer der die Wahrheit sag, die viele Leute hierzulande nicht hören wollen. Ich teile die in seinem Artikel vorgenommene Schätzung der Kosten des Flüchtlingsdesasters, die auf Deutschland und seine Bürger und Steuerzahler zukommen. Natürlich hat Deutschland 2 Billionen für die Wiedervereinigung geschultert. Dafür hat es aber auch 2,2 Billionen Schulden. Dieser Schuldenberg wird wachsen. Einmal, weil noch immer mehr Menschen als Flüchtlinge kommen werden und zum anderen, weil sich eine konjunkturelle Abschwächung abzeichnet und die Kosten daher nicht mehr aus dem laufenden Haushalt finanziert werden können. Der Willkommensdusel wird dann sehr schnell abebben und es wird sich auch bei denen Ernüchterung breit machen, die jetzt noch im Glücksgefühl ihrer Hilfsbereitschaft leben. Für Frau Merkel wird es dann wirklich eng werden, weil dann die Obergrenze des Zuzugs zwar nicht durch eine Zahl, aber durch harte Realität vorgegeben wird. Eine harte Landung für Merkel und Deutschland. Hoffentlich wird es keine Bruchlandung.

Wolfgang Weinmann / 17.01.2016

Es sind nicht nur die Kosten -  wir schreiten zurück ins Mittelalter und klatschen dazu. Der, der sich kritische Gedanken dazu macht, wird gebrandmarkt. Der Downgrade unserer gesellschaftlichen Werte wird sehr nachhaltig sein. In nicht ferner Zukunft werden wir gar Zustände haben, die in nicht ferner Vergangenheit noch von denen gebrandmarkt wurden, die jetzt für die kommenden Veränderungen die Verantwortung tragen haben. “Denn sie wissen nicht was sie tun” - oder geschieht das alles gar unter Vorsatz? Ich glaube, es handelt sich um das Ausleben einer “gutmenschlichen” Ekstase, wie ein Rausch, der mit einem ernüchternden, lang anhaltendem Kater bezahlt wird. Die kommenden Veränderungen werden zudem praktisch irreversibel sein. „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch, ich sag‘ euch eins, ich freu‘ mich drauf, vielleicht auch, weil ich schon mal eine friedliche Revolution erlebt habe. Dieses hier könnte die sein, die unser Land besser macht.“ sagte als Beispiel für unsere Politexperimenteure Frau Göring-Eckardt auf dem Bundesparteitag der Grünen am 20.11.2015. Es ist wie früher bei dem Erfolgsmodell des Kommunismus: Die Klatschorgien auf den Parteitagen hatten mit der Realität nichts gemeinsam. Das Kölner Silvester war erst ein Vorgeschmack, was uns an Veränderungen blühen könnte.

Jörg Paul Jonas / 17.01.2016

Die erste Welle der Anpassungslast tragen hauptsächlich unsere Kinder in den Schulen.  Sie hat niemand gefragt und sie dürfen weder Parlamente noch Guteltern abwählen.

Hans Schlekermann / 17.01.2016

Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich habe als Informatiker zum Glück gute Chancen diesen sinkenden Kahn zu verlassen, bevor der Rest der Passagiere und zuletzt auch die Crew bemerken, dass er absäuft. DE ist schön und ich werde es immer als meine Heimat betrachten. Aber ich habe nur ein Leben.

Thomas-Christian Kaiser / 17.01.2016

Lieber Herr Sarrazin! Seit der Lektüre von “Deutschland schafft sich ab” schätze ich Sie sehr. Mit dem vorliegenden Artikel haben Sie uns aber wirklich nichts Neues gesagt. Emotionales beschreiben Sie Fakten, die Andere vor Ihnen längst aufgezählt haben. Warum setzen Sie kein Zeichen und verlassen die SPD, die bedingungslos diesen “Flüchtings”-Kurs unterstützt, und treten der Afd bei? Das wäre ohne Zweifel Ihre richtige politische Heimat. Es grüßt Sie hochachtungsvoll T-C Kaiser

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gastautor / 16.04.2024 / 06:00 / 203

Doch, es war alles falsch!

Von Andreas Zimmermann. Wir brauchen eine Aufarbeitung der Corona-Jahre, bei der eben nicht diejenigen das Sagen haben, die die Verantwortung für die Verheerungen dieser Zeit…/ mehr

Gastautor / 02.04.2024 / 06:25 / 60

„Traditional Wife“: Rotes Tuch oder Häkeldecke?

Von Marie Wiesner. Der „Tradwife“-Trend bringt die Verhältnisse zum Tanzen: Junge Frauen besinnen sich auf das gute alte Dasein als Hausfrau. Irgendwo zwischen rebellischem Akt und Sendungsbewusstsein…/ mehr

Gastautor / 01.04.2024 / 14:00 / 11

Neue Trans-Kinder-Leitlinie: Konsens statt Evidenz

Von Martin Voigt. Trans-Ideologie ante portas: Der neuen Leitlinie zur Behandlung minderjähriger Trans-Patienten mangelt es an wissenschaftlicher Evidenz. Sie ist nun eine "Konsens-Leitlinie". Pubertätsblocker, Hormone…/ mehr

Gastautor / 30.03.2024 / 14:00 / 6

Islamische Expansion: Israels Wehrhaftigkeit als Vorbild

Von Eric Angerer. Angesichts arabisch-muslimischer Expansion verordnen die westlichen Eliten ihren Völkern Selbstverleugnung und Appeasement. Dabei sollten wir von Israel lernen, wie man sich mit…/ mehr

Gastautor / 30.03.2024 / 06:15 / 44

Wer rettet uns vor den Rettern?

Von Okko tom Brok. Seit der deutschen Einheit ist Deutschland von einem eigenartigen „Rettungsfieber” befallen. Jeder Rettung korrespondierte dabei eine „Wende”. Beide Begriffe wurden dabei…/ mehr

Gastautor / 30.03.2024 / 06:00 / 42

Warum will die Generation Z nach „Old Money“ aussehen?

Von Marie Wiesner. Der „Old-Money-Look“ ist ein gefragter Trend unter jungen Leuten. Was steckt hinter dem Bedürfnis der Generation Z, nach altem Geldadel auszusehen? Vielleicht…/ mehr

Gastautor / 10.03.2024 / 11:00 / 2

Der Bücher-Gärtner: Das Zusammenleben täglich neu aushandeln?

Von Edgar L. Gärtner. Der zugegeben sperrige Titel „Ohne Bestand. Angriff auf die Lebenswelt“ von Michael Esders ist eine höchst anregende Lektüre, die vom Raubbau am sozialen…/ mehr

Gastautor / 04.03.2024 / 12:00 / 14

Warum die polnischen Bauern demonstrieren

Von Aleksandra Rybińska. Auch in Polen sind die Bauern wütend. Und zwar über uneingeschränkte ukrainische Agrarimporte und noch mehr EU-Auflagen. Seit Monaten gehen Landwirte in…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com