Ein Sturmtief in der Adria hat eine Realität offenbart, über die europäischen Regierungen bisher einen Mantel des Schweigens ausgebreitet haben. Es geht um die Zuwanderung. Fast gleichzeitig wurden zwei Schiffe entdeckt, die mit Hunderten von illegalen Passagieren unterwegs waren. Das waren keine kleinen Boote, die Flüchtlinge in höchster Not an irgendeinem einsamen Strand bestiegen hatten, sondern ein Linien-Fährschiff und ein Frachter, offiziell in einem Hafen von EU-Ländern (Griechenland und Zypern) abgefertigt. Hier waren keine boatpeople unterwegs, sondern eine regelrechte Migrationsindustrie am Werk. Dass es Schleuser-Banden gibt, war schon bekannt, aber man wusste nicht, wie eng ihre Tätigkeit inzwischen mit offiziellen politischen Stellen und Transportunternehmen vernetzt ist. Man muss also von einer durchorganisierten „Migrationskette“ sprechen, die von der Rekrutierung bis zur weiteren Begleitung quer durch Europa reicht. Das Bild des vereinzelten Flüchtlings, der sich irgendwie durch widrigste Umstände durchschlägt, trifft nur für eine Minderheit zu. Zu den großen Kontingenten der Zuwanderungsindustrie haben nur die Zugang, die über Geld oder Beziehungen verfügen. Eventuell auch Migranten, die ihre Zukunft im neuen Land verpfänden, indem sie Verpflichtungen für kriminelle Organisationen eingehen. Der lenkende Einfluss der humanitären Organisationen und der zuständigen Behörden auf die Zuwanderung ist offenbar gering.
Diese Realität hätte eigentlich schon längst auffallen müssen, aber der investigative Ehrgeiz des kritischen Journalismus hat sich bei diesem Thema bisher in Grenzen gehalten. Aus den meisten der Berichte und Reportagen wird man nicht recht schlau. Die Interviews mit Zuwanderern geben sich mit sehr dünnen Geschichten zufrieden. Man erfährt, dass die Wege „weit“ und „mühsam“ waren, doch nachgefragt wird selten: Wie haben die Ankömmlinge die Gelegenheit zur Überfahrt gefunden? Aus welchen Mitteln oder mit welchen Verpflichtungen haben sie die Fahrt bezahlt? Wen haben sie in ihrer Heimat zurückgelassen, eventuell völlig schutz- und mittellos? Zugleich hat ein erstaunlicher Worttausch stattgefunden: Lange Zeit war immer von „den Migranten“ die Rede, was bedeutete, dass ihre Situation und ihre Ansprüche zu differenzieren (und zu prüfen) waren. Doch jetzt heißt es auf einmal nur noch „die Fluchtlinge“. Das heißt, dass allen Ankömmlingen schon vorauseilend eine Notlage bescheinigt wird. Diese Umbenennung macht die Prüfung nach Recht und Gesetz im Grunde bedeutungslos.
Wie konnten solche Zustände einreißen? Offenbar stimmt etwas mit der Regelung der Zuwanderung im europäischen Zielraum nicht. Tatsächlich gibt es ein schillerndes Hin und Her zwischen gesamteuropäischen und einzelstaatlichen Zuständigkeiten. Bei der Zuwanderung ist es ähnlich wie bei der Finanzpolitik: Die Einzelstaaten müssen letztlich für die Integration aufkommen, aber die allgemeinen Regeln sind weitgehend einem europäischen Gemeinschaftssystem anvertraut. Bisher hatte es den Anschein, dass dieser „Migrationspakt“ trotz mancher Lücken funktionierte, insbesondere in Gestalt der sogenannten Dublin-Abkommen. Dort war unter anderem vereinbart worden, dass die Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten zur Klärung ihres Status zunächst in jenen Staaten aufgenommen werden, in die sie zuerst einreisen. Das war eine essentielle Regelung, damit Migranten nicht ohne geklärten Status in den 500 Millionen-Bevölkerungsraum der EU entlassen wurden und dort dann willkürlich zirkulierten. Jeder größere Territorialstaat dieser Welt trifft eine solche Regelung und setzt dafür seine Grenzregionen (und seine Flughäfen) als Auffangräume ein. Mit den Dublin-Abkommen war also die Erwartung verbunden, dass durch eine EU-Regelung die gleiche gesetzliche Stabilität hergestellt würde, wie es sie bisher auf Ebene der Einzelstaaten gab.
Doch diese Erwartung erweist sich nun als Täuschung. Die Dublin-Abkommen funktionieren in einem entscheidenden Punkt nicht. Steffen Angenendt, der von 2011 bis 2013 als Berater für Migration im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) tätig war, wird mit folgender Aussage zitiert: „Den Staaten an Europas Außengrenzen gelingt es nicht, ein vernünftiges Asylsystem aufzubauen“ (FAZ 18.12.2014). Der Artikel der FAZ gibt unter Berufung auf Angenendt folgende Lagebeschreibung: „Die Staaten an Europas Außengrenzen lassen die Flüchtlinge durchreisen“. Die Migranten gehen dorthin, „wo sie gut behandelt werden und wo sich schon Verwandte und andere Flüchtlinge aus ihrem Land aufhalten“. Deutschland bewältige daher momentan „fast im Alleingang die Flüchtlingsaufnahme in Europa“. Dass die Lage so ist, ist bisher in dieser Deutlichkeit noch nicht öffentlich gesagt worden. Wenn die Aussage stimmt, haben wir es in der Migrationspolitik der Europäischen Union mit einem systematischen Rechtsbruch zu tun. Die südlichen Randstaaten der EU verweigern ihren Beitrag. Zugleich weigert sich die EU-Kommission, die Verletzung des Dublin-Abkommens zu sanktionieren. Das nennt man einen geduldeten außergesetzlichen Zustand.
Einerseits wird europaweit die Hilfe für Flüchtlinge in Not angemahnt und damit ein Öffnungsdruck erzeugt, andererseits wird die Kontrolle an den Eintrittsorten verweigert. So wird der Druck von außen in eine interne Wanderungsanarchie übersetzt. Das aber heißt in der Konsequenz, dass unter den Zuwanderern die Bessergestellten und die Besservernetzten die Gewinner sind. Hingegen bleiben diejenigen, die am meisten Not leiden und die deshalb besonders auf die rechtsstaatlichen Verfahren angewiesen sind, auf der Strecke.
(Im zweiten Teil des Beitrags wird gezeigt, dass es Parallelen zwischen der Migrationskrise und der Schuldenkrise gibt)