Antje Sievers / 19.09.2013 / 08:39 / 4 / Seite ausdrucken

Das Aussterben der Langeweile - und die Folgen

Wie geil is das denn? Nee, ne! Geht gar nicht. Boah, ey! Wie geil is das denn? Nee, ne! Geht gar nicht. Boah, ey! Wie geil is das denn? Nee, ne! Geht gar nicht. Boah, ey! Der, der diese vier Phrasen in Endlosschleifen wiederholt, ist Helge Schneider. Je öfter er es sagt, desto komischer wird es. Das Publikum schreit vor Lachen. Bis Schneider sagt: Diese vier Sätze reichen heute vollkommen aus für die normale Kommunikation. Mehr braucht man gar nicht. Er ist ein scharfer Beobachter.

Mein letztes Open-Air Konzert im Hamburger Stadtpark liegt schon eine Ewigkeit zurück. Erinnern kann ich mich an Men At Work; Ton, Steine, Scherben und Mitch Ryder. Besonders letzterer war unvergesslich. Nach zwei Songs lallte er am helllichten Nachmittag „Good night, Hamburg“ ins Mikrophon und torkelte von der Bühne, wurde von der Security eingefangen und seiner Pflicht wieder zugeführt. Das Wetter an diesem Freitag Ende August ist der Menge vor der ausverkauften Freilichtbühne wohl gesonnen und Helge Schneiders Show ist wundervoll. Das skurrile Improvisationstalent ist ein großartiger Musiker; seine Band ist fantastisch. Und Helge Schneider ist, kaum zu glauben, ein gutproportionierter Mann, der über hohe Musikalität und gute Körperbeherrschung verfügt. Ich meine das ganz ernst: Er hätte auch Tänzer werden können. Alles was er dazu bräuchte, hat er.

Die Frage ist nur, ob Schneider so ein Publikum verdient hat. Seine Udo-Lindenberg-Imitation ist so perfekt, dass der Konzertbesuch sich allein ihretwegen schon gelohnt hat. Wie geil is das denn? Nee, ne! So richtig weiß das Publikum das aber nicht zu würdigen, und als Schneider einen weiß Gott harmlosen Spruch über Peter Maffay macht, ist man kurz davor, los zu buhen. Geht gar nicht. Boah, ey! So ist das heute. Popkultur, das ist, wenn Zwanzigjährige sich auf das große Herbstfest der Volksmusik freuen. Das zeigt sich erst recht bei der Zugabe: Schneider spielt auf der Orgel läppische Rumtata-Schlager wie den Ententanz und das Publikum überschlägt sich vor Begeisterung. Schneider sagt: Komisch, vor dreißig Jahren war ich mal in Timmendorfer Strand, und da hat ein Mann im Hotel stundenlang auf der Orgel solche Lieder gespielt. Und die Leute waren total begeistert. Heute ist das wieder so! Das Publikum denkt, Schneider habe einen grandiosen Witz gemacht. Aber das hat er nicht.

Und noch etwas fällt auf: Wann immer die vorzüglichen Musiker zu einem Saxophon- oder Gitarrensolo ansetzen, ziehen von den viertausend Zuschauern zweitausend ihr IPhone hervor, um erstmal zu twittern, zu simsen und zu mailen. Oder sie quatschen in voller Lautstärke. Die Aufmerksamkeitsspanne des durchschnittlichen Zwanzigjährigen muss heute bei höchstens fünf Minuten liegen. Das wird früh und sorgsam antrainiert. Zuhause wird dem Kind das Essen in die Hand gedrückt, wenn es vor dem Fernseher oder Computer sitzt. In der Schule wird nicht mehr dafür gesorgt, dass es einen ruhigen Unterricht gibt.

Vor meinem Balletttraining gab es neulich etwas, wo die Kinder alles durcheinander machten: Malen, tanzen, trommeln, hüpfen und singen. Das ganze nannte sich musikalisch-künstlerische Früherziehung. Bildhauen und Trompete hätten vielleicht noch gefehlt. Dass die Kinder zwischendurch den Raum verlassen, um anderes zu treiben, interessiert keinen. Wenn man die dazugehörigen Eltern sieht, weiß man auch, warum: Mit dreckigen Straßenschuhen latschen sie in einem Ballettsaal herum, räumen Stühle oder Matten nicht weg und hinterlassen Apfelsaftflecken und vollgerotzte Taschentücher auf dem Boden. Dieser Tage sah ich ein deprimierendes Bild: Ein etwa zehnjähriges Mädchen, das auf dem Nachhauseweg von der Schule ununterbrochen auf seine Mutter einschlug, die nicht nur dessen Schultasche schleppte, sondern auch noch willfährig beim jedem Schlag Aua sagte. Vielleicht sollte man der Göre einfach mal einen Sklaven schenken.

Bloß keine Langeweile entstehen lassen, heißt heute das pädagogische Credo. In vielen Kaufhäusern gibt es mittlerweile Kinderkinos. Die Mutter von heute kann nicht einmal mehr fünfundzwanzig Minuten in Ruhe einkaufen. Das kann man den Kindern nicht zumuten. Sie werden, wo sie gehen und stehen, mit Lärm, Farben, Reizen und Informationen zugeballert. Und wenn sie dann durchknallen, versteht man die Welt nicht mehr.

Wo ist eigentlich die gute alte Erziehung zu totaler Langeweile geblieben? Wenn die Eltern uns mal zu einem Besuch mitnahmen, wo wir zwei Stunden unsere Bedürfnisse zurückstellen mussten und es nur todlangweilige Erwachsenengespräche gab, dann war das eben so. Wir konnten in dieser Zeit unseren Gedanken nachhängen, träumen, spinnen und beobachten. Wie wichtig das war, war uns natürlich nicht bewusst. Wenn wir uns als Kinder zusammen langweilten, was selten genug vorkam, dann brachten wir eben sämtliche kreativen Kräfte hervor und ließen uns was einfallen. Wir brauchten dazu höchsten ein Seil, ein paar Bälle, Zweige oder einen Sandhaufen. Quasi wie die Neandertaler.

Der große Pionier der antiautoritären Erziehung, Alexander S. Neill, litt Zeit seines Lebens darunter, dass man seine Pädagogik so sehr missverstanden hat. Was würden Sie tun, wurde er mitunter gefragt, wenn Sie mit ihren Summerhill-Schülern ein Konzert besuchen und die langweilen sich oder lärmen dort herum? Dann würde ich sagen, halt’s Maul und geh raus, wenn’s dich nicht interessiert, hat er dann geantwortet. Wie recht er doch hatte.

Heute sollte Langeweile eine neue Wertschätzung erfahren: Mit ihr ließe sich der dauerzappelnde, grenz-autistische, egomanische und konzentrationsdefizitäre Nachwuchs mal wieder runter fahren. Preiswert, nachhaltig, konfessionsübergreifend, biologisch abbaubar und ganz ohne Ritalin.

 

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Hubert Appenrodt / 19.09.2013

Für eine Hochgrad-Intellektuelle ist ein Helge-Schneider-Konzert artifiziell fein ziseliert wie ein heiteres Shakespeare-Stück, selbstverständlich, und das kann nun einmal, auch beim besten Willen nicht, der niedere Pöbel im Konzert verstehen, würdigen schon gar nicht. Wie schön, daß es in Deutschland feinsinnige Über-Intellektuelle und Ober-Intelektuellinnen gibt, die das Konzert wortmächtig und belehrend für uns Niedere kulturkritische nach alter Adorno-Schule aufdröseln! Herzlichen Dank hierfür! Wir haben Helge nicht verdient, er sollte künftig nur noch vor deutschen Intellektuellen aufspielen, nach Vor- und Hauptprüfung an der Kasse! Ich werde mich daran halten und die anspruchsvollen Konzerte vermeiden, um dem Intellektuellengenuß nicht störend im Wege zu stehen. Was Sie andererseits so sehr vermissen, finden Sie hier bei uns in der Kleinstadt, zum Beispiel in Sondershausen – gute Erziehung, Ausdauer, Höflichkeit, angemessene Reaktionen im täglichen Miteinander auf den Straßen und Plätzen, in den Familien, in den Klassenräumen, überall. Sogar beim Frontalunterricht, niemand muß sich seinen Hals verrenken. Für uns hatten die in den großen Städten schon immer einen Riesenknall in der Birne. Ich sage nur Berlin, Hauptstadt der DDR! Auf Summerhill verzichten wir hier. Summerhill-Kultur sei den großen Städten der Sozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten, den großen Kümmerern geschenkt. Wir wissen noch immer kulturvoll, was sich gehört und was sich nicht gehört – in einem achtungsvollen, höflichen und friedlichen Miteinander!

Jo Heinze / 19.09.2013

Helge Schneider ist ja auch eher etwas für Erwachsene. Man sollte nicht jeden Jugendlichen in seine Konzerte lassen.

Hilmar Türkowsky / 19.09.2013

Danke für diesen Beitrag. Eigentlich müsste ich ihn kopieren und bei uns im Lehrerzimmer aushängen. Sie ahnen aber sicher, warum ich es doch nicht tun werde. Die Diskussionen könnte ich nicht ertragen. Eins der Standard"argumente” wäre: “Heute sind eben andere Zeiten.” Stimmt, nur bei Helge Schneider oder einem bayerischen Biergartenfest mit einer jungen Band, die erst Volks- und Blasmusik spielt und, wenns dunkelt, zur Rockband mutiert, scheint das vergessen zu sein. Ich habe mir mal erlaubt zu sagen, dass ADAS eine Zivilisitionskrankheit, ein Ergebnis schlechter Erziehung sei, unter anderem weil ich gelesen hatte, dass das bei Kindern in Afrika, die mit unserer Hilfe in Schulen lernen können, ebenso wie LRS nicht vorkommt. Die wollen lernen und danach spielen. So eifach kann das sein, auch in den ‘andere[n] Zeiten’.

Walter Heisenberg / 19.09.2013

Da gibt es auch noch die Proll-Brocken: definitiv auf jeden Fall krass bitter Neulich berichtete eine junge Reporterin im SWR über einen Kindermord. Erst saß sie in stylischen Klamotten auf einer Kinderschaukel, dann, beim Gespräch mit einer Bezugsperson der toten Kinder entfleuchte ihr ein cooles: “Das ist echt bitter”.

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