Vor kurzem fand ich in einer Kiste auf dem Dachboden eine stark zerfledderte Kladde. Nur mit großer Vorsicht ließ sie sich noch aufklappen, Nässe und der Zahn der Zeit hatten ihr stark zugesetzt, aber immerhin gab sie noch auf einigen Seiten ihren Inhalt preis. Es handelt sich um eine Art Reisetagebuch, im hinteren Teil stehen eine Reihe von Adressen, die ich seinerzeit gesammelt habe. Erinnerungen kamen auf.
Im Mai 1978, also vor genau 40 Jahren, reiste ich mit meiner damaligen Lebensgefährtin nach Griechenland. Mit zwei Interrail-Tickets ging es für kleines Geld von Freiburg nach Patras, von dort aus wollten wir dann je nach Lage der Dinge die weiteren Ziele spontan ansteuern.
Fast wäre die Reise bereits in der ersten Nacht zu Ende gewesen, der Zug von Basel nach Mailand wurde in der Nacht überfallen. Ganoven hatten in die Schlafwagenabteile Gas gesprüht, um die Passagiere damit zu betäuben und danach auszurauben. Auch in unser Abteil war jemand gekommen, ich sah ihn, da ich im ratternden Zug wach lag, die Türe öffnen, bekam einen Schreck und machte das Licht an. Der Mensch murmelte etwas und trollte sich. In Mailand erfuhren wir dann, was passiert war; von da an waren wir überaus misstrauisch allen Begegnungen auf der Reise gegenüber. Eigentlich schade, aber der Schreck saß nun einmal drin.
Von Mailand ging es über Bologna nach Ancona und von dort per Schiff nach Patras, was dank des schönen Wetters sehr angenehm verlief. Wir hielten uns Tag und Nacht an Deck auf und genossen den adriatischen Frühling. Das Schiff passierte Korfu und das damals fest in kommunistischer Hand befindliche Albanien, von dem es außer felsiger Küste nichts weiter zu sehen gab. In Patras kam die Fähre am frühen Morgen an, und da noch alles geschlossen war und wir erst einmal Geld eintauschen mussten, hockten wir uns zusammen mit einem anderen deutschen Paar, das wir auf der Fähre kennengelernt hatten, auf die Treppen einer Bank. Ich glaube, es war 5 Uhr morgens, die Bank machte erst um 8 Uhr auf. Uns allen knurrte der Magen, und das hätte er wohl auch noch ein paar Stunden tun müssen. Wäre nicht ein kleiner weißer Lieferwagen aufgetaucht, der vor uns anhielt und aus dessen Seitenfenster zwei große Weißbrote flogen und direkt vor uns landeten. Und schon war der Wagen weg.
So einen Empfang hatten wir nicht erwartet
So einen Empfang in Griechenland hatten wir nun wirklich nicht erwartet, entsprechend gut gelaunt und zuversichtlich, was die kommenden Wochen anging, waren wir gestimmt. Während die beiden Anderen auf der Peleponnes bleiben wollten, machten wir uns per Bus auf in Richtung Piräus; von dort aus sollte es per Schiff auf die Kykladen gehen. Verwöhnt von der großen, komfortablen Fähre zwischen Italien und Griechenland und dem guten Wetter sahen wir der Schiffspassage nach Naxos guter Dinge entgegen.
Ein böser Irrtum, wie sich herausstellte. Das Bötchen hatte die Dimensionen eines Ausflugsdampfers, und zwar eines sehr kleinen. Viele Leute wollten nach Naxos oder auf eine der kleineren Inseln, die unterwegs angesteuert wurden, aber ich war jung, halb so voluminös wie heute und um einiges gelenkiger, und so machte es nichts aus, dass der vorhandene Platz auf Deck sehr überschaubar war. Die gute Stimmung tat ihr übriges, jemand, der wie Georges Moustaki aussah, es vielleicht sogar war, spielte Gitarre und sang.
Nun weht in der Ägäis zu genau dieser Jahreszeit ein ausgesprochen lebendiger Wind, Meltemi genannt. Der kann tagelang mit acht und mehr Windstärken wehen, und jetzt, Ende April, frisch und ausgeruht aus dem Norden kommend, tat er genau das. Für eine Landratte wie mich zuverlässig ein Debakel. Das Schiffchen kämpfte sich tapfer hindurch (später erfuhr ich, dass andere Fähren wegen des Meltemi in den Häfen geblieben waren), während ich mit dem Verlangen, freiwillig über Bord zu springen, um meinem Elend ein Ende zu machen, kämpfte. Den Gitarristen störte der Wind ebenso wenig wie die meisten anderen Passagiere, sie tranken und aßen vergnügt ihre mitgebrachten Rationen, von mir mit Abscheu beobachtet. Als wir schließlich in Naxos ankamen, war ich mehr tot als lebendig.
Ein Zustand, der mich auf der Insel wenige Tage später erneut überfiel. Bei einem ausgedehnten Spaziergang am Strand entlang waren wir auf eine Hütte gestoßen, die sich als eine Art Kneipe entpuppte. Es war Frühjahr, und die Urlaubssaison war noch in weiter Ferne, von daher waren Strand wie Kneipe unbelebt. Bis auf den Wirt, der uns höchst erfreut über den zu erwartenden Umsatz herzlich willkommen hieß, und schon saßen wir auf einer Holzbank vor der Hütte mit zwei Gläsern und einer Karaffe Retsina vor uns. „Jamas!“
Der Esel war offenbar ein kräftiges Tier
Sie werden das kennen – im Urlaub lässt man ja gerne einmal Fünfe grade sein, und dann schlägt man etwas über die Stränge. Der Retsina schmeckte köstlich und kostete wenig, und der Wirt war jovial und aufmerksam, ehe der Krug zur Neige gegangen war, stand bereits ein neuer vor uns. Den Ausgang dieses Ausflugs kann ich leider nur aus zweitem Mund schildern, und zwar so, wie ihn mir meine Freundin am nächsten Tag erklärte. Ich sei nicht mehr in der Lage gewesen, den Rückweg zu Fuß zu bewältigen, und so habe der freundliche Wirt ihr seinen Esel zur Verfügung gestellt, der mich, quer über seinem Rücken liegend, in Begleitung meiner Freundin zum Hotel gebracht habe. So jedenfalls wird es erzählt. Es existiert ein Foto, das mich auf dem Rücken des Grautiers zeigt, und zwar sitzend, aber das gäbe, so Zeugen, nicht den tatsächlichen Ablauf meines Rücktransportes wieder. Der Esel, so heißt es, sei nach Beendigung seiner Mission zurück Richtung Kneipe getrabt. Offenbar ein kräftiges Tier. Und mir scheint, er hatte eine gewisse Erfahrung mit solchen Situationen.
Naxos hielt uns länger fest, als geplant. Um das Inselinnere kennenzulernen, hatten wir ein Moped gemietet, das, sobald es ein wenig bergan ging, außer Puste geriet, so dass wir es schieben mussten. Auch verlor es, zwar bereits auf dem Rückweg, aber doch noch gut 15 km von seinem Heimathafen entfernt, die eine Schraube, die den Gehäusedeckel gehalten hatte, unter dem sich die Kupplung befand; kurz gesagt: es ließ sich nicht mehr schalten. Zu (seinem) Glück bestand der Verleiher nicht darauf, eine Strafe wegen zu späten Rückkehrens einzufordern.
Dann brachte der Meltemi den Fährverkehr für zwei Tage ganz zum Erliegen, daran schloss sich nahtlos ein Streik der Fährmänner an. Niemand konnte sagen, wann das nächste Boot anlegen würde. Das könne durchaus noch dauern, war die präziseste Antwort, die man der jungen Dame am Fährbüro entlocken konnte. Und so trauten wir uns mehrere Tage und Nächte lang nicht, den Hafen zu verlassen, um nur ja nicht die erste Fähre zu verpassen. Wir schliefen zwischen den Steinen eines reichlich maroden Apollo-Tempels, dessen Überreste gleich am Hafen liegen. Alle paar Stunden ging man – wie eine zunehmende Zahl weiterer potenzieller Passagiere – zum Fährbüro und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge.
Der änderte sich erst am fünften Tag, da kam ein Schifflein, das, hauptsächlich mit Klopapier und Coca-Cola-Kästen überladen, Richtung Amorgos südöstlich von Naxos dümpeln sollte. Frei von jeglichem festen Reiseplan nahmen wir die Gelegenheit wahr, um Naxos hinter uns zu lassen. Nichts sprach gegen Amorgos, außer vielleicht der Tatsache, dass man unter Umständen von dort noch schlechter wieder wegkommen würde, als von Naxos. Egal. Wieder legte die Fähre bei etlichen Zwischenstationen an, wieder fegte der Meltemi, wieder wollte ich sterben. Aber natürlich erreichten wir den Hafen Katapola auf Amorgos, und endlich konnten sich die Menschen dort wieder mit Coca-Cola die Kante geben und die Popos mit richtigem Klopapier säubern.
Amorgos war vor 40 Jahren ziemlich am Rande der zivilisierten Welt gelegen, es gab außer in Katapola keine asphaltierte Straßen; nur eine Schotterpiste, auf der sich ein altersschwacher Bus vom Hafen zu dem auf der Inselhöhe gelegene Dorf Chora quälte. Dort wollten wir hin, nachdem wir die erste Nacht in einer Privatunterkunft in Katapola verbracht hatten, vor der sogar ein damals sehr populärer Reiseführer eindrücklich warnte. Was wir dummerweise erst später zu Hause erfuhren.
Der Raum war von einer vielfältigen Fauna bewohnt
Luc Besson drehte 1988 seinen Film „Le Grand Bleue“ (Im Rausch der Tiefe) mit Jean Reno und Jean-Marc Barr auf Amorgos, was der eher unspektakulären Insel einige Aufmerksamkeit bescherte. Zehn Jahre zuvor war sie touristisch noch ganz und gar unerschlossen. Bei der Ankunft auf Amorgos hatte uns am Hafen eine gemütlich wirkende, sehr voluminöse Frau angesprochen, sie habe ein schönes Zimmer für kleines Geld. Das hörte sich gut an, die Frage des Quartiers wäre somit direkt geklärt und man hatte mehr Zeit für die Erholung, und so folgten wir ihr. Das Zimmer war wirklich schön, es befand sich in einer Art gemauertem Gartenhäuschen am Hang, mit Blick auf Hafen und Ägäis, auch der Preis war in Ordnung.
Das Bett allerdings war offenbar nicht mehr neu bezogen worden, seitdem in der Seeschlacht bei Amorgos die athenische Flotte von den Makedonen geschlagen worden war. Zudem war der Raum von einer vielfältigen Fauna bewohnt, unter der die Geckos bei weitem die angenehmste Art präsentierten. Es gibt auch für Backpacker Grenzen, und so nahmen wir nach einer lebhaften Nacht, unter dem verständnislosen Jammern der Wirtin, in aller Frühe den Bus nach Chora. Weiter weg von der verlausten Herberge würde es nicht gehen; den Norden der Insel und den dort gelegenen Ort Egiali konnte man damals nur mühsam per Fähre von Katapola aus entlang der Nordküste oder zu Fuß erreichen. Wahrscheinlich auch per Esel, was ich aber nicht ausprobiert habe.
Das Bergdorf Chora, offizielle „Hauptstadt“ der Insel, ist ein pittoresker Haufen von weißgekalkten Häuschen, ringsum auf den Höhen steht eine Reihe von Windmühlen im Ruhestand. Vermutlich ist dort heute mehr los als vor 40 Jahren, zumindest in den Sommermonaten und dank der asphaltierten Straße. Bei Google habe ich allerdings ein auf 2017 datiertes Foto der Kneipe gefunden, in der wir es damals jeden Abend zusammen mit den Einheimischen und einem aus Albanien entfleuchten Altenteiler namens Sali krachen ließen; es sieht in ihr bis auf Details (Kaffeemaschine, Heineken-Zapfsäule) noch genauso aus wie damals.
In Chora passierte mir eins der schlimmsten Missgeschicke aller Reisen, und noch heute schrecke ich manchmal aus Träumen auf, in denen sich die Tragödie geradezu minutiös wiederholt. Auf diese müssen Sie nun bis zum kommenden Sonntag warten.