„Die riecht aber gut“, sagte der alte Mann und deutete auf meine Zigarre. „Ist das eine Montecristo?“
Nein, es war keine Montecristo. Es freute mich, dass der alte Mann sich nicht – wie es mir sonst oft, selbst im Freien, geschieht – über meinen Tabakrauch beschwerte. „Monsieur ist ein Kenner!“ antwortete ich, und der alte Mann lächelte. „Oh nein, gar nicht, es ist nur die einzige Marke, deren Name ich weiß.“ Dann drehte er sich mit einem verlegenen Blick von mir weg und sah in den Park.
Ich saß im Jardin du Luxembourg, an der warmen Mauer vor der Orangerie, wo man es selbst an einem kalten Wintertag aushalten kann, wenn nur die Sonne scheint. Hier verbringe ich oft meine Zeit, meist über einem Buch und fast immer mit einer Zigarre. Der alte Mann war nicht lange nach mir gekommen, in Begleitung einer jungen, hübschen Frau, die ihm einen der grünen Parkstühle in meine Nähe vor die Mauer gestellt und ihn dann mit einem lachenden 'Bis nachher!' alleine gelassen hatte. Ich hatte ihr noch nachgeblickt, als sie in Richtung des Ausgangs Rue Vaugirard ging und mich dann wieder meinem Buch gewidmet.
„Wissen Sie, was ein Apache ist?“ hörte ich den alten Mann plötzlich sagen, und ich blickte hoch und sah ihn an. „Nun, ich denke, das ist ein Indianer.“ „Ja, das auch“ nickte der Mann, aber hier in Paris hat das Wort noch eine andere Bedeutung. Ich, Monsieur, ich war ein Apache!“
„Wie soll ich das verstehen?“ fragte ich und klappte mein Buch zu, denn ich spürte, dass der alte Mann mir etwas erzählen wollte.
„Es ist lange her, mehr als 60 Jahre. Damals war Paris eine aufregende Stadt, viel aufregender als heute, jedenfalls für einen jungen Kerl vom Lande, wie ich es war.“ Der alte Mann hob die Augenbrauen. „Ich kam aus der Bretagne, aus einem Dorf in der Nähe von Rennes, ich wollte mein Glück in der Stadt machen, und so wurde ich ein Apache. Was das heißt? Nun, die Apachen waren allesamt wilde Kerle mit verwegenem Aussehen und einem noch verwegeneren Leben. Die Mädchen waren damals ganz anders als heute, nicht so être, peut-être, sie liebten es, wenn ein Mann wusste, was er wollte und das auch unter Beweis stellte, und deshalb liebten sie die Apachen, denn die waren so, wie sie es mochten, und die Apachen taten alles, was den Mädchen gefiel, und immer wieder stritten sie um die filles und sie prügelten sich um sie, und ja, manches Mal fand auch ein Apache seinen Tod wegen eines Mädchens und landete im Canal St. Martin. Unser Quartier war hinter dem Place de Bastille und das Zentrum war die Rue de Lappe, und dort gab es eine Menge Tanzlokale und vor allem Hinterzimmer, in denen gewisse Pläne ausgeheckt wurden...“
Ich sah den Alten aufmerksam an, während er erzählte. Es war nicht leicht, ihn sich als ehemaligen Straßenganoven vorzustellen. Aber warum sollte es nicht stimmen? Es waren Jahrzehnte seither vergangen, in dieser langen Zeit verändert sich jeder Mensch.
„Weshalb nannten Sie sich Apachen, wie die Indianer?“ fragte ich. Der alte Mann lächelte leise. „Genau weiß ich es auch nicht, man erzählt sich, es seien einmal mit einem Zirkus echte Apachen, also Indianer, in die Stadt gekommen, um im Cirque d'hiver in der Rue Amelot aufzutreten. Diese Indianer sahen verwegen aus und waren verwegen gekleidet, und sie wussten so gut mit dem Messer umzugehen, dass jeder Pariser Halunke neidisch wurde. Aus dieser Zeit soll der Name stammen.“ Er blickte in Richtung Park und zog tief die Luft ein, zweifellos, um den Duft meiner Zigarre einzuatmen.
„Und als Apache haben Sie Montecristo geraucht?“ Der alte Mann antwortete nicht gleich, sondern blickte weiter in den Park. Dann drehte er den Kopf wieder in meine Richtung, und ich sah, dass seine Augen feucht waren, und er sagte: „Die Montecristo Cigarren, sie haben mein Leben verändert.“ Dann schwieg er wieder.
Ich zögerte, nachzufragen, aber natürlich war ich neugierig geworden: „Cigarren, die ein Leben verändern können? Das klingt ungewöhnlich!“
Der alte Mann lächelte wieder, verhalten, melancholisch. „Es ist so lange her...Ich war 17 Jahre alt und seit einigen Monaten in Paris. Seit kurzem war ich ein 'le Petit', ein kleiner Ganove; ich arbeitete für einen gewissen Louis Vial, er war Holz- und Kohlenhändler oben in Belleville, aber sein großes Geld verdiente er auf andere Weise. Für Vial war eine ganze Schar von Apachen tätig. Meine Aufgabe als Anfänger in diesem Metier war es, mich 'umzuhören', also in Erfahrung zu bringen, wo es sich für Vials Leute lohnen könnte, einmal einen nächtlichen Besuch zu unternehmen – Sie verstehen?“
„Ich denke ja. Und sie wollten sicher höher hinaus als immer nur den Informanten zu spielen...“
„Das dürfen Sie glauben, Monsieur. Aber die Chancen waren gering, es gab zu viele Burschen, die mehr als ich drauf hatten, und mein Ehrgeiz hielt sich daher in Grenzen. Denn den großen Vial bekam ich nie von Nahem zu sehen, dafür war ich viel zu unwichtig unter all seinen Leuten. Doch eines Tages bot sich eine Gelegenheit. Le Mec, einer meiner 'Vorgesetzten', wenn ich das mal so sagen darf, beauftragte mich, einen großen Umschlag direkt und persönlich zu Vial zu bringen. Eigentlich war es Le Mecs Aufgabe, aber der hatte wohl etwas anderes zu tun. Ich ging also zu Vials Wohnung, um ihm den Umschlag zu geben. Und dort geschah es...“
Der Alte unterbrach seinen Bericht und sah mich lange an, und er schien nicht recht zu wissen, ob er weiter erzählen sollte. Ich machte mit dem Kopf eine aufmunternde Geste, und er lächelte mit traurigen Augen zurück und fuhr dann fort.
„Nun, ich kam also in Vials Wohnung, stolz und gespannt nahm ich meine Ballonmütze vom Kopf, und eine junge Hausangestellte führte mich in den Salon, in dem Vial hinter einem imposanten Schreibtisch saß und in Papieren blätterte. Aber nicht der Schreibtisch beeindruckte mich am meisten, nein, es war der Duft, der in der Luft lag, ein unvergleichlicher Duft nach Exotik, nach fernen Ländern, nach Freiheit, nach Tabak, wie ich noch nie welchen gerochen hatte! Ich muss sehr komisch dort gestanden und die Luft eingezogen haben, denn Vial blickte mich einen Moment verwundert an und fragte mich dann, was mir die Sprache verschlagen habe, ich könne ja nicht einmal 'Bon jour' sagen. Und dann lachte er laut und führte eine mächtige Zigarre zum Mund und zog daran, und der Rauch der Zigarre verbreitete sich in dem Zimmer und verstärkte den Duft, der mich bereits so in seinen Bann gezogen hatte.
Ich murmelte 'Bonjour, Monsieur Vial“ und bemühte mich, Vial den ihm zustehenden Respekt zu zeigen, indem ich mich verbeugte und ihm dann den Umschlag reichte. Er nahm ihn mir ab und legte ihn nach einem kurzen, prüfenden Blick auf den Schreibtisch. Dann sah er mich wieder an und sagte: 'Nun, junger Mann, wie ich sehe gefällt dir meine Zigarre – vermute ich richtig?' Ich war sehr verlegen und antwortete mit einem leisen 'Ja' und nickte heftig dazu, und Vial nahm wieder einen tiefen Zug, blies den Rauch langsam in meine Richtung aus und sagte dann: 'Merke dir den Namen: sie heißt Montecristo, und sie kommt aus Cuba, und sie ist das Beste vom Besten, etwas für Leute mit Erfolg! So wie ich!' Dann lachte er laut, öffnete den Umschlag und schickte mich mit einem kurzen Nicken fort.
Lange stand ich draußen vor dem Haus, den Duft der Montecristo noch in der Nase, und in diesem Augenblick beschloss ich: so etwas möchte ich eines Tages auch rauchen können! Ich musste ein erfolgreicher Mann werden! So schnell wie möglich musste ich in der Hierarchie der Apachen nach oben steigen, ganz nach oben, dorthin, wo die Montecristo auf mich wartete...“
Der alte Mann sah einigen Kindern nach, die an uns vorbei zum Spielplatz liefen. „Ja, Monsieur“, sagte er dann, „diese Zigarre hatte mich verrückt gemacht, ich konnte an nichts anderes mehr denken als an meine zukünftige erste, eigene Montecristo. Und einige Tage später...“
„Ja?“
„Einige Tage später schien sich eine Gelegenheit zu bieten, auf der Leiter des Erfolgs ein gutes Stück höher zu steigen. Le Mec und drei seiner Leute hatten vor, nachts einen privaten Geldverleiher zu besuchen, bei dem große Mengen Bargeld vermutet wurden. So eine Sache war für mich jungen Kerl eigentlich viel zu groß, aber ich sah darin eine 'Karrierechance', und so redete ich immer und immer wieder auf Le Mec ein, er möge mich bei der Sache mitnehmen, ich sei dazu reif genug und könne, so klein und flink ich war, gewiss gute Dienste tun. Und ich hatte Erfolg, Le Mec war schließlich mein Gejammer leid und versprach mir, mich mitzunehmen, und so kamen ein paar Apachen und ich ein paar Tage später am Abend in einer Bar in der Rue de Lappe zusammen und zogen los in Richtung Marais, wo der Geldverleiher in einem prächtigen, wenn auch längst baufälligen alten Stadtpalais wohnte.“
Wieder unterbrach der alte Mann seine Erzählung und wies mit der rechten Hand in Richtung des Spielplatzes, der gleich gegenüber der Orangerie liegt und in dem mehrere Kinder Nachlaufen spielten. „So flink war ich auch einmal“ sagte der Mann, „bis zu jener Nacht.“
„Es ging nicht gut aus?“
„Nein, es ging nicht gut aus. Überhaupt nicht gut...Jemand hatte uns beim Überklettern der Gartenmauer beobachtet und die Flics gerufen. Wir waren noch nicht im Haus, als wir draußen aus allen Richtungen die Trillerpfeifen hörten, und wir hatten keine Chance zu entkommen. Als ich versuchte, über die Mauer zurück auf die Straße zu klettern traf mich eine Kugel ins Bein, und ich blieb verletzt auf dem Trottoir liegen. Gleich hatten mich drei Flics umstellt und überwältigt. Das alles wäre nicht so sehr schlimm gewesen, wenn auch schlimm genug, aber Le Mec, bei dem das Messer immer schon locker saß, erstach einen der Polizisten, als dieser ihm Handschellen anlegen wollte, und so war ich jetzt in ein Verbrechen verwickelt, bei dem ein Polizist zu Tode gekommen war...Ich hatte Glück, dass ich nicht auf der Guillotine, sondern 'nur' für 15 Jahre auf einer Gefangeneninsel in der Südsee landete. Und das alles, weil ich mir, so rasch es ging, eine Montecristo leisten wollte...“
Der alte Mann schwieg und blickte in Richtung Spielplatz. Der Rauch meiner Zigarre zog in seine Richtung und ich sah, wie er den Duft mit der Nase einzufangen versuchte. Ich wollte ihm eine Freude machen, und auch wenn es keine Montecristo war, die ich da rauchte, ich beschloss, ihm eine meiner Cigarren anzubieten, und so fragte ich ihn, ob er vielleicht eine wolle. Er drehte mir den Kopf zu, und seine Augen waren feucht, und seine Lippen zitterten, und dann sagte er: „Nein danke, Monsieur, sehr freundlich! Aber ich kann sie nicht rauchen. Um ehrlich zu sein, ich habe in meinem ganzen Leben nie eine Zigarre geraucht. In der Südsee haben meine Lungen so gelitten, dass ich froh sein konnte, überhaupt noch einmal lebendig von dort zurück zu kehren. Rauchen? Unmöglich...“
Wir schwiegen und sahen uns verlegen an und schwiegen weiter, und da stand die junge Frau plötzlich neben dem Alten und hatte in jeder Hand eine große Einkaufstüte. „Ich bin wieder da, Großvater“ sagte sie und nahm ihn beim Arm. „Ich hoffe, du hast nicht gefroren!“ Der alte Mann sah zu ihr hoch und sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Dann erhob er sich langsam, drehte sich noch einmal zu mir und sagte: „Danke für Ihre Gesellschaft!“ Ich sah die junge Frau, die mich lächelnd musterte, etwas verlegen an und sagte zu ihr: „Ihr Großvater ist ein sehr interessanter Mensch, Mademoiselle, er weiß viel zu erzählen.“ Sie lachte. „Ja, Fantasie hat er, mein lieber Grand-père. Hat er ihnen eine seiner Räubergeschichten erzählt?
Ich finde sie sehr amüsant. Aber glauben sie ihm nicht alles. 60 Jahre war er bei der Post am Place de Clichy, dort hat er sicher viel erlebt, aber gewiss nicht das, was er gerne anderen Leuten erzählt. Lieb habe ich ihn trotzdem. Oder gerade deswegen?“ Sie gab dem alten Mann einen zärtlichen Kuss. Dann wünschte sie mir einen schönen Tag, nahm beide Einkaufstüten in den einen und ihren Großvater in den anderen Arm, und der alte Mann nickte mir noch einmal mit traurigen Augen zu, und dann gingen sie langsam davon. Ich sah ihnen nach. Sie gingen sehr langsam, denn der alte Mann zog das linke Bein etwas nach, und schließlich verschwanden sie um die Ecke der Orangerie. Ich nahm mir vor, heute Abend auf den alten Apachen eine Montecristo zu rauchen.
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