Archi W. Bechlenberg / 26.02.2017 / 06:20 / Foto: Maarten Takens / 6 / Seite ausdrucken

Das Anti-Depressivum zum Sonntag: Würselen, Oimjakon und zurück

Haben Sie schon einmal von Oimjakon gehört? Falls nicht, ist das keine Wissenslücke, derer Sie sich schämen müssten. Ein Nest von ein paar hundert Einwohnern, aus deutscher Sicht sehr, sehr weit weg gelegen in der Republik Sacha  im russischen Föderationskreis Ferner Osten, Verwaltungseinheit Oimjakonski, ist nicht gerade geeignet, um einer normalen Allgemeinbildung besonderen, zusätzlichen Glanz zu verleihen.

Dabei hat Oimjakon dem Reisenden etwas zu bieten, das andere beliebte touristische Ziele wie Marokko, Tunesien oder Ägypten nie und nimmer vorweisen können, und so kommt es, dass der nur schwer erreichbare Ort im fernen Sibirien (von meinem momentanen Standort sind es laut Google 11.599 km bis dort) durchaus von neugierigen Besuchern angesteuert wird. Die allerdings nicht zur Kategorie der bequemen Pauschaltouristen gezählt werden können. Im Gegenteil.

Wer Würselen für einen unwirtlichen Ort hält, kennt Oimjakon nicht. Zwar unterscheiden sich die beiden Gemeinden im Sommer klimatisch wenig voneinander; hier wie dort werden im Juli durchaus 30° C erreicht, was der Würselener mit einem Besuch des dereinst von Martin „Chuck“ Schulz erbauten Spaßbades Aquana kompensieren kann, zudem er als Steuerzahler über den Eintrittspreis hinaus ein nicht unerhebliches Schärflein zum Erhalt dieses schmucken Schulz-Denkmals leisten darf.

In der kälteren Jahreszeit hingegen sieht das anders aus. Während in Würselen aktuell 9° C gemessen werden, wartet Oimjakon momentan mit minus 34° C auf. Was nicht etwa einer nur temporären Eiseskälteperiode in Sibirien geschuldet ist. Nein, die haben es dort meist so frisch. Der Ort ist die kälteste dauerhaft bewohnte Ortschaft der Erde. Hier wurden schon Werte unter  minus 60° C gemessen, für den Sonntag – also dem Tag, an dem diese Kolumne erscheint, sind minus 44° C vorhergesagt.  Das ist, wie man so sagt, arg kalt.

Ich hatte schon immer ein Faible für schräge Orte

Topographische Gegebenheiten Oimjakons führen zu diesen wahrlich bemerkenswerten Temperaturen. Der Ort liegt auf einer Hochebene, 750 Meter über NN. Gebirgsketten in allen Himmelsrichtungen verhindern den Zustrom wärmerer Luft im Winter; im Sommer hingegen kann sich die vorhandene Luft durch die Sonneneinstrahlung erwärmen, ähnlich wie in Würselen oder jedem beliebigen anderen vergleichbaren Ort. Ein Spaßbad zu unterhalten wäre in Oimjakon eine noch aufwändigere Angelegenheit als im westlichen Rheinland. Wasser gibt es außer in der kurzen Sommerzeit nur in gefrorener Form; die Einwohner hacken Eisblöcke in nahen Gewässern und tauen diese daheim auf; auch die Milch der einheimischen Kühe wird als Eis gelagert. Wer seine Wäsche draußen zum Trocknen aufhängt, muss beim Abnehmen besonders vorsichtig sein, sie kann nämlich leicht zerbrechen.

Warum Menschen dort leben? Es wird gute Gründe geben, vieles ist dort so weit weg, wie man es sich nur wünschen kann. Alleine das bedeutet schon Lebensqualität von bedeutendem Wert. Man jagt pelzige Tiere, aus deren Fellen warme Mützen gemacht werden, züchtet ein wenig Vieh für die Milch und das Fleisch und lässt ansonsten das Leben inmitten einer völlig unberührten Natur mit aller zur Verfügung stehenden Gelassenheit an. Von Würselen dürfte, da bin ich mir ganz sicher, noch nie jemand in Oimjakon gehört haben.

Ich hatte schon immer ein Faible für schräge Orte. Das begann, soweit ich mich erinnere, als ich von der Existenz einer Stadt namens Entenhausen erfuhr. Dort trugen die Bewohner Matrosenanzüge, Bolerojäckchen, Sweatshirts und Gehrock, jedoch stets ohne Hosen. Wenn das nicht bizarr ist! Und da es diesen Bewohnern in ihrer Stadt noch nicht ausgefallen genug war, reisten sie oft und gerne an andere Orte der Welt, wodurch sich mir als Knabe weitere faszinierende Regionen präsentierten. In einer Duck-Geschichte hörte ich zum ersten Mal von Timbuktu; Dagobert Duck besaß dort eine Staubsaugerfabrik. In anderen Erzählungen gab es Urwälder, Wüsten, Unterwasserstädte und versunkene Kulturen, unter ihnen eine in den Anden, vor der übrigen Welt verborgen durch eine nahezu undurchdringliche Nebelschicht. In diesem Reich drehte sich alles um den Würfel als wichtigster Grundform, selbst die Hühnereier waren rechteckig. Und die Räder.

Rasch entwickelte ich auch ein Faible für Inseln

Rasch entwickelte ich auch ein Faible für Inseln; kein Wunder, waren von Wasser umgebene Gebiete doch die Schauplätze zahlreicher Abenteuergeschichten. Diese Vorliebe für Inseln habe ich bis heute beibehalten, ich muss sogar sagen, dass sie sich in den letzten zwei, drei Jahren deutlich intensiviert hat. Zu den Inseln, die mich schon lange faszinieren, gehört das Vulkaneiland Tristan Da Cunha im südlichen Atlantischen Ozean. Das Klima dort ist angenehm, man kennt keinen Frost, und die Höchsttemperaturen liegen um die 20° Celsius.

Prägende Kultur der weniger als 300 Einwohner ist die britische, der Hauptwirtschaftszweig ist der Langustenfang. Was ebenfalls für dieses Refugium spricht: Es gibt dort keine politischen Parteien, sondern nur einen achtköpfigen Inselrat, also eine Art Vulkan-Schulzen; es ist nicht bekannt, dass dieses Gremium sich jemals durch fatale Entscheidungen gleich welcher Art hervor getan hat. Die Verkehrsverbindungen zur Außenwelt, pro Jahr zehn an der Zahl, werden durch Schiffe geleistet. Einen Flugplatz gibt es ebenso wenig wie befestigte Straßen. Per Internet kann der Insulaner sich, so er tatsächlich daran interessiert sein sollte, von den Geschehnissen in der restlichen Welt erschrecken lassen, ansonsten dienen Geselligkeit, five o'clock tea und recht ausgiebiger Whiskykonsum der Zerstreuung.

Eine andere Insel von ähnlicher Abgeschiedenheit ist Pitcairn im Pazifik, etwa 5000 km von Neuseeland und rund 5700 km von Südamerika entfernt. Pitcairn ist die bewohnte Hauptinsel eines kleinen Archipels, der die letzte britische Kolonie im Pazifik verkörpert. Die Bewohner heißen mit Nachnamen alle Christian und sind Nachfahren von Fletcher Christian, dem Anführer der von Film, Funk und Fernsehen bekannten Meuterei auf der Bounty, sowie einigen seiner Gefolgsleute und deren polynesischen Frauen. Diese hatten sich nach der feindlichen Übernahme des Schiffes auf der Flucht vor der britischen Strafverfolgung zunächst nach Tahiti und später nach Pitcairn abgesetzt. Insgesamt neun Europäer, sechs polynesische Männer und zwölf polynesische Frauen ließen sich 1790 auf Pitcairn nieder; die Insel war damals unbewohnt, bot aber alle Bedingungen, die eine Besiedlung möglich machten. Die folgenden Jahre waren nicht gerade friedlich, es gab rasch Konflikte, da die Europäer die Polynesier nicht als gleichberechtigt behandelten. Die bewegte Geschichte der Insel können Sie hier nachlesen.

Was Land dort kostet? Nichts.

Die heutigen, nicht einmal 50 Bewohner der Insel leben allesamt in der „Hauptstadt“ Adamstown, dort gibt es neben einer Schule ein Geschäft, ein Museum, eine Krankenstation, einen Friedhof, eine Polizeiwache sowie eine Kirche. Die Pitcairner sind sehr fromm, alle gehören der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten an; offenbar ist dies jedoch für eventuelle Zuzugswillige keine Conditio-sine-qua-non. Ja, man ist auf Pitcairn tatsächlich an einer Neubesiedlung interessiert, Platz ist genug, etliche der schönen Häuser stehen heute leer, und man möchte seitens der Insulaner nicht, dass das abgelegene Fleckchen in absehbarer Zeit nicht mehr bewohnt sein wird.

Und so es gibt einen Fragebogen für potenzielle Neuinsulaner auf der Website von Pitcairn; es wird nach allerlei gefragt, jedoch nicht nach der Religionszugehörigkeit. Man scheint offenbar bereit zu sein, zur Aufrechterhaltung der Besiedlung sogar gottlose Gesellen zu akzeptieren. Und noch eins hört sich gut an: Wer den Einwanderungstest bestanden hat, hat damit auch das Recht erworben, Land zu besitzen. Was Land dort kostet? Nichts. Klingt gut für eine Region, die immer gutes Wetter hat und keine Jahreszeiten kennt. Die Temperatur liegt übers Jahr relativ gleichbleibend zwischen 19 und 24°C. Es regnet recht häufig, dafür ist es aber auch schön grün und fruchtbar dort.

Da Pitcairn zu Großbritannien gehört, besitzen die dort lebenden Menschen zugleich die britische Staatsbürgerschaft und sind – noch – Bürger der EU. Von dieser, wie auch aus dem Mutterland, fließen nicht ganz unbedeutende Subventionen auf die Insel. Die Briten wären das wenig wirtschaftliche Eiland schon länger gerne los, und wie sich der Brexit auf die Entwicklung Pitcairns auswirken könnte, muss sich zeigen. Am Zauber eines solchen Ortes kratzt das vorerst noch nicht.

Zuletzt noch einmal kurz nach Tristan Da Cunha. Ein Vulkankegel kann noch so einsam aus dem Meer ragen, er muss doch eine Regierung haben. Vor Ort agiert der bereits erwähnte Inselrat, diesem steht ein Verwalter vor, der aus Großbritannien entsandt wurde und für die Dauer seiner Amtszeit auf der Insel wohnt. Vorgesetzt ist dem Verwalter ein Gouverneur. Der lebt allerdings nicht auf Tristan Da Cunha; er ist für weitere Inseln dieses Britischen Überseegebietes im Atlantik zuständig. Dazu gehört das recht winzige (91 km²) Eiland Ascension, Sitz einer Spionagebasis der US-amerikanischen NSA sowie, als Hauptinsel und Gouverneurssitz, St. Helena. Auch St. Helena ist flächenmäßig mit gerade einmal 123,3 km² nicht besonders nennenswert, dennoch ist diese Insel wohl jedem geschichtlich halbwegs Gebildeten ein Begriff. Dorthin nämlich wurde vor etwas mehr als 200 Jahren ein selbstherrlicher Egomane verbannt, der zuvor, zwischen 1799 und 1815, 16 Jahre lang als europäischer Herrscher den Kontinent in Angst und Schrecken versetzt hatte.

Aber das ist wieder eine andere Geschichte

Leben am kältesten Ort der Welt.

Website von Tristan da Cunha.

Website von Pitcairn.

Lesen Sie auch Archi W.Bechlenbergs Blog Herrenzimmer

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Leserpost

netiquette:

Martin Hahn / 27.02.2017

Wie immer ein sehr lesenswerter Artikel. Insbesondere was Herr Bechlenberg zu Pitcairn schreibt, finde ich faszinierend. Die Einwanderungsbedingungen sind doch verlockend und die Insel sieht paradiesisch aus. Ich habe mir mal die Webseite angeschaut. Für mich lautet die Botschaft “Wenn du uns nicht zur Last fällst und wenn du in der Lage bist, selber für dein Leben zu sorgen (sprich: Du kannst anpacken), dann komm doch einfach zu uns.” Ich frage mich gerade, warum nicht halb Europa sich auf den Weg dorthin macht. Irgendwo muss doch ein Haken sein? Ich würde das ernsthaft in Erwägung ziehen, wäre ich jünger und gesünder.

Wolfgang Richter / 26.02.2017

Oimjakon scheint ein wirtlicher Ort zu sein, zu dem es sich z. B,. lohnt zu entfliehen, wenn man von dem nahezu täglich verzapften Irrsinn der hier lebenden selbst ernannten Eliten und den von ihnen geladenen Gästen eine dringende Erholung braucht, oder auch nicht. Da nichts vermerkt ist, daß es dort eine internetfähige Empfangsmöglichkeit gibt, könnte es ggf. der Rückzugsraum gewesen sein, an dem sich die bekennend ahnungslos und kraftlose Regentin des Homelands NRW während der Silvesterorgien 2015 und danach aufhielt.

Karla Kuhn / 26.02.2017

“Warum Menschen dort leben? Es wird gute Gründe geben, vieles ist dort so weit weg, wie man es sich nur wünschen kann. Alleine das bedeutet schon Lebensqualität von bedeutendem Wert. Man jagt pelzige Tiere, aus deren Fellen warme Mützen gemacht werden, züchtet ein wenig Vieh für die Milch und das Fleisch und lässt ansonsten das Leben inmitten einer völlig unberührten Natur mit aller zur Verfügung stehenden Gelassenheit an. ” Sagen Sie das nicht zu laut, sonst kommen die Grünen und Frau Hendricks, dann ist es vorbei mit der Jagd, da wird vegetarisch gegessen und der Genderwahnsinn kommt auch auf seine Kosten. Trotz aller Kälte leben diese Menschen friedlich, beneidenswert.

Andreas Rochow / 26.02.2017

Danke für diese wunderbare Reise. Ich bin wieder gut daheim angekommen.

Günter Schaumburg / 26.02.2017

Interessant und lesenswert. Gute Sonntagsmorgenlektüre. Kann man da nicht eine Serie daraus machen?

Jochen Selig / 26.02.2017

Zu Tristan da Cunha ist noch unbedingt zu erwähnen, dass es der Handlungsort einer der wirkmächtigsten Romane deutscher Sprache ist: die Utopie “Die Insel Felsenburg” von Johann Gottfried Schnabel. Der erste Teil, erschienen 1731, ist immer noch lesenswert.

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