„Wenn man einen Zug benutzt, in dem sechshundert Nonnen eine Wallfahrt nach Lourdes antreten, ist man froh, ein leeres Abteil für sich allein zu finden ... „
Meinen Kunstgeschichtsprofessor Hans Holländer verdanke ich, Herbert Rosendorfer in den 1970er Jahren entdeckt zu haben. Holländer hatte stets einen Sinn für das Absurde, Surreale, Fantastische, und in Rosendorfers 1969 erschienenen Roman Der Ruinenbaumeister gibt es davon die volle Dröhnung. Dazu skurrilen, aberwitzigen Humor, eine Legion absonderlicher Figuren und eine verschachtelte, die Handlung vorantreibende Erzählweise, die in ihrer Komplexität erstaunt und begeistert.
Mir, als schon zu Studentenzeiten eher der romanischen als der deutschsprachigen Literatur Zugewandter wäre ein Autor mit einem so deutschen Namen wie Herbert Rosendorfer gewiss unbekannt geblieben. Aber wenn Professor Holländer, ein ausgewiesener Kenner des Manierismus und des - im weiten Sinne zu verstehenden - Fantastischen auf jemanden aufmerksam machte, dann konnte man sicher sein, dass eine Beschäftigung mit diesen Leuten den eigenen Horizont immens erweitern konnte; ganz gleich, ob es sich um Maler, Grafiker, Architekten oder eben Schriftsteller handelte.
Ein prosaischer Jurist als fantastischer Autor
Meist sind es Künstler, die jenseits des Mainstreams ihrer Zeit tätig waren und dem entsprechend nur selten außerhalb der Fachwelt die Aufmerksamkeit fanden, die ihrem kreativen Geist angemessen gewesen wäre. Wenn mir heute spontan einige Namen einfallen, dann sind das Paul Scheerbart, Alexander Lernet-Holenia, Gustav Meyrink, Leo Perutz oder Bruno Schulz (Die Zimtläden), bei den bildenden Künstlern sind es Giambattista Piranesi, Giuseppe Arcimboldo, Alfred Kubin oder der jenseits aller Konventionen seiner Zeit schaffende Bildhauer Franz Xaver Messerschmidt. Natürlich war Holländer auch mit den populäreren Vertretern des Fantastischen vertraut; er publizierte über Hieronymus Bosch, Paul Wunderlich und den neben Ernst Fuchs bekanntesten Vertreter der „Wiener Schule des Fantastischen Realismus“, Rudolf Hausner.
Zurück zu Rosendorfer. Mehr als erstaunt lernte ich bei meiner ersten näheren Beschäftigung mit diesem Autor, dass er im Brotberuf etwas ganz prosaisches betrieb: Rosendorfer arbeitete als Jurist, zunächst als Gerichtsassessor und Staatsanwalt in Bayreuth, später als Amtsrichter in München und ab 1993 als Richter am Oberlandesgericht Naumburg. So jemand schrieb ein Buch wie den Ruinenbaumeister? So jemand hatte eine überbordende Fantasie, die es mit einem E.T.A. Hoffmann aufnehmen konnte?
„Da liegt endlich wieder einmal ein Buch vor, bei dem man als Leser zwar der Gefoppte, gewiß aber nicht der Geprellte ist“ schrieb der Autor Herbert Eisenreich bei seiner Buchvostellung im Spiegel 1970. Ich versuche gar nicht erst, eine Inhaltsangabe zu liefern, denn im Ruinenbaumeister fließen zwei Dutzend Geschichten so nahtlos ineinander über, dass jeder Versuch, daraus eine Synthese zu formen, gnadenlos zum Scheitern verurteilt ist. Es wimmelt darin von absonderlichen Gestalten, die sich beruflich als Hymnenkomponisten, Damensonnenbadpächtern und Wanzendompteuren betätigen, es gibt Orts- und Zeitsprünge von atemberaubender Reichweite und überhaupt ein Panoptikum des Komischen und Irrwitzigen, wie mir in der Deutschen Literatur ansonsten nicht so leicht einfallen mag. E.T.A. Hoffmann ist da noch der Naheliegendste.
Ein Panoptikum des Komischen und Irrwitzigen
„Ernste Deutsche, von Böll etc. nicht grad verwöhnt, werden fragen: Was soll das?“ So Herbert Eisenreich damals in seiner Rezension des Ruinenbaumeisters. Und in der Tat – mit sauertöpfischer Moralliteratur hat Rosendorfers erster Roman nichts gemein. In dem geht es turbulent wie in einem Stechapfelrausch zu, überbordend vor Fantastik und Dramatik, grotesk, komisch, anekdotenhaft, ja, auch erotisch und schlüpfrig und auch melancholisch, das alles verteilt in sich kreuzend und querende Haupt- und Neben- und Nebennebengeschichten. Je literarisch und musikalisch (!) vorgebildeter der Leser dieses Romans ist, um so mehr wird er von Anfang bis Ende seinen Spaß haben, denn Rosendorfer, damals schon enorm gebildet, schöpft bei seinen Referenzen aus dem Vollen.
Der 1934 in Bozen geborene Rosendorfer, der 2012 starb, hat ein äußerst umfangreiches literarisches Werk hinterlassen, zu dem neben Romanen, Erzählungen, Gedichten und Theaterstücken auch Kompositionen gehören; selbst Drehbücher für Fernsehfilme hat er verfasst, darunter vier für den Tatort. Sein Briefroman „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ von 1983 wurde zu einem Bestseller. Lange wurde Herbert Rosendorfers Werk vom Literaturbetrieb etwas abschätzig in die Kategorie „Unterhaltungsliteratur“ eingeordnet. Unterhaltsam waren seine Bücher in der Tat, aber was daran wäre schlecht? Zudem seine Art der Unterhaltung stets aus einem immensen, geradezu unversal-gelehrten Wissen schöpfte.
"Ich glaube nämlich, dass die Literatur nicht imstande ist, die Gesellschaft zu beeinflussen. Ich kenne kein Beispiel aus der Geschichte, dass eine literarische Richtung etwa eine Revolution hervorgerufen hätte... Ich versuche also, jedes direkte Engagement zu vermeiden. (Es ist ja auch ein alter Hut, und wer wüßte das besser als Schüler: je direkter etwas einem gesagt wird, desto weniger wirksam ist es. Wenn man etwas erreichen will, muß man es hintenherum versuchen). Was bei mir - vielleicht - als mein gesellschaftliche, politische und sonstige Auffassung in meine Arbeiten einfließt, sind altmodische Dinge, die heute gering im Kurs stehen: das Verlangen nach Freiheit, nach Unabhängigkeit, nach Toleranz und - man traut es sich fast nicht mehr zu sagen - nach Menschlichkeit." (Herbert Rosendorfer)
Links:
Eine Herbert Rosendorfer gewidmete Internetseite mit vielen weiterführenden Informationen
Herbert Eisenreich 1970 über „Der Ruinenbaumeister“
Nachruf von Oliver Jahraus