Archi W. Bechlenberg / 13.03.2016 / 06:30 / 0 / Seite ausdrucken

Das Depressivum zum Sonntag (13). Heute ohne Anti.

Unter den vielen unangenehmen, da sinnlos erscheinenden Aufgaben, derer man sich annehmen kann, gehört ganz gewiss das Schreiben einer Kolumne für den heutigen Sonntag, jedenfalls dann, wenn sie mit dem Anspruch, als Antidepressivum zu dienen, antritt. Wer bitte liest denn an diesem Schicksalstag Europas, ja vielleicht sogar der Kanzlerin, etwas mit erbaulichem Impetus? Deutschland steht an diesem 13. März am Scheideweg. Am Ende des Tages werden Mauern eingerissen sein, Gutmenschen ebenso wie Geisterfahrer sind gelähmt vom vorprogrammierten Debakel und der in ihrer Höhe unerwarteten Wahlschlappe. Der Schock sitzt tief, bereits  in den nächsten Stunden wird sich infolge des sintflutartigen Urnengangs, ausgelöst durch feige Nichtwähler wie Wähler, das Personalkarussell fieberhaft drehen – kurz, kein Schwein wird sich an diesem Sonntag für tröstlich gemeinte Worte eines Kultureuropäers offen zeigen.

Womit wir bei mir sind. Den Verfasser dieser Zeilen durchwabert in just diesem Augenblick Sorge und Mitgefühl. Norbert Blüm, so musste ich vorhin lesen, zeigt „eine ungewöhnliche Geste der Solidarität: Er hat am heutigen Samstag ein Zelt im griechischen Flüchtlingslager Idomeni aufgeschlagen, in dem er die Nacht zum Sonntag verbringen will.“ Der Nobbi! Mir macht weniger die Tatsache Sorgen, dass der Mann bereits 80 ist (für viele Rentner ist ein Zelturlaub immerhin die – vorerst noch - einzige Möglichkeit, mal unter fremde Leute zu geraten). Doch was ist, wenn die Lage rund um Blüm eskaliert? Man weiß schließlich, dass die Nerven blank liegen. Wenn dann noch passdeutsche Asylgegner an einem Strang ziehen, ist eine menschliche Katastrophe kaum mehr abzuwenden. Kurz: Ist Blüm ein Todeskandidat? Steht für ihn alternativlos fest: „Die Grenzen sicher!?“ Man weiß wie stets so wenig. Ja, dieser Schock sitzt tief. Mit voller Härte.

Sie sehen, lieber Leser, mein Antidepressivum zum morgigen, also heutigen Sonntag ist auf keinem guten Weg, und daher versuche ich auch gar nicht erst, das Beste draus zu machen. Um der Kultur aber zumindest etwas Tribut zu zollen, kommen mir zwei Autoren wie gerufen, deren Enden (Sie merkeln: Ich denke vom Ende her!) alles andere als tröstlich waren. Von dem einen weiß man nicht einmal, wann und wie es sich ereignete, er verschwand einfach spurlos, so gegen 1914, und da rings um seinen letzten bekannten Aufenthaltsort ein mexikanischer Bürgerkrieg tobte, kann man annehmen, dass der Mann eher nicht im Schlaf leise dahin schied. Da war er 71, also in dem Alter, in welchem - plusminus zwei Jahre - derzeit eine Reihe musikalischer Helden wie Lemmie Kilmister, David Bowie, Keith Emerson sowie der Schreckens des Spreewalds, Achim Mentzel, vom Schnitter geholt wurden.

Den Anderen ereilte sein Schicksal zwar erst zwei Jahre später; nicht in Mexiko, sondern in Nordfrankreich, aber dafür wurde er auch nur 46 und starb infolge des Tabakkonsums. Nicht seines eigenen, sondern eines Mitsoldaten, dem er mit den Worten „Mach deine verdammte Zigarette aus!“ einen gesundheitlich relevanten Rat geben wollte. Das nutzte ein feiger, nein, nicht Attentäter, sondern deutscher Scharfschütze aus und zielte in Richtung der Stimme. Ein tragischer Tod, der Schock darüber saß tief, auch wenn es nicht wirklich ein brutaler Mord war.

Beiden Autoren eigen ist war ihre meisterliche Art, Kurzgeschichten zu verfassen. Sie nutzten keine sinnlosen Floskeln, von denen es ja in vielen, allzu vielen Texten nur so wimmelt. Inhaltlich geht es darin, sage ich jetzt mal, fast immer bösartig, absurd, miesepetrig, zynisch und makaber zu. Bei dem im 1. Weltkrieg auf dem Feld der Ehre gebliebenen Briten H. H. Munro (1870 – 1916) stehen häufig Kinder im Mittelpunkt, die in ihrer Gemeinheit und Bösartigkeit so präzise beschrieben sind, dass man meinen könnte,  Munro habe gleich ein ganzes Dutzend von denen in die Welt gesetzt und seziert. Tatsächlich aber beschrieb er nur seine eigene Kindheit und die seiner Schwester. Letztere hat wohl nicht gerade aus einer Langeweile heraus nach Munros vorzeitigem Ableben zahlreiche der hinterlassenen Schriften vernichtet.

Als Beispiel für Sakis Themen fasse ich hier seine Erzählung „Die offene Tür“ kurz zusammen. In ihr besucht ein junger Mann namens Frampton Nuttel seine ihm bis dahin unbekannte Verwandschaft auf dem Land. Nuttel, offenbar einer jener blutarmen britischen Upper Class Twits, wie man sie durch Monty Python kennt, braucht dringend Erholung weitab von jeglicher Aufregung und wird deshalb von seinem Arzt in pastorale Abgeschiedenheit geschickt, damit seine nervlichen Anspannungen kuriert werden. Empfangen wird Nuttel von einer etwa fünfzehnjährigen Cousine, die ihn freundlich hereinbittet, ihm einen Platz im Salon anbietet und ihm sagt, ihre Tante, bei der sie selber ebenfalls zur Zeit zu Gast ist, werde bald kommen, um ihn zu empfangen. Man plaudert ein wenig, und die Cousine erwähnt ganz nebenbei, die Tante habe sich ja „seit der Tragödie“ nicht mehr richtig erholt, er möge also nachsichtig mit deren seltsamen Verhalten sein. Nuttel ist von einer Tragödie nichts bekannt, und so fragt er nach. Die Cousine erzählt ihm von jenem verhängnisvollen Tag, „heute vor genau drei Jahren“, an dem ihr Onkel zusammen mit zwei Brüdern morgens das Haus zur Jagd in Richtung Moor verlassen habe. Und sie kamen nie zurück, auch ihre Leichen wurden nie gefunden! „Die Stimme des Mädchens verlor bei diesen Worten ihre Selbstsicherheit und bebte vor Grauen: Meine arme Tante glaubt immer noch ganz fest, dass sie eines Tages doch zurück kommen werden – die drei Männer und der kleine Spaniel, der mit ihnen verschwand – und dass sie dann wie immer durch diese Tür hereinkommen. Deshalb bleibt die Tür Abend für Abend weit offen, bis es dunkel ist...“

Nuttel, der nahe dieser offenen Türe sitzt, wird von einem Schauer ergriffen, doch die Cousine plaudert längst wieder über weniger unheimliche Themen. Endlich erscheint die Tante, begrüßt Frampton Nuttel freundlich und bittet um Nachsicht, weil die Türe trotz Abendkühle offen stehe, ihr Mann und ihre beiden Brüder müssten samt Dackel jeden Moment von der Jagd heimkehren, der Tisch sei nebenan bereits eindeckt, und die Jäger werden wohl wieder mit ihren Stiefeln die Teppiche versauen. Nuttel macht gute Miene zum offensichtlichen Wahn der Tante und pflegt standesgemäß-sinnlose Konversation. Bis, ja bis die Tante plötzlich fröhlich „Da kommen sie ja!“ ruft. „Von namenloser Angst gepackt, drehte Frampton sich in seinem Sessel um und sah ebenfalls in die gleiche Richtung. Durch die zwielichtige Dämmerung kamen drei Männer über den Rasen und direkt auf die Türe zu. Jeder der drei hatte eine Flinte unter dem Arm, und dicht hinter ihnen trottete ein müder brauner Spaniel.“

Natürlich ist das noch nicht das Ende der Geschichte, denn die Monster in Munros Geschichten sind alles andere als jenseitig.  Und noch weniger kann eine Zusammenfassung Munros sprachliche Brillanz auch nur im Ansatz wiedergeben. Von daher ---

Grundgütiger! Gerade sehe ich, dass ich mich mal wieder völlig verquatscht habe. Dabei sind noch längst nicht alle Floskeln geschrieben, aber ich habe leider keinen Notfahrplan, gegen den ein Kraut gewachsen ist. Schlimmer noch, ich muss Sie an dieser Stelle auch noch auf den kommenden Sonntag vertrösten, um Ihnen den anderen, in Mexiko verschollenen Autor näher bringen zu können. Bis dahin verweise ich freundlich auf Mr. Munro und Ihren Wunsch, mehr über ihn zu erfahren und seine Geschichten zu lesen. Den werden Sie übrigens unter H. H. Munro nicht finden; er schrieb unter dem Pseudonym ‚Saki‘, das persische Wort für‚Begleiter‘.

Was mag Norbert Blüm derweil machen? Gibt es überhaupt Schlafsäcke, in die er passt? Nun, bald wissen wir mehr, sicher sind die Korrespondenten von ARD und ZDF vor Ort. Hauptsache, die Grenzen sind sicher. Halayali!

Linktipp: Monty Python Upperclass Twit of the Year

 

 

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