Nachdem wir in der letzten Folge eine kleine Exkursion in die amerikanische Bürokratie unternommen haben, kehren wir also wieder zurück nach Old Europe und schauen uns hier ein wenig um. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele: Frankreich und Italien.
Frankreich. In seinem Buch „Spätburgunder“ schildert Adolf Ströbele, wie er nach seiner Pensionierung mit seiner Frau sechs Jahre lang in einem Dorf in der Nähe von Cluny gelebt und dabei auch die französische Bürokratie kennen gelernt hat. „Ursprünglich hatten wir vor“, schreibt Ströbele, „in Deutschland alle Brücken abzubrechen und unseren ersten und einzigen Wohnsitz in Frankreich zu nehmen. Ich stellte mir das ziemlich einfach vor, da Deutschland und Frankreich Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind.“
„So gingen wir frohgemut aufs Rathaus unseres neuen Wohnorts in Frankreich. Der Bürgermeister hatte Sprechstunde, aber die Sekretärin war wegen der Sommerferien nicht da. Wir wurden freundlich empfangen. Aber als wir erklärten, dass wir die Aufenthaltsgenehmigung beantragen wollten, die von vielen Einwanderern heißt begehrte ‚carte de séjour’, verwies er uns erleichtert an die Sekretärin. Das sei ihre Aufgabe und ziemlich kompliziert. In vier Wochen sei sie wieder da. Die Angelegenheit erfordere ja keine besondere Eile.
Mein Versuch ein Auto in Frankreich zuzulassen lief total ins Leere
Dem stimmten wir gerne zu, und beim Hinausgehen empfanden wir den Vorfall als weiteren Beweis dafür, wie locker es in Frankreich zugehe und dass selbst der Bürokratie hierzulande eine gewisse Gemütlichkeit nicht abzusprechen sei.“ Das sollte sich allerdings als schwerwiegender Irrtum herausstellen. „Mein erster Versuch, unserem Auto eine französische Nummer zu verpassen, blieb im Dickicht der französischen Bürokratie stecken.“
Nach dem Verkauf des alten Wagens und der Anschaffung eines neuen, eines Campingwagens, ging es in die zweite Runde. Da in Frankreich ein anderer Gasdruck für Campingfahrzeuge vorgeschrieben sei, müsse der Druckregler ausgetauscht werden, erklärte der zuständige Ingenieur. „Dass man damit Kühlschrank, Herd und Heizung austauschen müsse, die für einen bestimmten Gasdruck gebaut werden, verschwieg er weise.“ Schließlich drückte dem frankophilen Deutschen ein freundlicher junger Mann vier DIN-A4-Seiten über Campingfahrzeuge in die Hand.
Bei der Übertragung des Amtsfranzösischen ins Deutsche und der Lektüre zahlreicher Querverweise verließ den „Spätburgunder“ dann die Kraft und er verzichtete darauf, sein Fahrzeug in Frankreich zuzulassen. Diese Entscheidung setzte allerdings einen ersten Wohnsitz in Deutschland voraus, der schnell bei seiner Tochter in Freiburg gefunden war. „So brauchte ich auch keine Aufenthaltsgenehmigung mehr. Das Haus in Frankreich war damit unser zweiter Wohnsitz.“
Damit aber noch nicht genug. Bei der anstehenden Volkszählung in Frankreich legte der Bürgermeister großen Wert darauf, dass die beiden Zugezogenen mitgezählt wurden, weil die Gemeinde andernfalls für sie beide kein Geld bekäme. Merke also: Das Wort Bürokratie kommt nicht nur aus dem Französischen und wurde von einem Franzosen geprägt, auch das Phänomen ist in Frankreich durchaus bekannt.
Die Italiener und die Kunst des sich arrangierens
Italien. „Es ist vielleicht keine besondere Ehre, aber ein großes Vergnügen, Italiener zu sein. Wie machen sie das bloß, die Italiener? Wenn deutsche Fernsehzuschauer und Leser der Skandalpresse Berichte über die Zustände in der Spaghetti-Republik sehen, kommen sie aus der Verwunderung nicht heraus. Ein Staat, der jährlich fast 180 Milliarden Mark Defizit macht und dessen Gesamtverschuldung auf 1800 Milliarden angewachsen ist, müßte der nicht längst Bankrott erklären? Ineffiziente Verwaltung, häufige Streiks, Chaos - was funktioniert da unten im Süden überhaupt noch? Vielleicht nur - wie böse Zungen behaupten - die Korruption, die (wenigstens bis vor kurzem) buchstäblich wie geschmiert lief? Oder die Mafia? Wer mit Klischeevorstellungen nach Italien reist, bemerkt jedoch erstaunt: Millionen Bürger dort überleben nicht bloß, sondern sie leben sogar sehr gut; eine gar nicht so kleine Schicht kann sich Luxus leisten, auch wenn sie dies vor dem Fiskus geschickt verbirgt. Die ’italiani’, kein Zweifel, haben als Volk mehr Ressourcen, als Statistiken auf den ersten Blick ahnen lassen. Und je deutlicher sie die Wirtschaftskrise spüren, umso mehr bewähren sich ihre charakteristischen Fähigkeiten: Flexibilität, Phantasie und die Kunst des ’arrangiarsi’, des Sicharrangierens.“
So begann ein Artikel in der Stuttgarter Zeitung vom 27. November 1993 unter der Überschrift: „Römische Lebenskünstler. Hauptsache durchwursteln oder: Überleben auf italienisch“.
Weiter erfährt man: „Im Blaumachen leisten die Staatsdiener Beachtliches. Beliebt sind Krankmeldungen; wer lange wegbleiben möchte, läßt sich von einem befreundeten Doktor „nervöse Erschöpfung“ bescheinigen. Auch jene Beamten, die morgens durchaus ins Büro kommen, verstehen es glänzend, den Dienst durch ausgedehnte Kaffeepausen und Einkaufsbummel aufzulockern.“ Das Ummelden eines Autos zum Beispiel ist eine enorm zeit- und geldaufwendige Prozedur, von der außerdem nicht von vornherein feststeht, ob sie am Ende von Erfolg gekrönt ist.
Auf der anderen Seite: Als Papst Johannes Paul II. am 2. April 2005 starb, rätselte die deutsche Presse, wie die italienischen Ordnungskräfte den Ansturm der rund 3,5 Millionen Pilger am Tag der Beisetzung organisatorisch verkraften würden. Und siehe da: Es klappte ohne nennenswerte Probleme.
In dem erwähnten Bericht der Stuttgarter Zeitung heißt es in bemerkenswerter Vorahnung:
„Ordnungsliebende, pingelige Zeitgenossen von nördlich der Alpen können sich an die italienische Konfusion und den italienischen Hang zur Anarchie nur schwer gewöhnen. Aber es gibt Ausnahmen. Mancher im Südstaat tätige Ausländer gewinnt dem Leben all'italiana schnell positive Seiten ab. Der ein oder andere sieht bella Italia gar als Laboratorium, wo man vorexerziert, was andere Völker dann nolens volens nachmachen. So etwa Victor J. Willi, ein seit langem bei Rom lebender Schweizer Publizist und Soziologe, in seinem Buch ‚Überleben auf italienisch’. Die Italiener, betont der Autor, haben stichhaltige Gründe, mit dem Chaos auf gutem Fuß zu stehen. Denn sie lernen von der Wiege bis zur Bahre seine geheimen Vorzüge kennen. Das italienische ‚System’ ist niemals langweilig, bietet ständig Überraschungen und spornt somit die geistige Beweglichkeit an. ‚Heute stellt sich die bange und doch, von Rom her gesehen, hoffnungsvolle Frage, ob die Menschheit sich nicht wohl oder übel nach Italien auszurichten habe, wo die Bürger gelernt haben, mit dem Chaos zu leben und immer wieder etwas Gutes aus dem Wirrwarr zu machen.’ Da kann man nur sagen: Chaoten aller Länder, auf zur Studienreise gen Rom!“
Als Dritten im Bunde könnte man noch Griechenland anfügen. Doch die armen Helenen werden seit Jahren schon genug gebeutelt, so dass ich ihnen einen Auftritt in diesem Zusammenhang erspare.
In der nächsten Folge morgen lesen Sie: Deutschland und der Versuch auszumisten
Der Verfasser hat 37 Jahre in der öffentlichen Verwaltung in Baden-Württemberg gearbeitet, davon 35 Jahre im Innenministerium in Stuttgart. In den Jahren 1973/74 war er Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Innere Verwaltungsreform“, die frischen Wind in die Amtsstuben bringen sollte.