Gastautor / 08.02.2011 / 11:04 / 0 / Seite ausdrucken

Bruderkriegsindex der arabischen Aufstände

Von Gunnar Heinsohn

Das quantitative Verhältnis zwischen 15-29-jährigen Jünglingen und 50-65-jährigen Männern indiziert das Konfliktpotential unter den Jüngeren nach einem Sieg über die Älteren. Die aktuell höchsten Indizes von rund 5 werden in Ländern wie Niger und Uganda oder Gaza und Jemen erreicht. Auf 1.000 Männer der Generation, die aktuell die Machthaber, Unternehmer, Chefs, Verwaltungsspitzen, Professoren, Lehrer, Journalisten und sonstigen Funktionseliten stellen, folgen 5.000 junge Männer zwischen Pflichtschulabschluss und Universitätsexamen, die den Lebenskampf aufnehmen müssen. Bei gleich hohem Bruderkriegsindex variieren die Gewaltpotentiale nach dem Wohlstand der betroffenen Nationen. Länder mit extremer Armut werden eher Hunger und Apathie erleben, während in solchen mit Wirtschaftswachstum oder zumindest ohne Einkommensrückgang mehr Kraft und Intelligenz für Informationstechnik und Bewaffnung für das gegenseitige Ausschalten zur Verfügung stehen. 
Länder wie Ägypten und Tunesien mit 6.200 bzw. 9.500Kaufkraftdollar pro Kopf liegen im selben Einkommenskorridor und schaffen im Jahrzehnt 2000-2010 rund gerechnet eine Wohlstandsverdopplung. Die Familien können ihre Kinder immer besser ernähren und beschulen. Deshalb gehen die Jungen ehrgeiziger und körperlich stärker als je zuvor in den Aufstiegskampf. Dabei erfahren sie sehr schnell, dass ihren Zielen angemessene Positionen nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind. Zwei, drei, vier oder gar fünf Bewerber streben auf denselben Posten, weil vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren die Frauen ihrer Nationen fünf, sechs, sieben oder acht Kinder aufzogen.
Was als Karriere erstrebt wird, leben in Status, Einkommen, sexuellen Optionen und sonstigen Möglichkeiten diejenigen vor, die jetzt im Sattel sitzen. Diese Männer in ihren Fünfzigern realisieren die Steigerung des Prokopfeinkommens auf ihren Gehaltszetteln. Die Jungen empfinden sie aber nicht nur als Ansporn, sondern auch als Provokation. Nur durch ihre Ablösung oder gewalttsame Beseitigung können sie selber nach oben gelangen. Dass sie formal oft besser qualifiziert sind als die Älteren, stachelt ihren Zorn über deren „ungerechtfertigte Privilegien“ nur weiter an. Da ihre ganz weltlichen Bedürfnisse zwar mächtig wirken, zugleich aber als schnöder Neid gelten, werden sie durch überhöhte Formulierungen geadelt. Den Angreifern gehe es nur um Würde, Freiheit und die Überwindung von Vorrechten.  Nicht ich will etwas für mich – heißt es dann -,  sondern unsere noble Bewegung opfert sich für das Volk, den Islam oder gleich die gesamte Menschheit.
Da all diese Parolen keine zusätzlichen Pfründen schaffen, entscheidet der jeweilige Bruderkriegsindex darüber, mit welchem Ausmaß an Gewalt ein Gleichgewicht zwischen Positionen und Ambitionen hergestellt wird.  Wenn man arabische Gebiete mit besonders langen Ketten blutiger Konflikte anschaut – etwa Gaza, Jemen oder Irak mit Durchschnittsaltern von siebzehn bis zwanzig Jahren (in Deutschland sind es 44) – dann trifft man auf einen Bruderkriegsindex von 5, wie wir ihn auch in Afghanistan am Werke sehen. Hinter einem Mann in den Fünfzigern laufen sich fünf Zwanzigjährige für den Konkurrenzkampf warm.
Wenn die Jungen sich effektiv erheben, wird der Eine ganz oben zwar weg gefegt, aber vier der Jungen bleiben immer noch ohne Posten. Deshalb frisst nun die Revolution zwar nicht ihre Kinder, aber doch ihre Brüder. Diejenigen, die an die Spitze vorstoßen, werden des Verrats an den gemeinsamen Idealen aus der Bewegungszeit gescholten und dürfen nun ihrerseits angegriffen werden. Die erst einmal Gescheiterten werden dann zu Überfrommen, die mit allem heiligen Recht die Normalfrommen genauso austilgen dürfen, wie es beispielsweise Christen im Dreißigjährigen Krieg machen (1618-48), als Deutschland sieben Kinder pro Frau aufzieht.
Da in den Staaten mit Bruderkriegsindex 5 auch 2010 immer noch vier bis fünf Kinder pro Frau aufwachsen, dürften die kommenden Konflikte noch verlustreicher ausfallen als die bereits durchlittenen. Es gehen ja nicht nur die Zwanzigjährigen aufeinander los, sondern hinter ihnen wächst eine noch aggressivere Welle des Ehrgeizes nach. So folgen in Gaza auf 1.000 junge Männer im Alter von 15-29 Jahren 1.500 Knaben im Alter von 0-14. Dort wird man natürlich versuchen, die Aggression den eigenen Leuten auf die Juden Israels umzuleiten, im Jemen aber wird – wie seit Jahrzehnten schon - das Blut rein innerarabisch vergossen.
Will man verstehen, warum Tunesien relativ schnell wieder ruhig wird und die Armee den Präsidenten Ben Ali gefahrlos fallen lassen kann, dann hat das mit seinem kleineren Bruderkriegsindex von ungefähr 2 zu tun. In diesem Land mit einem Durchschnittsalter von dreißig Jahren stehen nur zwei Zwanzigjährige gegen einen Fünfzigjährigen. Überdies folgen auf 1000 junge Männer von 15-29 Jahren nur noch 850 Knaben zwischen 0 und 14. Das liegt daran, dass die Kinderzahl pro Frau zwischen 1970 und 2007 von 7,1 auf 1,7 absinkt. Gleichwohl bleibt auch ein Index von 2 nicht ohne Brisanz, was leichter nachvollziehbar wird, wenn man ihn mit dem Bruderkriegsindex von lediglich 0,5 in der Bundesrepublik vergleicht, wo auf 1000 fünfzigjährige Männer nur 500 zehnjährige Jungen folgen.  Im OECD-Raum schaffen nur die USA einen Index von 1 bzw. die demografische Neutralität. Alle anderen liegen darunter und gehören in die Korridore der demografischen Kapitulation (0,7-1) oder des demografischen Suizids (unter 0,7).
Algerien und Libanon ähneln Tunesien, haben zusätzlich aber während des Rückganges von 6-7 Geburten pro Frau auf heute 1,8 ihren Jungmännerüberschuss ungemein blutig abgebaut – durch 150.000 Tote zwischen 1975 und 1990 in der Levante und bald 200.000 Tote zwischen 1990 und 2000 im Maghreb. Damals hatten auch diese Länder einen Index von 5.  Marokko nimmt einen ähnlichen demografischen Verlauf, wählt für die überzähligen Söhne aber einen anderen Weg. Als Libanon sein internes Abschlachten beginnt, erobert es die Spanische Sahara, rottet dort fast 20.000 Araber aus und schickt ein Mehrfaches davon an eigenen Siedlern herein.
Ägypten mit einem Durchschnittsalter von 24 Jahren agiert brisanter als Tunesien, weil es einen Index von knapp 3 aufweist. Der macht die Fünfzigjährigen zuversichtlicher bei der Verteidigung ihrer Stellung und lässt sie sogar aktiv mitkämpfen. Mindestens ein Drittel der jungen Männer darf sich berechtige Hoffnungen auf die Übernahme der Positionen in der Vätergeneration machen. Deshalb gehen die Jungen auch schon vor dem Sturz der Etablierten erbarmungslos gegeneinander vor – jeweils überhöht als Kämpfer für die Freiheit oder als Verteidiger der Ordnung. Anders als in Tunesien kann die Armee also nicht darauf rechnen, dass es nach geringen – also dreistelligen und nicht vier- bis siebenstelligen - Verlusten zu einem friedlichen Ausgleich kommt. Denn auch am Nil kann eine wie immer betriebene Freiheitssuche keine attraktiven Karrieren für alle ihre Verfechter herbeizaubern. 
Unter einem Bruderkriegsindex zwischen 3 und 4 keuchen Jordanien und Syrien mit ihrem Durchschnittsalter von 22 Jahren. In beiden Ländern aber zögert man vor neuen Aufständen auch deshalb, weil frühere Rebellen ungeheuer brutal ausgetilgt wurden. In Jordaniens Black September 1970-71 sterben fast 25.000 aufständische Palästinenser – fast zweimal so viele wie im Krieg gegen Israel in sechzig Jahren. Im syrischen Hama lässt Assads Vater 1982 ein Stadtviertel mit über 20.000 Menschen regelrecht platt machen, um dort versteckte Muslimbrüder zu vernichten.
Westliche Hoffnungen auf runde Tische in diesen Gebieten für das Herbeiführen von Demokratie und Parlamentarismus übersehen, dass sie vor allem in schrumpfvergreisenden Gebieten wie Georgien, Ukraine und der DDR deshalb Erfolg haben, weil Etablierte und Dissidenten gleichermaßen darauf rechnen können, nach der Reform oben zu schwimmen. In youth bulge-Nationen, deren männliche Bevölkerungen zu dreißig oder mehr Prozent im Alter von 15 bis 29 Jahren stehen, aber kann das Gemetzel noch im Konferenzsaal beginnen, weil auf jedem Sessel drei bis vier Aufständische gleichzeitig Platz nehmen wollen. 

   

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