Er sieht aus wie Sky Dumont, er liebt Aktendetails wie Edmund Stoiber, er trägt schicke Anzüge wie Heiko Maas, er ist beharrlich wie Wolfgang Schäuble und er kann Kompromisse schmieden wie Angela Merkel. Kein Wunder, dass insbesondere die deutsche Politik großes Vertrauen in Michel Barnier hat. Der Franzose ist Brüssels Chefunterhändler für den Brexit und hat die offiziellen Verhandlungen nach giftigen Monaten wechselseitiger Vorwürfe nun betont harmonisch eröffnet. “Ein fairer Deal ist möglich und weit besser als kein Deal”, sagte der Franzose nach einem sehr demonstrativen Dauer-Handschüttler mit seinem britischen Kontrahenten und Brexit-Minister David Davis. Sätze wie “Uns verbindet mehr als uns trennt” oder “Die EU wird in den Gesprächen niemals gegen Großbritannien arbeiten” prägten den Schmuse-Auftakt der Scheidungsgespräche.
Barnier gilt als gute Wahl für den heiklen Job – er ist ein hocherfahrener Politprofi, mehrfacher französischer Minister und Ex-EU-Kommissar. Der Vertrag von Amsterdam, der Vertrag von Nizza – der 66 Jahre alte Franzose war überall bis in die Nachtsitzungen dabei und kennt jedes Detail europäischer Staatsverträge. Seinen Verhandlungspartner Davis kennt er schon seit 1995, als sich beide in einer Reflexionsgruppe als Europa-Staatssekretäre gegenübersaßen.
Barnier ist ein konzilianter Mann und geschickter Verhandler, lange genug im politischen Geschäft, um zu wissen, dass gute Kompromisse besser sind als schlechte Maximalforderungen. Er sagt: “Ich möchte eine Einigung erreichen, bei der beide Seiten gewinnen.” Diplomaten in Brüssel unken nun, er strebe den “weichsten Brexit” an und er habe – was vor Wochen noch kaum denkbar schien – gute Chancen, den auch durchzusetzen.
Auf seinem Schreibtisch steht eine Tasse, ausgerechnet mit der Aufschrift “Keep calm and carry on”. Mit diesem Slogan rief die britische Regierung ihre Landsleute im Zweiten Weltkrieg zur Gelassenheit auf. Barnier hat derzeit die britische Gelassenheitstugend für sich gepachtet. Während London nervös, zielunsicher und politisch geschwächt in die Verhandlungen geht, hat Barnier sich perfekt vorbereitet und die Verhandlungspositionen aller 27 EU-Mitgliedstaaten bereits orchestriert. Dabei hilft ihm, dass er Angela Merkel schon aus jener Zeit kennt, als beide Umweltminister ihrer Länder waren. Der Kontakt ist nie abgebrochen; nun stimmen sie sich genau und – wie man hört – sehr vertrauensvoll ab.
Als Hinterwäldler unterschätzt
Doch Barnier hat seine Hausaufgaben selbst in den hintersten Winkeln der Euro-Provinz gemacht und ist umhergereist bis auf die nördlichen Wiesen Irlands, um sich von den dortigen Bauern erklären zu lassen, was die neue EU-Außengrenze für den kleinen Milch-Grenzverkehr bedeuten würde.
“Der Weg ist lang und steil”, sagt er, “aber ich komme aus den Bergen und bin ein trittsicherer Wanderer.” Tatsächlich kommt Barnier aus den französischen Alpen, weswegen er in seiner politischen Karriere mehrfach als Hinterwäldler unterschätzt wurde. Als Regionalpräsident der Savoyen holte er – nach anfänglichem Spott – dank großer Beharrlichkeit die Olympischen Winterspiele 1992 in seine Heimat.
Als EU-Binnenmarktkommissar wurde er belächelt, weil er nie ohne eine Mappe auftrat, die den genauen Stand seiner Gesetzesinitiativen im Brüsseler Institutionsgeflecht auflistete. Doch die Kritiker verstummten, als er ein Gesetz nach dem anderen aus seiner Mappe Realität werden ließ – insgesamt 41 Gesetzesprojekte hat Barnier als Kommissar umgesetzt. So profilierte er sich als Bankenregulierer und entwarf den Plan für die gemeinsame Bankenaufsicht.
Während einige ihn als typischen Eurokraten und mäßigen Redner darstellen, ist er bei Londons Bankern geradezu gefürchtet. Die mächtige “City of London” nervte Barnier nicht nur mit neuer Bankenaufsicht, sondern auch mit einem Vorstoß, Bonus-Zahlungen für Manager zu deckeln oder ein EU-Sparbuch einzuführen. Doch als der britische Europaabgeordnete Syed Kamall ihn in einem Leserbrief in der “Financial Times” kritisierte, rief Barnier ihn umgehend an und suchte das versöhnende Gespräch. “Ich kann mir nur wenig andere vorstellen, die ich so gerne am Verhandlungstisch sehen würde”, sagt Brexit-Befürworter Kamall heute. Er lobt ihn als “menschlich, pragmatisch und erfahren”.
Persönliche Konzilianz als Trumpf
Tatsächlich ist seine persönliche Konzilianz ein Trumpf in den schwierigen Verhandlungen. Er gilt als guter Zuhörer, ist offen für Argumente, kennt das Geben und Nehmen und ist lernfähig. So hat der Vater von drei erwachsenen Kindern im Alter von 60 Jahren noch einmal begonnen, sein Englisch aufzubessern. Das wird er nun brauchen.
Barnier hilft bei alledem, dass er weniger eitel ist als viele Kollegen, dass er als Handwerkersohn bodenständig geblieben ist. So bodenständig, dass er in seinem Wochenendhaus in der zentralfranzösischen Sologne ein besonderes Sonntagsritual pflegt. Der Zeitung “La Croix” erzählte er, dass er dort mit seinen Kindern Nicolas, Benjamin und Laetitia gepflegt faulenze, aber doch regelmäßig zu einer ganz bestimmten Eiche jogge. “Sie ist gewaltig und steht seit 1600 da, also seit den Zeiten Heinrichs IV. Man nennt die Eiche ‘die Dame’. Sie ist mein Lauf-Ziel, damit ich ihren mächtigen Stamm berühren kann.” Das Berühren der Eiche mache ihn demütig und ruhig. Diese Eiche habe Generationen kommen und gehen sehen und so etwas relativere jede tagespolitische Aufregung. “Bäume lehren uns Bescheidenheit und Gelassenheit.”
Die Grundruhe des Eichenflüsterers wird er nun brauchen. Damit könnte Barnier das Kunststück gelingen, die Briten auch nach der Trennung als ein Teil des europäischen Binnenmarkts zu binden und die Scheidungskosten auf beiden Seiten möglichst niedrig zu halten. “Er ist prädestiniert, als weicher Brexitmacher in die Geschichte einzugehen”, prophezeien manche in Brüssel bereits. “Mein Ziel ist ein fairer Deal”, sagt Barnier bescheiden. Offenbar hat er die Eiche mal wieder gestreichelt.
Dieser Beitrag erschien zuerst hier auf The European