Von Elisa Brandt
Die Liebe zum Gärtnern verbindet mich mit einem der größten Denker unserer – ach was – aller Zeit(en): Jacob Augstein „Die Tage des Gärtners“. Und ebenso wie bei diesem fördert die kontemplativ-gestalterische Beschäftigung mit dem sprießenden Grünen und Bunten die Entwicklung tiefschürfender Gedanken….
Schnecken. Oder: Alles nur Zufall
Der bisherige regensatte Sommer zwingt mich täglich in den Garten, um Heerscharen von Grenzen missachtender Nacktschnecken davon abzuhalten, in geordnet-zielstrebig scheinenden, doch tatsächlich nur durch die schiere Anzahl und den nagenden Hunger getriebenen Angriffswellen von allen Seiten auf meinen kleinen Garten zuzubranden, um in nächtlichen Fress- und Vernichtungsorgien meinen sorgsam gepflegten Gartenglück den Garaus zu machen.
Kalt lächelnd könnte ich nun als Mitglied (Mitgliedin?) einer technologisch überlegenen Spezies zur Chemiewaffe greifen, Schneckenkorn rund um das Ziel der gegnerischen Begierden verteilen und am nächsten Tag mit Genugtuung dabei zuschauen, wie Schneckenleiber sich ausschleimen und einem grausamen, aber wohlverdienten Tod entgegen winden. Jedoch: „Halt!“, ruft eine innere Stimme. „Es sind doch SCHNECKEN!!“ Ist nicht jede einzelne Schnecke ein Geschöpf der Evolution (für Dawkins-Anhänger) oder Gottes (für Gläubige), geradeso wie Du und ich?
Womöglich hat sie zu Hause kleine hilflose Schneckeneier zurücklassen müssen, die nun ohne allen Schutz einer übelwollenden Umwelt ausgesetzt sind! Was mag in ihr vorgegangen sein, als sie verzweifelt auszog, um ihren nagenden Hunger in einer Welt des grünen, sprießenden Überflusses zu stillen? Hat sie daran gedacht, dass es bloß ein blinder und böser Zufall war, der sie als Schnecke zur Welt hat kommen lassen? Und wie ungerecht dies ist? „Und ich?“ überlege ich. Was hatte ich schon dazu beigetragen, dass ich als zukünftige Gartenbesitzerin geboren wurde, obwohl ich doch nach den blinden Gesetzen des Zufalls ebenso gut als zukünftige sechste Bundestagsvizepräsidentin oder eben als Nacktschnecke hätte zur Welt kommen können?
Durch solche Gedanken zur Milde verführt, bleibt mir nur, die nach vielen Regengüssen und Unmassen einverleibter und verstoffwechselter Blüten, Blumen- und Gemüseblätter inzwischen gar nicht mehr kleinen, sondern bis zu 8 oder 10 Zentimeter langen Schnecken einzusammeln. Ich denke wieder an den unverdienten Geburtszufall und befördere die inzwischen 20 bis 30 braunen Wegschnecken lebend und unversehrt zum Brachgelände hinter dem Haus, in der Hoffnung, dass die dortigen Lebensperspektiven für Schnecken ausreichend attraktiv sind, um sie ihr Glück machen zu lassen. Oder aber dass zumindest die Entfernung zu meinem Garten zu groß ist, um sie vor dem Ende der Regenperiode überwinden zu können!
Kultur und Unkultur
Nach der Schneckensammel- und Rückführungsaktion widme ich mich meinen Rosen. Sie blühen wunderschön und üppig. Doch bemerke ich bald, dass an beinahe allen Rosen direkt aus dem Boden starke und wuchskräftige Triebe sprießen, die jedoch keinerlei Anzeichen von Knospen zeigen. „Wildreiser“, denke ich, „sofort entfernen!“. Doch dann sinniere ich, wie es dazu kommt, dass aus gleicher Wurzel ebenso nutzlose Wildreiser wie Edeltriebe wachsen, die schöne Blüten hervorbringen. Nein, kommt mir in den Sinn, es ist ja gar nicht dieselbe Wurzel! Die blütentragenden Edeltriebe sind aufgepfropft, während die Wildreiser direkt der Ursprungswurzel entstammen.
Ein Gedankenblitz schießt mir durch den Kopf: Was für ein grandioses Gleichnis! Wie passend in der heutigen Zeit! Wie dankbar können wir sein, dass Schönheit, Farbe, Eleganz, Stil – kurz: Kultur – auf unsere zwar tüchtige und fleißige, doch vollkommen kulturlose Urwurzel aufgepfropft wurde! Doch statt dass diese sich nun still bescheidet, in der Erde werkelt und die lebensnotwendigen Nährstoffe zusammensammelt, um diese an die wunderschönen, bunten und fröhlichen Edelreiser weiterzuleiten, erhebt die fleißige, gut organisierte, sekundärtugendbehaftete Urwurzel ihr Haupt, um im blinden Hass auf alles Fremdstämmige dieses auszugrenzen, zurückzudrängen, ja zu vernichten! Wie unendlich bösartig, wie voller Hass und Hetze diese Urwurzel doch ist!
Und das Perfide an ihr: Ich kann sie nicht einfach ausgegraben und auf den Komposthaufen der Geschichte werfen, wo sie ja eigentlich hingehörte. Denn die Edelreiser, die so selbstlos ihre Schönheit zu ihr gebracht haben, können ihre kostbare Zeit ja selbstredend nicht mit dem schnöden Nährstoffsammeln verplempern. Immerhin aber kann ich im heldenhaften Kampf gegen die der Urwurzel entspringenden (un)rechten Reiser diese abschneiden, besser: ausreißen und sie kleingehackt dem Kompost übergeben! Also, gedacht – getan! Wildreis für Wildreis ereilt das gerechte Schicksal. Nach harter, doch beglückender, weil notwendiger Arbeit fällt mir auf: Merkwürdig, die Wildreiser hatten, ganz anders als die Edeltriebe, gar keine Dornen…?
Ausgrenzendes Farbkonzept
Mein Blick wendet sich nun dem Staudenbeet zu. Da ich unter den Geschöpfen der Botanik so viele Lieblinge habe (Hortensien, syrischen Eibisch, Clematis, Sommerflieder, Phlox, Astern, Storchschnabel, Herbstanemone und und…), habe ich alle diese Lieblinge in ein und demselben Staudenbeet versammelt. Weil ich jedoch bei der Anlage des Beetes seinerzeit (ihrerzeit?) noch gar keinen Augstein gelesen hatte, unterlag ich in meiner Spießigkeit der Vorstellung, ich könnte das überbordend bunte Chaos durch ein Farbkonzept bannen. Es kann doch kein Zufall sein, denke ich, dass ich die kalten Farben des Spektrums von Weiß (!), Lila und Blau (!) bevorzuge. Daran muss meine norddeutsche Herkunft mit all ihren Implikationen Schuld sein.
Und wie schäme ich mich jetzt, dass ich dummes und blondes, damals noch vollkommen genderunbewusstes Weibchen, auch noch Rosa und Pink geliebt habe! Die wunderbar warmen und lebensfrohen Farben von Gelb über Orange bis zum klaren Rot habe ich aus dem Staudenbeet verbannt und ausgegrenzt. Nur die alte, orangeblühende Taglilie ließ ich unangetastet weiterwachsen, so dass diese nun den einzigen nichtkalten Farbklecks setzt. „Warum nur?“ überlege ich. War es die Scheu, ein Geschöpf, das schon länger in diesem Garten lebte als ich, zu verdrängen?
Anders als Augstein finde ich jedoch nicht auf alle Fragen eine Antwort. Meine Blicke wenden sich daher den gelbblühenden Wedeln der Goldrute zu. Diese ist erst seit kurzem zugewandert, breitet sich aber in exponentiellem Wachstum überall aus. Als (Blumen-)Mutter bricht mir das Herz, dabei zuzusehen, wie sie meine eigenhändig gesetzten Pflanzenkinder überwuchert. Bevor mich jedoch der Zwiespalt zwischen archaischer und unreflektierter Mutterliebe und dem hochgeistig-moralischen Anspruch der Neubürger-Liebe innerlich zerreißt, fällt mir zum Glück eine pragmatisch-clevere Lösung ein: Ich reiße die Goldruten einfach nach Anbruch der Dunkelheit aus – dann kann der Gott der Botanik es nicht sehen!
Zum Abschluss der heutigen Gartenbetrachtungen kommt mir in den Sinn: Was für merkwürdige Gedanken man beim Gärtnern doch entwickeln kann! Diese Erkenntnis immerhin unterscheidet Augstein und mich.
Elisa Brandt ist Historikerin und lebt in Berlin.