Vera Lengsfeld / 04.06.2016 / 14:00 / 0 / Seite ausdrucken

Besichtigung eines Bürgerkrieges (4): Sarajevo

Als wir Sarajevo erreichten, ging gerade die Sonne unter. Die Stadt wirkte wie von Blut übergossen. Wir kamen aus den Bergen des Dinarischen Gebirges, die während des Krieges von den Serben besetzt waren. Hier standen die Geschütze, mit denen die Stadt über 1425 Tage beschossen wurde, mit durchschnittlich 320 Treffern. Am 22. Juli 1993 waren es sogar 3777. Die Belagerung dauerte länger als die von Leningrad im Zweiten Weltkrieg. Europa schaute drei endlos lange Jahre an den Bildschirmen zu.

Der Belagerungsring war nur am Flugplatz unterbrochen. Hier saß die UNPROFOR. Flugzeuge konnten lediglich mit Erlaubnis beider Seiten starten und landen. Am Flugplatz war das Gebiet des freien Bosnien am nächsten. Hier verlief die Lebensader, mit der die Stadt versorgt wurde. Als die Serben begannen, den Ring zu schließen, wurde ein 900 m langer Tunnel unter der Flughafenpiste bis ins freie Bosnien gebaut. Mit seiner Hilfe konnten Soldaten verlegt, Waffen und Versorgungsgüter transportiert und Verwundete aus der Stadt gebracht werden. Er war aber auch eine Route für Schmuggler. Wer bezahlen konnte, brachte begehrte Güter, wie Zigaretten, in die Stadt.

Ein Tunnel unter dem Flughafen als Lebensader

Heute sind die begehbaren Reste des Tunnels eine begehrte Touristenattraktion. Man wird von ehemaligen Kämpfern geführt und kann sich  in der drangvollen Enge des nur 1.60m hohen Gangs ein bisschen gruseln. Wirklich eindrücklich dagegen ist der Tunnelfilm, der Bilder von Sarajevo unter Beschuss zeigt.

Es wurde nicht nur von den Bergen geschossen, sondern auch von den von Serben besetzten Hochhäusern. Die Frontlinie verlief zum Teil dicht am Stadtzentrum. Die Uferstraße, mit einem eindrucksvollen Bestand alter Linden, wurde während der Belagerung zur Sniper-Allee. Am andern Ufer saßen die serbischen Scharfschützen auf den Dächern und zielten auf alles, was sich auf der Straße bewegte. Unser Stadtführer Adnan hatte sich als Soldat wochenlang in einem Haus auf der bosnischen Seite verschanzt, um die Versuche der Serben, den Fluss zu überqueren, zu vereiteln. Die Munition war so knapp, dass er über jeden Schuss Rechenschaft ablegen musste.

Sarajevos traurige Berühmtheit rührt daher, dass in der Stadt durch das Attentat von Gavrilo Princip auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie der Erste Weltkrieg ausgelöst und sie am Ende des Jahrhunderts zum Schauplatz des letzten europäischen Krieges wurde. Princip und seine Gruppe „Junges Bosnien“ träumten von einem vereinten Jugoslawien, das entstehen sollte, nachdem die österreichische Herrschaft abgeschüttelt war.

Er erlebte die Erfüllung seines Traumes nicht. Weil er nach österreichischem Gesetz zu jung für ein Todesurteil war, wurde er zu zwanzig Jahren Festungshaft verurteilt, die er in Theresienstadt, später als Vorzeige- KZ der Nazis berüchtigt geworden, absitzen sollte. Er starb allerdings schon 1918 an Tuberkulose.

Wieder ein hinterhältiger Mord als Kriegsauslöser

Am Ende Jugoslawiens war wieder ein hinterhältiger Mord der Auslöser des Bosnienkrieges. Am 5. April 1992, erschossen  Heckenschützen vom Hotel Holiday Inn aus zwei Teilnehmerinnen einer Demonstration auf der Vrbanja-Brücke. Das Hotel war zu diesem Zeitpunkt das Hauptquartier von Radovan Karadžićs Serbischer Demokratischer Partei. Als die bosnische Polizei mehrere im Hotel befindliche bewaffnete Serben festnahm, stürmten serbische Paramilitärs die Polizeiakademie der Stadt, nahmen mehrere Geiseln und erzwangen die Freilassung der mutmaßlichen Täter.

Die folgenden Scharmützel wurden sehr schnell zu regelrechten Kriegshandlungen, die immer brutaler wurden und immer mehr Opfer forderten. Ein blutiger Höhepunkt waren die Monate Mai, Juni, Juli, August 1992, wo es monatlich tausende Opfer gab. Spätestens damals hätte die internationale Gemeinschaft eingreifen müssen, meint unser Gesprächspartner Mirsad Tokača, der ehemalige Leiter der Kommission für Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina. Aber Europa schaute lieber zu.

Tokača hat es sich zur Aufgabe gemacht, Fakten über den Bosnienkrieg zusammenzutragen, die er den Mythen über diesen Krieg entgegenstellen will. Er hat unter anderem herausgefunden, dass 81 Prozent der Opfer Bosnien waren, 11 Prozent Serben, 8 Prozent Kroaten und 1 Prozent andere Enthnien. Kein Wunder, dass dieser Krieg für die Bosniaken ein Trauma ist, das selbst die Gräuel des Zweiten Weltkrieges in den Hintergrund treten lässt.

In Sarajevo, das sich stolz der „Treffpunkt der Kulturen“ nennt, kommt man innerhalb von fünf Gehminuten an einer katholischen und einer orthodoxen Kirche, einer Synagoge und einer Moschee vorbei. Es ist eine vibrierende Stadt. Nur hat sich ihre Einwohnerstruktur grundlegend geändert. Lebten vor dem Krieg hier noch 43 Prozent  Serben, sind es heute über 80 Prozent Bosniaken. Die verbliebenen Serben haben sich in den Stadtteil zurückgezogen, der zur Republik Srbska gehört. Dort sollte sich ein Bosniake oder ein Kroate besser nicht sehen lassen, wurde uns von mehreren Gesprächspartnern gesagt.

 Schlendert man durch die Straßen der Altstadt oder am Fluss entlang, trifft man immer wieder auf Überbleibsel des Krieges. Wenn auf dem Gehsteig oder der Straße rotumrandete Löcher auftauchen, handelt es sich um Sarajevo- Rosen. Hier wurden von den Einschlägen mehrere Menschen getötet. Neben dem Eingang eines chicen Modegeschäftes hängt eine Tafel, die daran erinnert, dass an dieser Stelle acht Menschen von einer Artillerie- Granate getroffen wurden. In einer Parkanlage steht das Denkmal für die während der Belagerung ermordeten bosniakischen Kinder. Es gab eine Diskussion, ob man es nicht auch den umgekommenen serbischen Kindern widmen sollte- das wurde mehrheitlich abgelehnt. Wenige Meter entfernt steht die Statue eines rufenden Mannes auf dem Rasen. Ein Vater aus Srebrenica hatte seinem Sohn, der sich im Wald vor den Serben versteckte, zugerufen, er solle sich ergeben. Später wurden beide nebeneinander in einem Massengrab gefunden.

Souvenirs aus Geschosshülsen

Die prächtige Bibliothek, die als erstes Gebäude der Stadt restlos zerstört wurde, steht wieder da, als wäre sie nie weg gewesen. Aber im Eingangsbereich hängen Bilder, die ihre Zerstörung zeigen. Weltberühmt wurde das Bild eines Cellisten, der im Innenhof der Ruine ein Konzert gibt. Neben der Fußgängerzone ist eine Galerie, in der man zu jeder Stunde einen Film über das belagerte Sarajevo sehen kann. Gleichzeitig wird eine Ausstellung über Srebrenica gezeigt.

Den Touristen, die wieder zahlreich kommen, werden Souvenirs angeboten, die aus den Hülsen der Geschosse hergestellt sind, die auf die Stadt herabregneten. Kugelschreiber, Schlüsselanhänger, Autos, Flugzeuge, Panzer aus Gewehrpatronenhülsen, Vasen aus größeren Geschosshülsen. Puristen können auch unbearbeitete Hülsen erwerben. Je nach Geschmack kann man finden, solche Erzeugnisse seien eine erfolgreiche Umwandlung von Kriegsmaterial für friedliche Zwecke oder Ausdruck des tiefen Traumas der Bosniaken.

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