Vera Lengsfeld / 13.05.2016 / 06:20 / Foto: Bundesarchiv / 1 / Seite ausdrucken

16 Tage einer Diktatur im Pausenmodus

Der Siedler- Verlag hat für die Präsentation von "Berlin 1936: Sechzehn Tage im August" seines Erfolgsautors Oliver Hilmes keine Kosten gescheut. Er mietete die Probebühne des Berliner Ensembles, verpflichtete den frisch als Schauspieler des Jahres gekürten Samuel Finzi und gewann Luzia Braun als Gesprächspartnerin des Autors.

Diese hochkarätige Besetzung verfehlte ihre Wirkung nicht. Jeder Platz war belegt. Es war nicht das normale Theaterpublikum, sondern die Kulturschickeria, die sich eingefunden hatte. Es wurde ein sehr interessanter, kurzweiliger Abend. Luzia Braun, der man ihre Begeisterung für das Buch anmerkte, gelang es von der ersten Frage an, das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Oliver Hilmes antwortete punktgenau und witzig.

In den Gesprächspausen las Samuel Finzi Ausschnitte aus dem Buch. Es wurde ihm nicht leicht gemacht. Erst wurde einer Dame in der zweiten Reihe schlecht wegen der stickigen Luft, dann wurden die Fenster geöffnet und wieder geschlossen, ein Handy piepte, das Mikrophon gab Nebengeräusche von sich, ein Theatermitarbeiter latschte hörbar am Podium vorbei. Finzi meisterte alle Widrigkeiten mit Routine und viel Charme. Am Ende hatte man das Gefühl, der Abend wäre ohne diese Störungen weniger spannend gewesen.

Doch „Berlin 1936“ hätte auch bei reibungslosem Ablauf die Zuhörer gefesselt. Hilmes ist etwas Außergewöhnliches gelungen. Er schildert 16 Tage einer „Diktatur im Pausenmodus“.

Im Berlin der Olympischen Spiele sind die „Stürmerkästen“, in denen  die Nazipropagandazeitung aushing, einer davon hatte auch vor dem Theater am Schiffbauerdamm gestanden, abgebaut oder umfunktioniert. Die „Juden verboten“- Schilder waren aus dem Stadtbild verschwunden. Berlin ist die europäische Hauptstadt des Swing. Die angesagten Bars der Stadt gehören noch ihren jüdischen Besitzern, die Restaurants, in denen  die Politprominenz speist, sind in ägyptischer Hand.

Noch wird für Transvestiten ihr „Transvestitenschein“ aus der Weimarer Zeit verlängert, wenn sie nachweisen können, dass sie heterosexuell sind. Ausländische Gäste der Olympischen Spiele werden nach Strich und Faden verwöhnt. Einige, die dem Diktator nahe genug kommen, schwärmen von seinem Charme oder seinen „gütigen Augen“. Die Hauptstadt Nazideutschlands präsentiert sich entspannt und weltoffen. Eine Karte des „schönen Deutschland“, die gerade in Prag publiziert wurde und auf der erstaunlich genau die KZ und Foltergefängnisse der Nazis verzeichnet sind, stört die Atmosphäre nicht.

Im Vorfeld hatten die Amerikaner mit dem  Boykott der Spiele gedroht, wenn die Deutschen daran festhielten, jüdische Sportler nicht in ihrer Mannschaft zuzulassen. Hitler pokert hoch und gewinnt. Kurz vor dem fälligen Boykott macht Avery Brundage, der spätere IOC- Präsident, den Vorschlag, Deutschland solle doch wenigstens einen jüdischen Sportler aufnehmen. So kam die Fechterin Helene Mayer als Alibi in die Mannschaft und Brundage hatte für Hitler die Spiele gerettet.

Der Diktator nutzte die Gelegenheit, die sich ihm bot, maximal. Er beauftragte Leni Riefenstahl damit, die Spiele zu verfilmen. Riefenstahl nutzte diesen Auftrag um Filmgeschichte zu schreiben. Zwar waren die Dreharbeiten ein Ärgernis, oft sogar Hindernis, für Sportler und Zuschauer, die entstandenen Bilder sind allerdings atemberaubend. Riefenstahls Filmkunst trug viel zur Täuschung der Weltöffentlichkeit über den wahren Charakter der Nazidiktatur bei.

Auch ohne Riefenstahl gab es jede Menge Fehleinschätzungen derer, die dabei gewesen waren. Jesse Owens, vierfacher Goldmedaillengewinner und Publikumsliebling in Berlin, war vor den Spielen skeptisch bis ablehnend gegenüber Hitlerdeutschland. Als er nach den Spielen zurück in die USA kam, in einem Nobelhotel, in dem er für seine Erfolge vom Präsidenten geehrt werden sollte, den Lastenaufzug nehmen musste, weil der Hotellift für Schwarze nicht zugelassen war, reagierte der verärgerte Owens mit der Bemerkung, in Deutschland sei er nicht so diskriminiert worden, wie in den USA.

Die Nachgeborenen, die das Ende kennen, sind immer klüger als die Zeitgenossen, die ihre Welt nur ausschnittsweise wahrnehmen. Ich erlebte an manchen Reaktionen der Sitznachbarn, wie schwer es fällt, die Haltung unserer Vorfahren zu verstehen. Wie konnte man nur auf den Gedanken kommen, wie die Amerikanerin Karla de Vries, Hitler spontan zu küssen, statt ihn zu ermorden, wenn es ihr schon gelungen war, im Olympiastadium dem Diktator nahe genug zu kommen, lauteten empörte Kommentare. Nun, 1936 hatte die „Endlösung der Judenfrage“ noch lange nicht begonnen, Sachsenhausen war erst im Aufbau, ein neuer Krieg schien undenkbar.

Wer weiß denn heute, wie die Christen in unseren Asylbewerberunterkünften von manchen Mitbewohnern drangsaliert werden, obwohl sich diese Einrichtungen mitten in unseren Städten befinden? Wer nimmt das Ausmaß des mit einem Teil der Einwanderer importierten Antisemitismus wahr, obwohl der sogar öffentlich auf unseren Straßen demonstriert wird?

Oliver Hilmes Buch vermittelt ein differenziertes Bild der Geschichte. Er hat akribisch Zeitungsberichte, Polizeiakten, Tagebücher, Briefe, Gesprächsprotokolle, Wetterberichte, Memoiren studiert. Das Buch liest sich, als wäre Hilmes dabei gewesen, nicht nur bei den prominenten Akteuren, sondern bei den Unbekannten. Hilmes begleitet Mascha Kaleko aufs Postamt, wo sie die Briefe ihres Geliebten abholt, er ist bei Görings opulenter Sommerparty dabei, aber auch in der Wohnung der Transvestitin Tony, im Augenblick ihres Todes, im Olympiastadium, wenn Riefenstahl von Nazigegnern ausgebuht wird “Leni buh, alte Kuh“. Hilmes lässt uns in ein untergegangenes Berlin eintauchen und er schafft beim Leser das Gefühl, es mitzuerleben.

"Berlin 1936: Sechzehn Tage im August"

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Jochen Stollberg / 13.05.2016

Schön, daß es das 32 Jahre nach der Inszenierung eines “Skandals” um Philipp Jenniger gibt. Inzwischen hat die Empörungsmaschine andere Themen und andere Opfer gefunden.

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