Nachdem Hillary Clinton 2008 schon in den Vorwahlen gegen Barack Obama, den aufsteigenden Star der Demokratischen Partei, verloren hatte, war sie überzeugt, dass dies nicht etwa am aussergewöhnlichen Kandidaten gelegen hatte, noch an ihr – sondern sie glaubte, ein paar ihrer eigenen Leute hätten sie verraten: zu viel mit den Medien gesprochen, zu viel untereinander gekämpft, zu viel Chaos, zu wenig Loyalität. Also trug sie einem ihrer (letzten) Vertrauten auf, heimlich alle E-Mails ihrer Angestellten vom Server der eigenen Kampagne herunterzuladen, damit sie diese überprüfen konnte. Stunden-, nein tagelang, so muss man sich das vorstellen, sass Hillary Clinton nun da und las persönliche und vertrauliche E-Mails auf der Suche nach Verrat.
Sie dürfte nichts gefunden haben. Darüber hinaus wies sie ihre Leute an, alle Demokraten, die im Kongress sassen, gemäss dem Kriterium, inwiefern sie Hillary Clinton unterstützt hatten, zu bewerten. Dafür wurde eine Art Notensystem von 1 bis 7 angewandt, wobei 1 «loyal» bedeutete, während die 7 für «verräterisch» stand.
Wann immer nachher einer dieser «Siebener» eine Kampagne zu führen hatte, sah er sich mit Bill Clinton konfrontiert, der als beliebter Ex-Präsident in den Wahlkampf eingriff, um den angeblichen Verräter der Clintons zu vernichten – was oft gelang. Ebenso las und untersuchte Hillary Clinton jene Rede, mit welcher Obama einst seine Kandidatur angekündigt hatte, so oft vermutlich, bis sie diese im Schlaf hätte aufsagen können – um ihre nächste Rede zu verbessern, weil sie die eigene, die sie gehalten hatte, als zu wenig gut empfand.
Ziel war es, alles perfekt vorzubereiten, damit der nächste Versuch von Hillary Clinton, Präsidentin zu werden, nicht von Neuem scheiterte. Wie wir heute wissen, half alles nicht. Völlig überraschend wurde im vergangenen November Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Vielleicht nie in der Geschichte der amerikanischen Politik traf diese Niederlage eine Verliererin so unvorbereitet.
Aus dem innersten Kreis Hillary Clintons
In einem Buch, das dieser Tage in den USA erscheint, haben die beiden linksliberalen Journalisten Jonathan Allen und Amie Parnes die zweite, missglückte Kampagne von Hillary Clinton in allen Details beschrieben – oft etwas widerwillig, dann und wann verstört, immer ehrlich und präzis berichten sie über eine Kandidatin, an die sie selber geglaubt haben: "Shattered: Inside Hillary Clinton’s Doomed Campaign" (Zertrümmert: Im Innern von Hillary Clintons dem Untergang geweihter Kampagne). Weil sie ihren Gesprächspartnern – es sollen mehr als hundert gewesen sein – Anonymität zugesichert haben, weiss man zwar nicht, wer was gesagt hat, aber die Einblicke, die man erhält, sind erstaunlich – zumal man davon ausgehen kann, dass sie mit den engsten Mitarbeitern von Clinton geredet haben, ja sehr wahrscheinlich auch mit ihr selbst.
Gegner von Clinton stehen nicht im Vordergrund, sondern es sind ihre Freunde, die Auskunft geben. Hinzu kommt, und das macht das Buch so atemberaubend: Die beiden Journalisten haben die Kampagne von Beginn weg, also gut anderthalb Jahre lang, begleitet, in der Meinung, nachher den Triumphzug von Clinton zu verewigen – die sie damals für eine gesetzte Kandidatin hielten. Schliesslich garantierten sie den Gewährsleuten nicht nur Anonymität, sondern versprachen auch, das Buch erst dann zu veröffentlichen, wenn alles vorbei war, mit anderen Worten, wenn Hillary Clinton, wie manche das erwarteten, als erste Präsidentin der USA vereidigt worden wäre.
Ich habe Auszüge des Buches gelesen – und wer sich noch heute fragt, warum Clinton es nicht geschafft hat, der kann all jene bizarren Geschichten vergessen, mit denen sich die demoralisierten Anhänger von Clinton zu trösten pflegen: Weder die Russen, noch FBI-Chef James Comey, noch Wikileaks oder andere Verschwörer, von denen man nichts weiss, haben Clinton zerstört, sondern nur eine Person: Und das ist sie selber.
Ihre Kampagne war desorganisiert und chaotisch, die Machtkämpfe, die sie dieses Mal unterbinden wollte – sie fanden noch heftiger statt, unter anderem weil Clinton offensichtlich eine fast paranoide Persönlichkeitsstruktur aufweist. Niemandem traute sie, sodass faktisch nur ihre enge Mitarbeiterin Huma Abedin Zugang zu ihr hatte, was enorm viele Missverständnisse auslöste. Wer etwas von Clinton wissen wollte, wer einen Entscheid von ihr brauchte, musste stets über Abedin gehen, die dann die Kandidatin fragte und meldete, was dieser genehm war. Als Clintons Kommunikationschefin Jennifer Palmieri ihre Chefin endlich dazu gebracht hatte, ein Interview zu geben, war zu klären, mit wem?
Ein Missverständnis wird zum Desaster
Weil Palmieri – immerhin ihre Sprecherin – Clinton anscheinend nicht einfach direkt anrufen konnte, fragte sie Abedin – diese erkundigte sich bei Clinton und brachte den Namen der gewünschten Interviewerin zurück: «Mit Brianna» hiess es, also nahm Palmieri an, sie meinte Brianna Keilar von CNN und arrangierte das Interview. Es kam nicht so heraus wie geplant. Keilar stellte sich als kritische, ja aus der Sicht von Clinton unverschämte Befragerin heraus: «Würden Sie jemanden wählen, dem Sie misstrauten?», fragte Keilar etwa, was Clinton aus der Fassung brachte: «Sie starrte sie mit Messern in den Augen an», erzählt eine Mitarbeiterin der Clinton-Kampagne. Das Interview galt als Desaster.
Was war schiefgelaufen? Es war die falsche Interviewerin! Clinton hatte an Bianna Golodryga von Yahoo! News gedacht, eine durchaus angesehene Journalistin, die aber praktischerweise mit einem langjährigen Vertrauten der Clintons verheiratet ist.
Je länger man sich in dieses Besuch vertieft, desto mehr erhält man den Eindruck, dass die Amerikaner vielleicht doch die klügsten Wähler der Welt sind. Denn irgendwie haben sie es richtig gespürt: Etwas stimmte nicht. Es sind zwei Dinge, die mich am meisten erschüttert haben. Erstens die Medien. Denn während wir fast jeden Tag darüber lasen, wie zerrüttet und unprofessionell die Kampagne von Trump angeblich sein sollte, erfuhren wir praktisch nichts vom organisierten Wahnsinn im Clinton-Lager. Was hier gestritten, entlassen, intrigiert, versagt, verbockt, übersehen und vertuscht wurde: Es ist ein Stoff für einen Roman, den kein Journalist für berichtenswert hielt.
Wenn man Allen und Parnes liest, wird deutlich, wie viel wohl zu recherchieren gewesen wäre, denn sie selber erfuhren ja alles: So viele Mitarbeiter von Clinton waren geradezu depressiv, weil sie erlebten, wie spektakulär ihre Kandidatin versagte. Wenn jemand den nahenden Untergang kommen sah, dann sie, und sie sagten es auch – aber keine Zeitung, kein Fernsehen, kein Journalist kam dieser internen Verzweiflung auf die Spur.
Eine Rede wie ein Referat einer erschöpften Professorin
Vielleicht noch bestürzender ist zweitens die Tatsache, dass ihre engsten Mitarbeiter selber nie wussten, warum Clinton überhaupt Präsidentin werden wollte. Als es galt, die Rede vorzubereiten, in welcher sie ihre erneute Kandidatur begründen sollte, sassen am Ende zehn Berater, Redenschreiber und Analytiker zusammen, um an dieser Rede zu arbeiten.
Nichts überforderte sie dabei mehr als die Frage: Warum Hillary? Warum ich? Es fiel ihnen nichts Zwingendes ein, und ihr sowieso nicht. Natürlich kam das nicht gut heraus, und die Rede, die Hillary Clinton in New York hielt, strotzte vor Langeweile wie ein Referat einer erschöpften Professorin, sie wirkte seelenlos wie Plastik.
Die Frage "warum Hillary?" liess ihre Mitarbeiter nie mehr los: "Because it’s her turn", probierten sie später, "weil sie dran ist", und was sie zuerst als Scherz meinten, testeten sie dann ernsthaft mit einer Umfrage, ob der Slogan wohl zöge, und sie merkten nicht einmal, wie sehr sie recht hatten: Clinton wollte Präsidentin werden, weil sie Präsidentin werden wollte.
Dass das nicht reicht, merkten die Amerikaner und wählten Trump, der ihr Land zu retten versprach.
Markus Somm ist Chefredakteur der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag zuerst.