Vera Lengsfeld / 10.03.2017 / 12:28 / Foto: Greg O'Beirne / 6 / Seite ausdrucken

Beim kommunistischen Manifest wachte ich wieder auf

Mit großem Aufwand wird der Film „Der junge Marx“ des Regisseurs Raoul Peck in die Kinos gedrückt. Überall Großplakate mit dem fotogenen August Diehl als Marx. Die Wirkung hält sich in Grenzen, jedenfalls wenn ich von meinem Kinobesuch auf eine Tendenz schließen darf. Außer mir und meiner Freundin saß nur noch ein einsamer Mann im Saal.

Der mit großem materiellen Aufwand gedrehte und reichlich geförderte Film bietet schönes Kostümkino, ein modernes Märchen. Marx sieht gut aus, seine Frau noch besser, schön ist die Geliebte von Engels, der selbst auch ansehnlich ist. Beeindruckend die Wohnungseinrichtung vom Pariser Domizil der Familie Marx, das Sexleben im Marxschen Ehebett beneidenswert. Interessant anzusehen sind die Charakterköpfe der sorgfältig ausgewählten Komparsen und Statisten. Mehr Lobendes weiß ich nicht zu sagen.

Die Marx und Engels lernen sich beim Verleger Ruge kennen und bescheinigen sich fast sofort, „genial“ (Engels zu Marx) oder „kolossal“ (Marx zu Engels) zu sein. Sie gründen aus dem Stand eine Art „Heilige Familie“, in der Frau Marx und die Geliebte von Engels beste feministische Freundinnen sind, was sie in Wirklichkeit nie waren, denn Frau Marx lehnte das Konkubinat von Engels ab. Natürlich haben beide Frauen ihren Männern beste Ideen geliefert, im vollen Bewusstsein dessen, dass sie die Welt aus den Angeln heben werden. Im Film ist Marx ein treusorgender Familienvater, der ununterbrochen betont, seine Familie ernähren zu müssen. In Wirklichkeit war er ein Tyrann, der den Seinen viel zugemutet hat.

Marx und Engels in Ostende am Meer

Es gab eine interessante Szene im Film, als Marx auf den Ökonom und Soziologen Proudhon trifft, den „solidarischen Anarchisten“, der Eigentum für Diebstahl hält. Marx fragt ihn, was es denn dann wäre, wenn man Eigentum stiehlt, Diebstahl des Diebstahls? Abgesehen von diesem Moment waren die Dialoge hölzern und langweilig. Irgendwann konnte ich mich ihrer einschläfernden Wirkung nicht entziehen. Meiner Freundin ging es ähnlich.

Als Marx und Engels in Ostende am Meer über das zu erstellende Kommunistische Manifest diskutierten, wachte ich wieder auf, um noch mitzubekommen, warum das Werk so eine Wirkung entfalten konnte. Die Anfangssätze sind wirklich mitreißend.

Alle problematischen Seiten von Marx und seiner Wirkung wurden vollkommen ausgespart. Als am Anfang seine Zeit bei der „Rheinischen Zeitung“ gezeigt wurde und von der Gründung der „Neuen Rheinischen Zeitung“ die Rede war, hätte ich erwartet, dass irgendwie auf die hasserfüllten antisemitischen Artikel Bezug genommen wird, die Marx damals verfasste. Aber nein. In einer Zeit, wo eifrigst nach antisemitischen Bemerkungen bei Martin Luther oder Johann Sebastian Bach gefahndet wird, bleibt der aggressive Antisemitismus des jungen Marx unerwähnt.

Im Abspann werden dann Bilder gezeigt, die nur wenig mit den praktischen Folgen des Marxismus zu tun haben. Zwar erscheint der Mehrfachmörder Che Guevara, aber als Freiheitsheld, für den er trotz seiner Verbrechen immer noch gehalten wird. Es fehlen Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot, um nur die wichtigsten kommunistischen Massenmörder zu nennen. Eine Auseinandersetzung mit den verheerenden Folgen der marxistischen Gedanken, als sie zur materiellen Gewalt wurden, fand nicht einmal ansatzweise statt.

Der Film ist ein Propaganda-Märchen auf den Niveau von „Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse“ in den wir in der DDR als Schüler gehen mussten. Hoffentlich bleibt den heutigen Schülern „Der junge Marx“ erspart.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Bargel,Heiner / 10.03.2017

Die zweite vernichtende Filmkritik in zwei Tagen: gestern “Bibi und Tina 4” (siehe Fundstücke), heute “Der junge Marx”. Wird denn nur noch propagandistischer Murx von der Filmförderung gesponsert? Was sitzen da für Leute?

Dirk Jäckel / 10.03.2017

Man sollte die Judenverachtung von Marx nicht unabhängigvon anderen Hasstiraden gegenüber ‘reaktionären, rückständigen Völkern’ betrachten. In der Wortwahl waren Marx und Engels nicht zimperlich, wenn es gegen die ‘faulen Mexikaner’ und slawische ‘Restvölker’ ging. Die deutsche ‘Ostkolonisation’ des Mittelalters wurde hingegen von ihnen als einzigartige zivilisatorische Leistung gefeiert. Kurzum: Manche Sätz (wobei sich die Feindbild-Völker wie so vieles im Laude beider Leben änderten) würde man heututage eher bei einem NPD-Stammtisch vermuten.

Frank Dittrich / 10.03.2017

“...Hoffentlich bleibt den heutigen Schülern „Der junge Marx“ erspart.” Wahrscheinlich bald nicht mehr. Geht die links-grüne Gehirnwäsche doch bereits im Vorschulalter mit dem Propagandaschinken “Bibi und Tina - Tohuwabohu Total”, bei dem im Abspann mehr öffentliche Fördereinrichtungen als Schauspieler genannt werden, los…

Ulla Smielowski / 10.03.2017

Ja liebe Frau Lengsfeld, das kann ich gut nachvollziehen… Hier in Hannover gibt es ein Institut Reflex e.V.,  Dr. Gerhard Stamer, dass sich mit gesellschaftlichen Fragen in Sachen Philosophie beschäftigt. Per Online sollte eine Diskussion über Marx Hauptwerk stattfinden. Es fanden sich keine Interessenten. Meine Suche in örtlichen Bibliotheken war zwar erfolgreich, aber es war mir unmöglich sein Werk mit Interesse zu lesen. Inzwischen bin ich der Ansicht, dass viele seinen Namen im Munde führen, aber die wenigsten ihn wirklich gelesen haben…

Hjalmar Kreutzer / 10.03.2017

Alter DDR-Witz: Was ist der Unterschied zwischen Marx und Murx? Marx ist die Theorie.

Leo Anderson / 10.03.2017

Liebe Frau Lengsfeld, machen Sie sich keine Sorgen, DEN Film sieht sich eh niemnd an. Auch an den Schulklassen, die vieleicht hineingezwungen werden, wird er spurlos vorübergehen, während die Kinder im dunklen Kinosaal mit ihren Smartphones spielen. Wenn Sie wissen wollen, was geht, dann sehen Sie sich z. B. “Logan , The Wolverine”  o. dgl. an. Das sitzen Sie nicht zu dritt drin, da werden Sie Mühe haben, einen Platz zu finden.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Vera Lengsfeld / 10.03.2024 / 16:00 / 9

Eine Schulung im Denken

Denken ist ein Menschenrecht, aber wer beherrscht die Kunst des Denkens? Warum ist Propaganda so wirksam und für viele Menschen so schwer zu durchschauen? Volker…/ mehr

Vera Lengsfeld / 04.02.2024 / 15:00 / 20

Die Propaganda-Matrix

Die öffentlich-rechtlichen Medien und die etablierten Medien leiden unter Zuschauer- und Leserschwund, besitzen aber immer noch die Definitionsmacht. Das erleben wir gerade wieder mit einer Propaganda-Welle. …/ mehr

Vera Lengsfeld / 04.11.2023 / 06:15 / 64

Trier – Eine deutsche Stadt mit Einheitsmeinung

Die Stadt Trier reagiert mit Repressionen auf Künstler, die während eines "Festivals für Frieden, Freiheit und Freude" auftreten sollen. Deren Vergehen: Sie haben in der…/ mehr

Vera Lengsfeld / 18.10.2023 / 16:00 / 12

„Man kann mit dem Hintern keine Wellen brechen – mit dem Kopf schon“

Weil Boris Reitschuster darauf bestand, seine journalistische Arbeit am Auftrag des Grundgesetzes auszurichten und nicht an den Vorgaben des journalistischen Zeitgeistes, wurde er schnell zum…/ mehr

Vera Lengsfeld / 08.09.2023 / 15:00 / 6

Kunst gegen den Gleichschritt

Das Festival „Musik & Wort in Weimar“ brachte Künstler und Aktivisten zusammen, die sich gegen die Konformität der Kultur stellen. Neben prominenten Rednern wie Ulrike…/ mehr

Vera Lengsfeld / 23.07.2023 / 12:00 / 38

Rammstein: Bösen Zungen glaubt man nicht

Eigentlich bin ich kein Rammstein-Fan und kenne die Band nur durch meine Söhne und Enkel. Ihr Konzert in Berlin hat mich jedoch sehr beeindruckt. Nicht…/ mehr

Vera Lengsfeld / 16.07.2023 / 12:00 / 7

Erfurter Domstufenfestspiele: „Fausts Verdammnis!“

Die Erfurter Domstufenfestspiele haben sich in den letzten 30 Jahren zum Besuchermagneten entwickelt. In diesem Jahr stand „Fausts Verdammnis“ von Hector Berlioz auf dem Programm.…/ mehr

Vera Lengsfeld / 24.05.2023 / 10:30 / 5

Über alle Gräben hinweg

Cora Stephan legt mit „Über alle Gräben hinweg“ den dritten Roman vor, der sich mit der alles entscheidenden Frage befasst, was im schrecklichen 20. Jahrhundert…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com