Rudolf Taschner, Gastautor / 16.08.2011 / 12:12 / 0 / Seite ausdrucken

Auch die Würde des Mörders ist unantastbar

Rudolf Taschner

„Das Folterverbot gilt absolut. Die Menschenwürde ist das kostbarste Gut der Menschenrechte und Grundlage unseres gesamten Rechtssystems. Diese rote Linie darf niemals überschritten werden.“ Das in ihnen steckende Pathos macht diese Sätze verdächtig. Und dies zurecht.

Gesprochen wurden sie von der deutschen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, als der Entführer und Mörder des elfjährigen Jakob von Metzler einen Teilerfolg beim Europäischen Gerichtshof erlangte: Er darf sich als Folteropfer bezeichnen. Und als solches wurde ihm jüngst, am 4.August, vom Landgericht Frankfurt eine Entschädigung von 3000 Euro zugesprochen.

Der Fall selbst war aufsehenerregend: Der Kindesentführer wird beim Abholen des Lösegelds gefasst und weigert sich im Verhör zu sagen, wo er den Buben eingesperrt hat. Die vernehmenden Beamten fürchten um das Leben des Kindes. In dieser Notlage entschließen sich die polizeilichen Ermittler, dem zynischen Entführer zu drohen: Er werde Schmerzen erleiden, in eine Zelle mit zwei Gewalttätigen gesperrt, die vor nichts zurückschrecken. Erst jetzt gibt der Verbrecher nach. Und zu aller Tragik stellt sich heraus, dass er das junge Opfer schon umgebracht und in einem Tümpel versenkt hatte, bevor er das Lösegeld forderte.

So geschehen 2002 im deutschen Frankfurt-Sachsenhausen.

Der leitende Polizeibeamte Wolfgang Daschner hatte in sprichwörtlich deutscher Korrektheit seine Folterdrohung protokolliert und wurde zusammen mit seinem Mitarbeiter Ortwin Ennigkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention zufolge verurteilt. Denn selbst die Androhung von Folter ist unter keinen Umständen zulässig.

Sicher gewärtigten die Beamten während des Verhörs, dass die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, das entführte Opfer noch lebend zu bergen. Denn der Entführer, ein verkrachter Student der Rechtswissenschaft, war verhaftet. Durch sein Schweigen das Leben des Kindes aufs Spiel zu setzen, würde ihm nur schaden: eine Entführung mit Todesfolge brächte ihm eine empfindlich höhere Strafe ein als ein letzten Endes glimpflich verlaufener Entführungsversuch. Er trieb sein Verwirrspiel mit der Polizei wohl deshalb, damit die Leiche unentdeckt bleibt und er auf diese Weise einer Mordanklage entkommt. Nur gegen alle Vernunft durfte man noch hoffen, dass der Bub lebt.

Doch nur ein Zyniker würde aufgrund des obigen Arguments den noch glimmenden Funken Hoffnung zertreten wollen. Im Gegenteil: Angesichts der Gefahr, dass in den kritischen Stunden des Verhörs der Bub, so er noch atmet, an Verletzungen, Durst, Erschöpfung oder Unterkühlung zugrunde geht, und angesichts der Bedrängnis, dass vergeblich alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, dem Verbrecher das Versteck des Kindes zu entlocken, war es für die vernehmenden Beamten ein moralisches Gebot, über „die rote Linie“ zu schreiten. Gisela Friedrichsen schreibt in ihrem ansonst klugen Kommentar im „Spiegel“, dass Daschner und Ennigkeit „das Rechte gewollt, aber das Falsche getan“ haben. Dem ist zu widersprechen: Die beiden haben nicht nur das Rechte gewollt, sie haben in der ihnen vom Verbrecher bereiteten schier ausweglosen Zwangslage auch das Rechte getan.

Allein vor dem Gesetz machten sie sich schuldig. Alle Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit diesem Fall sind juristisch einwandfrei und paragraphengetreu durchgeführt worden. Bloß die Tatsache, dass über die beiden Beamten nur bedingte Strafen verhängt wurden, veranlasste aufgrund der Behauptung des zu einer lebenslangen Haft verurteilten Entführers und Mörders, die gegen ihn erhobene Drohung während des Verhörs sei die „massivste in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands bekannt und beweisbar gewordene Verletzung der Menschenrechte und des Folterverbots“ gewesen, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, die Milde der Strafen gegen die Polizisten zu rügen. Auch das zuletzt ergangene Urteil, dass dem Entführer und Mörder eine Entschädigung als Folteropfer zusteht, ergibt sich zwingend aus den geltenden Gesetzen.

Doch für Menschen mit Gerechtigkeitssinn ist das Urteil nicht nachvollziehbar. Wie löst man das Dilemma?

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In diesem Satz konzentriert sich der Anspruch der aufgeklärten Welt, dass allen Menschen unveräußerliche Rechte zustehen, „worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“, wie es in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten heißt. Auf seine „unantastbare Würde“ berief sich der Verbrecher, weil die Androhung von Folter dieser „unantastbaren Würde“ widerspräche. Doch in Wahrheit rekurrierte sein Rechtsbeistand auf Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wonach es striktest untersagt ist, jemanden der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung zu unterziehen.

Zwar erlaubt der Artikel 15 der Menschenrechtskonvention, von den in ihr genannten Rechten abzuweichen, wenn „das Leben der Nation“ durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht ist. Doch ausdrücklich wird auch dort betont, dass vom Artikel 3 in keinem einzigen Fall abgewichen werden darf. So sehr waren die Mitglieder des Europarates in den 1950-er Jahren vom naturgegebenen Recht des Menschen auf die eigene Person, von der „unantastbaren Menschenwürde“ überzeugt, dass sie dieses unumschränkte Verbot der Folter, selbst der Androhung von Folter, als unverhandelbar erachteten.

Obwohl man es in der säkularisierten Welt ungern hört, ist zu erinnern, dass die Vorstellung der unantastbaren Menschenwürde einzig und allein aus der Idee hergeleitet ist, dass der Mensch Ebenbild Gottes sei. Manche mögen es als Fortschritt betrachten, dass diese auf die Bibel zurückgehende Wurzel in der heutigen Verkündung der Menschenrechte keine Rolle mehr spielt. Dennoch haftet an diesen als unabänderlich betrachteten Grundrechten ein untilgbares religiöses Moment. Sie tragen Inbrunst und Erbauung in sich. Es mag angehen, sie für quasi heilig zu erachten und bei weihevollen Anlässen in Festhallen, den weltlichen Gegenstücken zu Tempeln und Kirchen, zu proklamieren. Auch ihre Funktion als Richtschnur gesellschaftlichen Denkens, Redens und Tuns sei ihnen unbenommen.

Es mag die Herkunft aus dem sakralen Bereich sein, dass die Würde eines Menschen in Analogie zur Seele eines Menschen steht: Denn beide, für den Gläubigen die Seele, für den Laizisten die Würde, scheinen im Innersten eines jeden Menschen verankert zu sein. Und nur eines Menschen. Tote Objekte, Pflanzen oder Tiere werden von den Buchreligionen als seelenlos betrachtet und haben ebenso nicht in dem Sinn eine Würde, die der Menschenwürde gleich käme. Gewiss, es bestehen einschneidende Unterschiede. Drei seien genannt: Erstens spielt das überirdische Moment, das der Seele eigen ist, bei der Würde keine Rolle. Die Würde bleibt etwas rein Diesseitiges.

Zweitens hat für Gläubige jeder einzelne Mensch seine ihm eigene Seele: „ICH habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist MEIN“, steht bei Jesaja. Die Würde hingegen ist nicht individuell ausgestaltet, sie ist vielmehr eine abstrakte, allgemeine und – zumindest vor dem Gesetz – für alle Menschen gleiche Seinsbestimmung. Drittens gilt die Seele als unsterblich, weshalb die einstige auf die Religion gründende Rechtssprechung, vor allem die Inquisition, eine im heutigen Verständnis nicht mehr nachvollziehbare Härte gegenüber dem Körper entwickeln durfte.

Die Würde des Menschen hingegen ist fragil, sie zu zerbrechen darum ein unentschuldbares Vergehen. Aus dieser Einsicht folgt die Forderung, die Integrität eines Menschen, auch seine körperliche Integrität, zu schützen. Dennoch klafft zwischen dem hehren Wort von der unantastbaren Menschenwürde und der nüchternen Wirklichkeit ein unüberbrückbarer Abgrund.

In Dostojewskis „Brüder Karamasow“ erzählt Iwan, der Intellektuelle, seinem Bruder Aljoscha, dem Mönch, die wahre Geschichte von einem General: Dieser „lebt auf seinem Gut, einem Gut von zweitausend Seelen, tut groß, behandelt seine kleinen Nachbarn, als wären sie seine Schmarotzer und Narren. Er besitzt eine Meute aus Hunderten von Hunden mit fast hundert Hundewärtern, alle tragen sie Uniform und sind beritten. Und nun wirft eines Tages ein erst achtjähriger kleiner Bub, Sohn eines Leibeigenen, beim Spielen einen Stein und verletzt den Lieblingshund des Generals am Bein. ,Warum hinkt mein Lieblingshund?‘ fragt der General, Man meldet ihm, dass der kleine Bub einen Stein geworfen und den Hund am Bein verletzt habe.

,Ah, du warst das‘, sagt der General und mustert ihn von oben bis unten, ,greift ihn!‘ Man griff ihn, nahm ihn der Mutter weg, und die ganze Nacht saß er im Arrest. Am nächsten Morgen, kaum ist es hell geworden, will der General in voller Montur zur Jagd reiten. Er setzt sich aufs Pferd, umringt von seinen Schmarotzern, den Hundewärtern und Jägermeistern, die alle beritten sind, und den Hunden. Das ganze Hofgesinde ist versammelt, und vorn, vor allen anderen, steht die Mutter des schuldigen Knaben. Man führt den Knaben aus dem Arrest heraus.

Es ist ein düsterer, kalter, nebeliger Herbsttag, prachtvoll zur Jagd. Der General befiehlt, den Knaben zu entkleiden, das Kind wird ausgekleidet, es zittert, ist vor Angst von Sinnen und traut sich nicht zu mucksen. ,Hetzt ihn!‘ kommandiert der General. ,Lauf, lauf!‘ rufen ihm die Hundewärter zu, und der Bub läuft ... ,Ihm nach!‘ brüllt der General und lässt die ganze Meute der Windhunde auf ihn los. Vor den Augen der Mutter hetzte er das Kind zu Tode, und die Hunde rissen es in Stücke.“

Iwan erzählt seinem Bruder diese Geschichte, weil er die Vorstellung für widerwärtig hält, in der ewigen Glückseligkeit würde die Seele der Mutter jene des Peinigers umarmen, der ihren Sohn von den Hunden zerfleischen ließ, und alle drei Seelen würden unter Tränen ausrufen: „Gerecht bist DU, HERR!“ Iwan will nicht, „dass die Mutter den Peiniger umarmt, der ihren Sohn von Hunden zerreißen ließ! Sie darf sich nicht unterstehen, ihm zu verzeihen! Wenn sie will, mag sie verzeihen, soweit es sie selbst angeht; sie mag dem Peiniger ihr maßloses Mutterleid verzeihen. Aber die Leiden ihres zerfleischten Kindes zu verzeihen, hat sie kein Recht; sie darf es nicht wagen, dem Peiniger zu verzeihen, auch wenn das Kind selber ihm verziehe!“
Ersetzt man aus säkularer Perspektive die Seelen der Protagonisten, an denen der gläubige Dostojewski noch Anteil nahm, durch deren Würde, drängt sich ebenso vehement die Frage auf: Wie steht es um die Menschenwürde des Generals? Hat dieses Scheusal, selbst wenn es sich in glänzender Uniform vor seinen Getreuen aufbäumt, noch seine unantastbare Würde? Nicht den leisesten Hauch davon!

Iwans Erzählung schockiert zumal deshalb, weil der General keineswegs im Affekt handelt, sondern wohlüberlegt. Eine Nacht lang, während der Bub im Arrest bebt, bereitet er eiskalt seine Untat vor. Er ist durch und durch böse. Wer trotzdem wagt, von der unantastbaren Menschenwürde des Generals zu sprechen, will entweder die Tragik der Geschichte nicht wahrhaben, oder aber er setzt das Wort „Würde“ zu einer nichtssagenden Vokabel herab.

Auch die Ausrede, das Böse habe Macht über den General gewonnen, es habe ihn gleichsam wie ein Dämon gefangen genommen und dadurch seine Würde, die nach wie vor vorhanden
sei, überdeckt, führt in die Irre. Sie macht den in Wahrheit frei und souverän handelnden Wüstling zu einer Marionette eines opaken Wortes: „das Böse“. Ein Wort, das wie eine Krankheit klingt: Caesar leidet an Epilepsie, Caligula leidet am Bösen. Doch so stimmt das sicher nicht. Denn kranke Menschen gilt es zu heilen, böse Menschen hingegen gilt es zu bekämpfen.
Den General bis zur physischen Vernichtung. So möchte es Aljoscha, der Mönch. „Erschießen“, haucht er, als ihn sein Bruder Iwan fragt, ob diese Bestie in Menschengestalt nicht den Tod verdiente. So sehr erschütterte ihn die Erzählung seines Bruders, dass er, wollte eine Horde von Rächern des Buben den General lynchen, mit Hand anlegte. Und stellte sich ein Justizminister zwischen die, welche nach Vergeltung brüllen, und den General mit den Worten: „Die Menschenwürde, auch die des Generals, ist unantastbar! Diese rote Linie darf niemals überschritten werden!“ – wie blanker Hohn würde es in Aljoschas Ohren klingen. Einer Welt, die sich einem solchen Justizminister unterordnet, begehrte Aljoscha in Anspielung auf seines Bruders Iwans Worte wohl auf, einer derart arroganten Welt gäbe er „ehrerbietigst die Eintrittskarte zurück“.

Trotzdem ist Lynchjustiz verpönt. Und dies zurecht. Aber nicht wegen der Menschenwürde des Schwerverbrechers. Diese hat der General verwirkt bis ans Ende seiner Tage, und würde er 120 Jahre alt. Sondern wegen der Würde des Staates, dessen Bürgerinnen und Bürger den Gesetzgeber wählen, wegen der Würde des Gesetzgebers selbst und wegen der Würde der Gerichte und der in ihnen wirkenden Richterinnen und Richter. Faustrecht zuzulassen widerspricht dem Selbstverständnis, der Hoheit, der Würde des Staates.

Europäische Staaten halten es seit einigen Jahrzehnten sogar unter ihrer Würde, sich Henker zu halten. Nicht weil es keine Verbrechen gibt, die dies verdienten, sondern weil der norwegische Staat davon ausgeht, dass es unter seiner Würde sei, Haftstrafen lebenslänglich zu verhängen, setzte der Gesetzgeber Norwegens ein maximale Länge der Haft von 21 Jahren fest. Nur bei einer Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschheit könnte von vornherein eine Höchststrafe von 30 Jahren verhängt werden, und selbst diese mag angesichts der bestialischen Brutalität des Attentäters von Oslo und Utøya unangemessen kurz sein.

Wie weit darf der Gesetzgeber mit seinem Anspruch auf Würde gehen? Sie bildet nämlich keineswegs den Kern seiner Aufgabe. Nüchtern betrachtet ist der Gesetzgeber allein dazu angehalten, ein Gesetzeswerk zu erstellen, das ein möglichst reibungsloses Funktionieren des Gemeinwesens gewährleistet. Die Gesetze sind keinem übergeordneten Gerechtigkeitssinn entnommen, denn wer im Staat darf für sich beanspruchen, diesen so zu besitzen, dass er ihn in Paragraphen fassen könnte? Die Gesetze sind einfach nur willkürliche Setzungen, auf die man sich einigt. Es ist schon einiges erreicht, wenn möglichst viel Unheil und Böses von den Menschen ferngehalten werden kann.

Es ist keine juristische, sondern eine politische Entscheidung des Gesetzgebers, die Präambel der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung von 1789, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, welches Manifest auch immer als Richtschnur für die Erstellung der Gesetze zu wählen. Doch mehr als Richtschnur können all diese wohlklingenden Deklarationen nicht sein. Denn sie sind Erbauungsprosa. Sie gehen vom erhabenen Idealbild aus, dem die prosaische Wirklichkeit trotzt. Gesetze hingegen können nicht im Erbaulichen verortet bleiben.

Es mag sein, dass ihnen Fiktionen zugrundeliegen wie jene von der unantastbaren Würde des Menschen. Dem ist nichts entgegenzuhalten, solange die gleichen Gesetze für die Wirklichkeit geschmiedet und nach pragmatischen Geboten konzipiert sind.

Alle denkbaren Situationen können Gesetze ohnehin nie einbeziehen. Dem Verlangen der Eiferer danach sollte man heftigst Widerstand leisten, dem Ausspruch „summum ius summa iniuria“ des Juristen Cicero gemäß, wonach ein durch und durch vollständiges Gesetzeswerk nur zum höchsten Unrecht führt. Umso eher gerät die Gerechtigkeit unter die Räder, je umfassender der rechtliche Regelungskosmos ist.

Skrupellos nützt der Mörder des kleinen Jakob von Metzler die paradoxen, seine „Würde“ wahrenden Paragraphen: Ihm muss die Fortsetzung seines Jusstudiums erlaubt sein, ihm ist gestattet, mit einem larmoyanten Buch aus der Haft auf sich aufmerksam zu machen, gar eine Stiftung gegen Gewalt und Folter (sic!) zu gründen. Die Sicherung der „roten Linie“ durch Gesetze, die sogar den Schutz der Würde von Unholden regeln, verhindert die „damnatio memoriae“ des Schänders, das gerechte Verlangen, dass sein Name für immer getilgt sei.
Am Absolutheitsanspruch des Folterverbots wird die Paradoxie, die sich aus der totalen Verrechtlichung ergibt, deutlich: Einerseits ist es rechtens, dass unter bestimmten Umständen, vor allem wenn das Leben Unschuldiger auf dem Spiele steht, der Polizei erlaubt ist, bei einer zugunsten Dritter ausgeübten Notwehr mit der Schusswaffe vorzugehen. Wobei in Kauf genommen werden muss, dass der Übeltäter sogar tödliche Verletzungen erleidet. Andererseits untersagt das Folterverbot – selbst im Fall, dass das Leben Unschuldiger auf dem Spiele steht –, dem Verbrecher auch nur die Möglichkeit von Schmerzzufügung oder unmenschlicher Behandlung anzudeuten.

Wie geht man mit inneren Widersprüchen und Lücken im Regelsystem der Gesetze um? Aristoteles findet die Lösung im eigenartigen Begriff Epikie, den man mit Angemessenheit, mit Nachsicht, vielleicht sogar mit „Güte der Gerechtigkeit“ übersetzen sollte. Epikie fordert im Sinne des Aristoteles die Person des Richters heraus, sich der Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Gesetz und dem konkreten Einzelfall zu stellen und danach das Urteil zu fällen. Dabei ist es wichtig und gut, dass diese Diskrepanz besteht.

Um Epikie wirken lassen zu können, darf man keine scharfen roten Linien ziehen. Es genügt, mit klug gesetzten roten Markierungen die Grenzen nur annähernd abzustecken. Weil es auch hier auf Erden keine scharfen roten Linien gibt.

Rudolf Taschner ist Professor am Institut für Analysis und Scientific Computing der TU Wien

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