Ansgar Kruhn, Gastautor / 29.11.2016 / 18:00 / Foto: Stefan-Xp / 7 / Seite ausdrucken

Athener sucht Demokratie in Berlin

Von Ansgar Kruhn.

Anlässlich der Präsidentschaftswahlen in den USA haben Befürworter des Ergebnisses genauso wie Kritiker in normativer Weise „die“ Demokratie argumentativ für sich in Anspruch genommen. Während die einen dazu auffordern, das Ergebnis einer demokratischen Wahl anzuerkennen, meinen die anderen, dass man „Demokratie“ im Minderheitenschutz und nicht in der Diktatur der Mehrheit zu suchen habe. Mit anderen Worten: alle Beteiligten wünschen die Demokratie auf der je eigenen Seite zu wissen. Man könnte daran vermutlich gut zeigen, dass gewisse Begriffe rhetorisch zwingend sind, auch wenn keine Einigkeit über ihren Inhalt besteht. Hier soll indes der Blick zurück auf die Ursprünge der Demokratie vor über 2.000 Jahren geworfen werden. Und am Schluss kommen wir zu der Frage, wie viel diese frühe Demokratie mit der heutigen Demokratie noch gemein hat.

Den Ursprung der Demokratie macht eine Niederlage aus. Das antike Griechenland in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends vor Christus muss man sich als ein Flickenteppich von Höfen und kleinen Dörfern vorstellen, die sich um verschiedene Heiligtümer sammelten. Daraus entstanden die Poleis, also die Stadtstaaten, für die Griechenland noch heute berühmt ist. Die Könige der Frühzeit gab es in historischen Zeiten schon nicht mehr, um die Herrschaft in den einzelnen Gebieten kämpften Großbauern, die sich durch ihre Macht zu Adligen aufwerfen konnten und Gefolgsleute um sich scharten. Diese Adligen befanden sich in einem Verhältnis ständigen Wettkampfs, der auf verschiedenen Ebenen ausgetragen wurde: Sport, musische und künstlerische Wettkämpfe, rhetorischer Wettstreit, Duelle.

Ziel war es immer, sich als Aristokrat im Wortsinn, also als einer der Besten, zu erweisen. Als politisches Endziel galt daher die Herrschaft über alle anderen Adligen, wobei man einen solchen Herrscher als Tyrannen bezeichnete. Der negative Beiklang, der heute mit dem Begriff verbunden wird, ist nicht zeitgenössisch. Für die einfachen Bürger konnte die Herrschaft eines Tyrannen überdies handfeste Vorteile haben, zumal die ständigen Kämpfe der Adligen immer ein Element der Unruhe in die langsam näher zusammenrückenden politischen Gemeinschaften brachten.

Aus der Heeresversammlung wurde eine Volksversammlung

Der Vater aller Dinge war auch hier der Krieg. Trugen die Adeligen früher von Streitwägen und Pferden Zweikämpfe aus, wie man sie aus der Ilias gut kennt, so änderte sich dies spätestens ab dem siebten und sechsten Jahrhundert. Nun waren es mit Schild, Rüstung und Lanzen bewaffnete Infanteristen, die in enger Formation kämpften. Die nötige Ausrüstung konnten sich auch Bauern anschaffen, die nicht zu den führenden Familien gehörten. Damit aber war auch ein politischer Anspruch verbunden: Wer für die Gemeinschaft kämpfte, der sollte auch Anteil an den die Gemeinschaft betreffenden Entscheidungen haben.

Aus der Heeresversammlung wurde so die Volksversammlung, die nun gleichzeitig den Aristokraten eine Bühne für ihre Auseinandersetzungen bot. Vor der Volksversammlung konnte man rhetorisch brillant auftreten, seine Gegner öffentlich demütigen und sich in prestigeträchtige Ämter wählen lassen. Doch führten soziale Verwerfungen schließlich dazu, dass das Staatsgebilde ins Ungleichgewicht kam. Den reichen Bauern gelang es über die Verleihung von Saatgut, immer mehr freie Bauern unter ihre Kontrolle zu zwingen und sie gar zu versklaven, konnten diese aufgrund einer schlechten Ernte ihre Schulden nicht bedienen.

Um 594 war die Lage in Athen so schlimm, dass mit Solon ein „Aisymnet“, eine Art Vermittler und Schiedsrichter, eingesetzt werden musste, um die Zustände wieder ins Lot zu bringen. Hauptsächlich vier Maßnahmen sind erwähnenswert: 1. wurde die Schuldknechtschaft verboten, die versklavten Athener freigekauft; 2. wurden die Ausfuhr von Grundnahrungsmitteln verboten und der Landkauf von der Zugehörigkeit zur athenischen Bürgerschaft abhängig gemacht; 3. wurden die Gesetze schriftlich fixiert und öffentlich ausgestellt; 4. wurden die Athener nach ihrem Jahreseinkommen in vier Gruppen eingeteilt, denen unterschiedlich hohe politische Partizipationsmöglichkeiten gewährt wurden. Dieses System garantierte einerseits den Adligen ihre politische Bedeutung, die für den Erwerb ihrer Ehre entscheidend war, band aber doch alle Bürger in eine Gemeinschaft ein, die sich deutlich nach unten gegen die Sklaven und nach außen abgrenzte. Letzteres stellte ein wichtiges Mittel gegen die häufig „internationalen“ Interessen der Adligen dar. Eine Demokratie freilich war dies noch nicht.

Diese entstand in ihrer direkten Vorform erst, als der Adelige Kleisthenes 508/507 den herkömmlichen politischen Machtkampf gegen Isagoras verloren hatte, diese Niederlage aber nicht hinnehmen wollte. Er nahm deswegen das einfache Volk in seine Klientel auf und attackierte die Säulen der Macht der Adligen, indem er die soziale, kultische und politische Struktur neu ordnete. Die Heiligtümer, die in der Regel von adligen Familien verwaltet wurden, sollten nicht länger gleichzeitig auch Verwaltungseinheiten sein. Stattdessen wurden abstrakte Verwaltungskörper geschaffen, die sich aus geographisch getrennten Bereichen zusammensetzten, wodurch ebenfalls die Bedeutung des lokal dominierenden Adels gemindert wurde.

Jede der so geschaffenen zehn Phylen entsandte jährlich 50 Mitglieder in den „Rat der 500“, welcher der Volksversammlung zu- und vorarbeitete. Im weiteren Verlauf der Geschichte wurde diese Tendenz der Adelsschwächung fortgeführt und gleichzeitig der ärmste Bevölkerungsteil aufgewertet, was wiederum durch die militärische Lage angezeigt war: Athen war zur führenden Seemacht Griechenlands geworden und bedurfte einer großen Anzahl von trainierten Ruderern. Da diese keine eigene Ausrüstung stellen mussten, konnten dafür die ärmsten Bürger verwendet werden, die nun ihren Anteil an der politischen Verteidigung der Stadt hatten.

Die meisten Ämter wurden per Losverfahren bestimmt

Es ginge zu weit, die Entwicklung hier im Detail nachzuvollziehen. Stattdessen sollen die wichtigsten Prinzipien der attischen Demokratie des 5. und 4. Jahrhunderts vor Christi vorgestellt werden:

1. Wichtige Entscheidungen wurden in der Volksversammlung getroffen. An dieser durfte jeder Bürger teilnehmen und seine Vorschläge einbringen. Der „Rat der 500“ bereitete die regulären Sitzungen zwar vor, doch konnten jederzeit Beschlüsse in die Versammlung eingebracht werden. Beschlussfähig war die Versammlung dann, wenn mindestens 6000 Bürger anwesend waren. Diese Zahl wurde als repräsentativ für den gesamten Volkskörper angesehen. Man kann davon ausgehen, dass in der Regel nur rhetorisch ausgebildete Menschen vor einer solchen Menge gesprochen haben. Es waren also überwiegend Adlige, die hier um die Stimmen ihrer Mitbürger gerungen haben.

2. Die überwiegende Anzahl der Ämter wurde per Losverfahren bestimmt. Dies mag den modernen Betrachter verwundern, scheint dies doch gegen den Grundgedanken der Demokratie zu verstoßen. Tatsächlich zeigt sich hierin aber das Bemühen der Athener, keinem Bürger durch die geschickte Okkupation von Ämtern und der mit ihr verbundenen Macht einen Vorrang vor anderen Bürgern zu ermöglichen: Demokratie galt als Herrschaft aller über alle. Entsprechend war man davon überzeugt, dass prinzipiell jeder Bürger dazu befähigt sei, eine Beamtenstelle auszufüllen. Allerdings mussten sich alle Amtsträger vor und nach ihrer Amtszeit (in der Regel ein Jahr) umfangreich rechtfertigen und den Nachweis erbringen, dass sie nicht gegen das Gesetz gehandelt und sich nicht bereichert hatten. Gleichzeitig wurde durch diese Schwächung der Ämter der in der Geschichte so bekannte Prozess der Ausuferung von Bürokratie verhindert.

3. Ebenfalls irritieren mag die Einrichtung des Scherbengerichts. Einmal im Jahr konnten die Bürger darüber abstimmen, ob ein Politiker zu mächtig geworden war. Wurde das Verdikt über einen Bürger verhängt, dann musste dieser die Stadt für mehrere Jahre verlassen. Seinen Besitz verlor er dadurch nicht. Auch diese Einrichtung diente dazu, kein Individuum zu mächtig werden zu lassen. Gleichzeitig konnten so die Streitigkeiten zwischen mächtigen Adligen gelöst werden, die sonst potentiell zu Bürgerkriegen hätten führen können.

4. Überragende Bedeutung kam den athenischen Gerichten zu, die ebenfalls der Äußerung des Volkswillens dienten. Juristen gab es dabei keine, sondern geloste Bürger kamen in einer Jury zusammen und stimmten über das Ergebnis eines Prozesses ab. Ein festes System regelte dabei den Prozessablauf, der Zeugenbefragungen und Reden der Kläger- und Beklagtenpartei umfasste. Die Richter blieben dabei passiv. Grundsätzlich war man davon überzeugt, dass die Bürger ihre Auseinandersetzungen erst einmal privat lösen sollten. War das nicht möglich, wurde zuerst ein Schiedsrichter eingesetzt, erst danach kam es zu einem Prozess. Zeugen und Beweise waren von den beteiligten Parteien beizubringen, eine Polizei im modernen Sinne gab es nicht. Allerdings konnten die Stadtwächter arme Bürger bei der Durchsetzung ihres Rechts unterstützen. Viele politische Fragen wurden vor Gerichten geklärt, beispielsweise indem man Politiker für ihre Entscheidungen anzeigte und vor Gericht brachte. Dadurch kam den Volksgerichten eine wichtige politische Bedeutung zu, auch wenn sie immer wieder der Schauplatz von privaten Auseinandersetzungen unter Adligen waren. In einem solchen Fall riskierte der Kläger allerdings viel, da die meisten Athener der Meinung waren, dass gerade reiche und mächtige Menschen doch bitteschön alleine ihre Probleme lösen sollten.

5. Sozialleistungen waren ein wichtiger Bestandteil der Demokratie. Da alle Bürger an ihr partizipieren sollten, wurde die Zahlung von Tagesgeldern (Diäten) eingeführt, um es auch Tagelöhnern oder einfachen Bauern und Handwerkern zu ermöglichen, die Volksversammlung oder die Volksgerichte zu besuchen. Mussten früher die Träger von Staatsämtern sich selbst finanzieren, so bekamen sie nun auch einen Sold, der vor allem ihre Lebenserhaltungskosten decken sollte. Waisen wurden auf Staatskosten großgezogen, verletzte Soldaten konnten eine Invalidenrente beantragen. Da der Besuch des Theaters als überaus wichtig für die politische Bildung der Bürger angesehen wurde, wurden auch Diäten für den Besuch der Tragödien und Komödien ausbezahlt.

6.  Das dafür benötige Geld wurde teilweise durch indirekte Steuern finanziert, wichtiger waren aber zwei weitere Geldquellen. Reiche Athener mussten sogenannte Liturgien übernehmen, also die Finanzierung von Schiffen, Gebäuden oder öffentlichen Festen leisten. Trotz der finanziellen Belastung galt dies als Ehre, konnte der Adlige so doch seine Bedeutung für die Polis herausstellen. Die andere Quelle des athenischen Reichtums könnte man treffend als Schutzgelderpressung bezeichnen. Athen hatte sich zum maritimen Hegemon aufgeworfen, der die Sicherheit der griechischen Seestädte gegen die Perser garantierte. Dafür zahlten diese Athen Tribut. Allerdings mussten die Mitglieder des heute so genannten „Attischen Seebund“ erfahren, dass ein Austritt nicht mehr möglich war. Mit militärischer Gewalt setzten die Athener bei ihren Bündnern, die auch attische Gerichte anzurufen hatten, die eigenen Interessen durch. War es nötig, sicherten die Athener ihre Kontrolle durch vielseitige Mittel wie die Einsetzung einer ihnen gewogenen Regierung, die Errichtung einer Garnison oder die Gründung einer athenischen Kolonie im Gebiet der zu überwachenden Polis.

Was würde ein Athener von unserer Demokratie halten?

Führen wir ein Gedankenexperiment durch und stellen uns vor, ein Athener aus dem 5. Jh. vor Christus käme durch eine Anomalie in der Raum-Zeit in das heutige Deutschland, was würde er zu unserer Demokratie sagen?

Zunächst würde er uns wohl verblüfft fragen, wann und wo unsere Volksversammlung tagt. Dann würde er nachbohren, wann und wo jeder deutsche Bürger politische Aktionen vorschlagen und darüber abstimmen darf. Auf unsere Entgegnung, dass wir eine repräsentative Demokratie haben, würde er wohl nachfragen, wann wir wen dazu bestimmen, uns zu repräsentieren. Die Antwort, dass wir alle vier Jahre private Vereine damit beauftragen, nach eigenem Gusto eine Person auszuwählen, die dann die wichtigsten Ämter im Staat eigenmächtig für so lange bestimmt, wie sie möchte und das Amt inne hat, würde unseren Athener wohl mit aufgerissenen Augen zurücklassen.

Weiter könnte er vielleicht fragen, ob wir zumindest jederzeit unsere Amtsträger vor ein Gericht ziehen können, in dem geloste Bürger über die Politik wenigstens indirekt entscheiden können? Spätestens nach unserer Antwort, dass in Deutschland Individuen lebenslang Richterämter inne haben und im Regelfall eigenmächtig über die juristischen Belange der Bürger entscheiden dürfen, wobei diese Entscheidungen durch einen gewaltigen Beamtenapparat von nicht-gewählten und nicht-gelosten Beamten auf Lebenszeit durchgesetzt werden, dürfte er ein Zucken im Auge nicht mehr unterdrücken können. Man mag sich gar nicht vorstellen, was er vom Zwang und der Höhe der von jedem Bürger zu leistenden Abgaben oder der fehlenden Möglichkeit, ohne Weiteres ein Staatsamt zu übernehmen oder deren Träger zur Rechenschaft ziehen zu können, halten würde.

Ohne Zweifel, eine Demokratie würde er in unserer Republik nicht erkennen. Allenfalls eine Oligarchie, in der sich alle vier Jahre die Oligarchen einen neuen Tyrannen bestimmen. Der Grundgedanke der attischen Demokratie, dass das Volk aktiv herrschen sollte und die Freiheit des einzelnen Bürgers nur dadurch gewährleistet werden könnte, dass jedermann jederzeit gleichzeitig Beherrschter und Herrscher wäre und kein Bürger dauerhaft mehr Macht als seine Mitbürger hätte, gilt in unserer modernen Demokratie offensichtlich nicht mehr.

Freilich lässt sich ein moderner Flächenstaat nicht mit einem antiken Stadtstaat vergleichen, selbst wenn die heutige Kommunikationstechnik in vielerlei Hinsicht zur Überbrückung der immens gestiegenen Distanzen innerhalb des politischen Verbandes dienen könnte. Bedenkt man indes die Überfülle an kulturellen und geistigen Blüten, die während der demokratischen Zeit Athens entstanden sind, und von denen wir heute noch zehren, sei es in künstlerischer, philosophischer oder wissenschaftlicher Hinsicht, dann verdient doch die Frage, ob wir nicht zumindest der Tendenz nach von der ersten Demokratie der Geschichte lernen können, einer oder mehrerer Antworten. Was meinen Sie?

Ansgar Kruhn ist Historiker und nebenbei Reisender in Sachen Weltanschauungstourismus

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Leserpost

netiquette:

Werner Lange / 30.11.2016

Selbst wenn unser Athener Besucher die Schweiz besuchen würde wären seine Erfahrungen nur teilweise verwirklicht…  Immerhin! Wir hier im “fortschrittlichen” D (und all den anderen europäischen Staaten) hinken aber schon gewaltig hinterher. Andererseits bedeutet ein Verfahren wie für Athen beschrieben natürlich einen erheblichen Zeit- und Mitdenkeinsatz für jeden einzelnen von uns - davon haben wir uns leider meilenweit entfernt. Und wären wir bereit diesen Einsatz auch zu bringen? Wert wäre er allemal, meine ich.

Hugo Rosporeck / 30.11.2016

Demokratie: Eine aus der griechischen Mythologie bekannte, realitätsferne Form der Herrschaft, in der das Volk – und nicht seine selbsternannten „Repräsentanten“ – das Sagen hat. In der Demokratie entscheidet die Mehrheit – und nicht der Einzelne –, von wem sich die Allgemeinheit aufziehen lassen soll. Als die Griechen die Demokratie schufen, haben sie das Wahlrecht für leicht manipulierbare niedere Schichten nicht vorgesehen ...

Georg Dobler / 30.11.2016

Und nicht zu vergessen: Wie würde der Athener reagieren wenn er erführe dass für die Verbreitung von Informationen und Meinungen aus bestimmten Quellen eine monatliche Gebühr erhoben wird, auch von Jenen Bürgern die diese Informationsquellen gar nicht in Anspruch nehmen?

Michael Hug / 30.11.2016

Zutiefst erschrecken würde dieser fiktive alte Athener nicht nur darüber, dass vom Volk gewählte Vereine die weitere Besetzung der politischen Ämter bestimmen, sondern auch über die Rolle der Frauen daselbst. Eine Frau als Heerführerin und eine Frau als führende Aristokratin wäre wohl undenkbar gewesen. Vermutlich wären beide nach einem Jahr qua Scherbengericht in die Verbannung geschickt worden.

Ulrich Spinner / 29.11.2016

Dank für diesen famosen Artikel. Der Athener aus dem 5. Jh. v. Chr. würde sich erst einmal wundern, dass es inzwischen Christen und Mohammedaner gibt und dass insbesondere letztere kaum etwas mit Demokratie am Hut haben. Wenn er Gelegenheit hätte mit unserer Kanzlerin zu sprechen, dann würde er wahrscheinlich feststellen, dass in der Heimat, in der sie aufgewachsen ist, nämlich der DDR, Altgriechisch komplett vom Lehrplan der Schulen gestrichen war. Die Gründe dafür sind wohl klar: Das Fach war bestimmt nicht kompatibel mit kommunistischer Diktatur. Sie würde ihm wahrscheinlich etwas über Pfingsten und Blockflötenmusik an Weihnachen erzählen. Von attischer Demokratie hat sie vermutlich keine Ahnung. Im Jahr 1962 gab es in der Bundesrepublik 55.800 (6,6%) Schüler des Fachs Altgriechisch, im Jahr 2009/2010 waren es nur noch 13.232 (0,53%). Ich hatte das Fach sechs Jahre lang bis zum Abitur 1968. Es gab kein anderes Fach, das ähnlich aktuelle Einsichten vermittelt hat. Vielleicht hatte ich den richtigen Lehrer, der neben der Sprache auch die historischen, philosophischen, ethischen, kulturellen und politischen Inhalte vermittelte. Man muss sich vor Augen halten, dass an den deutschen Gymnasien noch bis ca. zur Mitte des 19. Jh. überhaupt keine modernen Fremdsprachen auf dem Lehrplan standen. Natürlich kann man die Uhr nicht zurück drehen, aber die Aussicht, dass bald mehr Schüler Arabisch als Altgriechisch lernen, wenn es nach dem Willen der reformbegeisterten Politiker geht, ist ernüchternd. Die reden von den Werten des “Abendlandes” und haben keine Ahnung von vorchristlicher Historie und Philosophie. Zu den wenigen Politikern, die noch humanistisch gebildet sind, gehört übrigens Thilo Sarrazin. Der wirkt natürlich altmodisch gegen halbgebildete Lautsprecherinnen vom Kaliber Claudia Roth.

Simon Templar / 29.11.2016

Wir leben eben in postdemokratischen Zeiten

Sepp Kneip / 29.11.2016

Sicher würde der Athener aus dem 5. Jh. v.C. fragen, wie sich Deutschland eine Demokratie nennen darf, in der das Volk, der Bürger, rein gar nichts mehr zu sagen hat. Und wenn er was sagt, was dem Areopag nicht gefällt, warum er nicht gehört, sondern stigmatisiert wird. Ganz schlimm würde er finden, dass die Nation, ohne das Volk zu fragen, einfach abgeschafft werden kann. Allerdings würde er sich die Augen reiben, dass das Volk dies so über sich ergehen lässt, ohne aufzubegehren. Ach ja, wären wir nochmal im Athen des 5. Jh. v.C.

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