Wolfram Ackner / 24.07.2016 / 06:20 / Foto: Deutsche Fotothek‎ / 0 / Seite ausdrucken

Angela und die Eleganz betrunkener Bärenkinder

Irritiertes blättern in den Papieren, ratlose Blicke über den Rand der Brille hinweg ins Rund ob der Reporterfrage nach dem Umsetzungsdatum der von ihm gerade vom Blatt abgelesenen neuen Reisefreiheiten für die Bürger der DDR.

"Das tritt nach meiner Kenntnis ... tritt das sofort, unverzüglich ... in Kraft... "

An diesen Satz, mit dem ZK-Mitglied Günther Schabowsky (der im Spätherbst 89 von den schwer ins schlingern geratenen ostdeutschen Machthabern an die Medienfront entsandt wurde, um den manöwrierunfähigen, rostigen Seelenverkäufer namens SED wieder flott zu kriegen) unabsichtlich die nächtliche Erstürmung der Berliner Mauer auslöste, muss ich immer denken, als gut gemeinte, aber unbedachte Worte Angela Merkels dafür sorgten, dass im Jahre 2015 über zwei Millionen Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika nach Deutschland kamen und weitere Millionen anfangen, ihre Koffer zu packen. Damals vor 26 Jahren sorgte dieser eine Satz in einer Kettenreaktion dafür, dass innerhalb kürzester Zeit ein scheinbar für die Ewigkeit aus Beton gegossener Unrechtsstaat wie ein Kartenhaus bei einem plötzlichen Windstoß in sich zusammenfiel.

Denn große Umwälzungen beginnen oft so. Mit wenigen Worten, die wie Blitze einschlagen, von Ohr zu Ohr springen, Menschen elektrisieren und in Fieber versetzen, und, so wie kleinste Flussäderchen vom Berge rinnen, sich zu Adern vereinen, die zusammenkommenden Adern zu Flüssen verschmelzen und die Flüsse zu reißenden Strömen, so kamen an jenem 09.11.89 die neugierigen Berliner zu den Grenzübergängen gelaufen. In unzähligen Wohnungen schalteten die Ostberliner nach Schabowskys Ankündigung kurzentschlossen ihre Fernseher aus, löschten das Licht, traten auf die Straßen und setzten sich wie sanft fließendes Wasser in Bewegung.

Das umgebende Delta aus Alleen, Gassen, Nebenstrassen spuckte unaufhörlich seinen Inhalt in die Hauptstrom und an der Staumauer - dem Schlagbaum - staute sich rasch ein Menschenmeer.Tausende standen schließlich vor den ahnungs- und ratlosen Grenzpolizisten. Tausende Menschen, neugierig, schüchtern erst, dann mutiger werdend, Fragen stellen, schließlich laut skandierend das öffnen der Grenze fordernd. In den gesicherten Wachgebäuden telefonierten sich die Offiziere die Finger wund und gaben schließlich resigniert das Zeichen.
 Das Wunder geschah. 
Die Grenze zwischen Ost und West hörte auf zu existieren.
 Der Atem der Geschichte pustete freundlich-amüsiert über das Kartenhaus der 'Deutschen Kratschen Republik' - wie unser Honi immer in die Mikrophone fispelte - und nur zehn Monate später, am 03.Oktober 1990, trat die DDR nach Art. 23 GG dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland bei.

This was the end of the line - wie man heute im Neudeutsch sagen würde

Die Umwälzungen waren rasant. Am 1. Juli 1990 wurde die Deutsche Mark eingeführt. DIE!!! D-Mark!!! Inbegriff all unserer Wünsche und Sehnsüchte. Ein Facharbeitergehalt in der DDR lag so um die 600 Ostmark. Ich als Jungfacharbeiter auf Montage verdiente etwa 800 Mark. Monteure, denen das heißbegehrte Glück widerfuhr, in die Hauptstadt beordert zu werden und dort statt neun Mark Auslösung am Tag die begehrte "Berlin-Zulage" von 19 Mark/täglich kassieren zu können, verdienten auch schon einmal tausend und knapp mehr im Monat. But this was the end of the line - wie man heute im Weltläufigkeit suggerierenden Neudeutsch vermutlich sagen würde - wo die gute alte Sekretärin zum 'Office Manager' aufgeblasen wird, der Sanitärtrakt plötzlich 'facilities' heißt, Wirtschaft & Verwaltung auf devil komm raus outsourcen, der Autovermieter Sixt es harder als andere tried ... und wo Leute, die dieses amüsant-ärgerliche Denglisch als provienziell belächeln, als 'unsophisticated' bezeichnet werden.

Sicher waren in der DDR die Dinge des täglichen Lebens spottbillig - ein Brötchen 5 Pfennig, eine Strassenbahnfahrt 20 Pfennig, ein Bier in der Kneipe fünfzig Pfennig, für unsere hochherrschaftlich 120 qm-6Zimmer Wohnung 115 Mark - aber alles was über die täglichen, allereinfachsten Bedürfnisse hinausging war entweder nicht vorhanden, nur gegen DM erhältlich oder unbezahlbar. Für unseren ersten echten Luxusgegenstand - einen kleinen Farbfernseher mit sechs von Hand zu schaltenden Programmen - mussten meine Mutter Annemarie und ihr zweiter Mann Bringfried 6000 Ostmark auf den Tisch legen, fast ein komplettes Facharbeiter-Jahresgehalt. Aber hey, jetzt war die Fernsehcouch tatsächlich wieder der Ort, wo die ganze Familie zusammenkam. Farbe! Urst fetzig.


Und wir Ostdeutschen waren unglaublich ausgehungert nach wenigstens einem klitzekleinen Zipfelchen Luxus, nach etwas, dass über Schlagersüßtafel und Schneejeans hinausging - und diese Dinge gab es nur gegen 'harte' (wie wir selten hinzuzufügen vergaßen) D-Mark im Intershop zu kaufen. Ach, den Geruch des Intershops werde ich mein Lebtag nicht vergessen. In perfekt ausgeleuchteten, noblen Ambiente lagen all der Luxus dieser Welt - Coca Cola, Westschallplatten, echte Schokolade, Pall Mall, Whisky, Schnapskaraffen aus Kristallglas und viele viele Schätze mehr - und dieser süße, betäubende Duft des Intershops, diese olfaktorische Mischung aus Waschmittel, Kaugummi, Kaffee, Tabak und Hochglanzbroschüren, versetzte uns jedesmal beim betreten in eine gespannte, fast schon euphorische Stimmung, in pure Aufregung.


D-Mark war DAS Zauberwort, das in der DDR alle Türen öffnete. Schon mit fünfzig Westpfennig war man dabei und konnte den kleinsten Forumcheck kaufen - jene 'Banknote', die als ausschließliches Zahlungsmittel im Intershop akzeptiert wurde. Drei D-Mark waren bei uns Jugendlichen eine echte Hausmarke und mit zehn D-Mark war man reich. Zu meiner Jugendweihe bekam ich von Bringfrieds Schwester Siglinde und ihren Mann Ralf aus Ludwigshafen 25 D-Mark geschenkt - was mich wie Rockefeller fühlen ließ.

Gottverdammte hundert D-Mark!!!!

Als meine Mutter Annemarie, die auf das Zubrot aus dem in der DDR üblichen 'Zimmer vermieten' angewiesen war, eines schönen Tages beim Badeofen anheizen von einem gerade eingecheckten Messegast mit den Worten überrascht wurde, dass er gleich bezahlen möchte, und er ihr hundert Mark West statt hundert Mark Ost in die Hand drückte, stand sie wie vom Schlag gerührt da, fand ihre Sprache erst nach langer Zeit wieder.
 So, wie meine Mutter sich in diesem Moment fühlte, müssen sich vor 150 Jahre am Klondike-River in Alaska Goldsucher gefühlt haben, die nach Goldsand schürften und urplötzlich auf taubeneigroße Nuggets stießen. Das endlose, fassungslose, betäubte Schweigen vor dem Freudenschrei.
 GOTTVERDAMMTE HUNDERT D-MARK!!!!

Diesen Sprung auf der Zeitachse zurück in eine Ära, als uns das Zeitalter des 'Real Existierenden Sozialismus' wie angelegt für die Ewigkeit vorkam, musste sein, denn leider/zum Glück (der geneigte Leser mag je nach eigenem Gusto das eine oder das andere streichen) ging dem 'Real Existierenden Sozialismus' schon nach 40 Jahren die Puste aus und ich wollte euch gerne den Stellenwert, den Status, die fast schon göttliche Aura begreifbar machen, welches die D-Mark für uns Ostdeutsche umgab.

Und damit springen wir zurück in den Frühsommer 1990, als - noch vor der Wiedervereinigung - die Einführung der DM unmittelbar bevorstand.
Der zu DDR-Zeiten marktgerechte Umtauschkurs DDR-Mark zu D-Mark betrug etwa 5:1, vorausgesetzt, man fand jemand, der bereit war, einem D-Mark zu verkaufen. Der offizielle war da mit 1:1 weit günstiger, hatte allerdings einen kleinen Haken, einen winzigen Pferdefuß. Er funktionierte nur in eine Richtung. Wir durften keine DM kaufen, die in die DDR einreisenden Westdeutschen MUSSTEN allerdings pro Tag zwangsweise 25 harte Mark zum offiziellen Kurs in unsere Aluchips tauschen. Allerdings nur bei der Einreise. Bei der Ausreise mussten sie ihre übriggebliebenen Aluchips zum Marktkurs von 5:1 in D-Mark zurücktauschen, wenn sie nicht wegen illegaler Ausfuhr von Mark der DDR verhaftet werden wollten.

Klingt wie eine gute Geschäftsidee und war es auch, viereinhalb Milliarden dringend benötigter Devisen nahmen unsere roten Bonzen im Laufe der Dekaden mit diesem Raubrittertum ein. Zusammen mit den Milliarden von ihren anderen mafiösen Geschäftsfeldern, nämlich dem Verkauf von politischen Gefangenen oder von geraubter Kunst in den Westen und nicht zuletzt mit dem von F.J.Strauss eingefädelten Milliardenkredit, konnte sich die DDR zumindest bis 89 mehr schlecht als recht über Wasser halten. Aber ich glaube, ohne die in meiner geliebten Heimatstadt Leipzig eingeleitete Wende wären die in unserer recht offenen, überraschend kritischen und deswegen so überaus beliebten monatlichen Satirezeitung 'Eulenspiegel' abgedruckten, sarkastisch verfremdeten Propagandasprüche ala "Von der Sowjetunion lernen heißt siechen lernen" (Originalparole: "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen") oder "Ruinen schaffen ohne Waffen" (Originalparole:"Frieden schaffen ohne Waffen") schon sehr bald traurige Wirklichkeit geworden.


Glücklicherweise hatte ich kein Geld. Ich hätte mich vermutlich sehr geärgert.

Und jetzt, am erstem Wochenende nach der Maueröffnung, stand der Umtausch-Kurs schon bei 1:10. Am zweiten Wochenende in Freiheit, dass ich in Ludwigshafen bei meiner im Sommer geflüchteten Mama und ihrem bereits 87 nicht von einer Besuchsreise zurückgekommenen Mann Bringfried verbrachte, schnellte der Kurs auf 1:20 hoch, was Bringfrieds Schwager Ralf, einem selbsternannten Finanzexperten und - wie wir uns all die Jahre ehrfürchtig zuraunten - Geschäftsmann, dazu veranlasste, mich händeringend davon zu überzeugen, dass ich jetzt all meine Ersparnisse in Wertgegenstände wie einen Farbfernseher investieren sollte, da ich mir mit meinem Geld vermutlich nächstes Wochenende schon "nur noch den Arsch abwischen kann".

Glücklicherweise hatte ich kein Geld. Ich hätte mich vermutlich sehr geärgert. Denn plötzlich dampfte die Lok in die völlig entgegengesetzte Richtung. In jenen ersten Tagen der offenen Grenzen verließen täglich zwischen zweitausend und dreitausend Menschen die DDR und unter diesem Druck, dieser Abstimmung mit dem Füßen, preschte der westdeutsche Kanzler Helmuth Kohl plötzlich beherzt vor. Plötzlich war von Wiedervereinigung und Währungsunion die Rede. Währungsunion! Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. DIE!!! D-Mark sollte plötzlich auch unser Geld werden. Und zwar nicht als Silberstreif am Horizont, sondern quasi übermorgen. Und zwar nicht im Kurs 20:1, nicht im Kurs 10:1, nicht 5:1 sondern 1:1 bei Sparguthaben bis 2000 Mark. Darüber hinaus gehende Guthaben plante die Bundesregierung zum Kurs von 2:1 in D-Mark umzutauschen.


Eigentlich ein Grund, um vor Freude an die Decke zu springen! 
Eigentlich. 
Allerdings fand ich in jenen Monaten die sich plötzlich rasant vermehrende Leipziger Anarcho- und Hausbesetzerszene unglaublich faszinierend und meine aus Trotz über Kohls Überrumpelungstaktik (wie ich es damals zumindest empfand) neuentdeckte politische Liebe, die von einem eloquenten, schlagfertigen Ostberliner Rechtsanwalt namens Gysi zur SED/PDS gewendete SED - gegen die ich all die Wochen zuvor auf die Straße gegangen war - ließ sich natürlich nicht die Gelegenheit entgehen, diesen Umtauschkurs von 2:1 für Sparguthaben über 2000 Ostmark, bei dem wir Ostdeutschen vor einem halben Jahr noch vor Dankbarkeit weinend zusammengebrochen wären, als Inbegriff von Ausbeutung, sozialer Kälte und Degradierung 40 Jahre ostdeutschen Lebensleistung anzuprangern. Tja, der blutrünstige, verschlagene Sheriff von Nottingham erfand sich nur Stunden nach seiner Entmachtung als Sir Robin von Loxley aus dem Sherwood Forest neu und kaum einer fand an dieser Groteske etwas auszusetzen, am allerwenigsten ich.

Sei es, wie es sei, in allen DDR-Familien wurde plötzlich hektisch Kontostände abgeglichen und Beträge hin- und her überwiesen. In unserer Familie, in der nur unsere Omama, die Schriftstellerin Elisabeth Hering - (in Familienkreisen scherzhafterweise als 'die Bank von England' bezeichnet) über erwähnenswerte Geldmittel verfügte, übernahm meine Tante Wilmi die Aufgabe, allen Familienmitglieder aus Omamas Vermögen das Konto auf 2000 Mark aufzufüllen, um die überwiesene Summe abzüglich einer fairen Provision nach erfolgter 1:1 Umstellung wieder zurücktransferieren zu können. Wir wollten nicht auch nur auf eine einzige verdammte D-Mark verzichten. Nicht auf eine!

Unsere Omama war plötzlich die Bank von England

Und wie es halt so ist, wenn es läuft, dann läufts. Plötzlich hatte ich auch meine erste feste Freundin. Ich meine, eine RICHTIGE Freundin. Nicht nur sturzbesoffen auf irgendwelchen Partys rumfummeln, wo an alles über Petting hinausgehende nicht zu denken ist, weil sich die Welt wie ein verschwommener Kreisel um einen dreht, man es schon als körperliche Leistung betrachtet, dem anderen beim knutschen nicht schwallend in den Rachen zu kotzen und die nächste Erektion schon vor drei Stunden die schriftliche Notiz hinterlegt hat, sie bitte nicht vor morgen Mittag anzurufen.
 Nein, wir 'gingen miteinander' ... so lautete damals die korrekte Bezeichnung .
Kerstin und ich lernten uns beim gemeinsamen Molotow-Cocktail bauen kennen, auf dem Dach eines der besetzten Häuser in der Stöckertstrasse, mitten in 'Notorious Connewitz' gelegen, wo ich in jenen Tagen permanent abhing, weil ich nach den verklemmten DDR-Jahren mit ihrem eingeforderten Kadavergehorsam die Atmosphäre von bunter, planloser Anarchie, von Aufbruch zu neuen Ufern, einfach nur unwiderstehlich fand, und mein Bruder Karsten zu den ersten Hausbesetzern zählte.

Denn jetzt, in diesen ersten wilden freien Wochen, kam eine Menge unappetitliches hervorgequollen, dass besser weiterhin still unter dem Teppich vor sich hingestunken hätte. Die ganze Stadt wimmelte plötzlich von Nazis. Wir wussten gar nicht, wo die plötzlich alle herkamen. Denn Nazis, dass hatten uns zumindest die Genossen immer erklärt - so etwas gab es doch nur im Kapitalismus. Wenn du jetzt furchtlos&unbeeindruckt mit den Achseln zuckst, zeigt mir das sehr deutlich, dass du ein Kind des Jahres 2015 bist. Nein, ich rede hier nicht von zumeist harmlosen älteren Herren, die den Euro, Gender Mainstreaming, offene Grenzen, Energiewende oder die Vereinigten Staaten lautstark ablehnen, und die man völlig gefahrlos überbrüllen oder bespucken&bewerfen kann.

Ich rede von tatsächlichen Nazis, die dir einfach im vorbeilaufen in die Fresse klatschen. Die zu viert aus dem Auto springen und auf dich eintreten. Ich rede von Hakenkreuzen, Hitlergruß, muskelprotzenden Skinheads, bomberjackentragenden Faschos mit Adolf-Haarschnitt, Schlagringen, Baseballschlägern undsoweiter. Es war beängstigend in jenen Tagen, ich ging immer nur mit durchgeladener Schreckschusspistole aus dem Haus, behielt ständig die Umwelt im Auge. Und die besetzten Häuser in der Stöckertstrasse waren damals immer schnell in Panik zu versetzen. Es reichte, wenn ein einziger behauptete, er hätte grade aus dem Auto heraus gesehen, wie sich die 'Reudnitzer Rechte' oder andere Nazi-Gangs versammelten ... und schon fand man sich auf dem Dach wieder, um Mollys und Pflastersteinhaufen zu bauen. Immer umsonst, der Feind kam nie - aber egal.

Ich lernte beim Bierflaschenbefüllen (zweidrittel Heizöl, ein Drittel Benzin) Kerstin kennen, dass war mir den Fehlalarm wert. Die Zusammenkünfte in den Besetzer-Wohnungen, die illegalen 'Uffta-Uffta-Schrammelpunkkonzerte' in den Stö-Innenhöfen, und die heißblütigen Diskussionen mit den anderen Linksintellektuellen im fortgeschrittenen Teenageralter oder den von der Weisheit eines langen Lebens gekennzeichneten Mitzwanziger-Philosophen, welche wir in den neu entstandenen Kneipen wie dem 'Backwahn' oder der 'LiWi' führten, konnten mich allerdings nicht völlig dazu bewegen, dem Gift des Materialismus zu entsagen. Am Abend des 1.Juli, ein Sonntag, schlenderte ich mit Kerstin durch die Leipziger Innenstadt, um uns die Vorbereitungen für das morgen zu erwartende Spektakel anzuschauen. In den Schaufenstern der Geschäfte wurde mit Ameiseneifer der alte, mausgraue DDR-Plunder heraus und die neue kapitalistische Glitzerwelt hineingeräumt. All unsere Läden und Geschäfte wurden in jener Nacht zum Intershop umgebaut.
Die D-Mark war da!
 Endlich!

Mit dem Konzept des "aufschwatzen" waren wir einfach nicht vertraut.

Leider merkten wir sehr sehr schnell, dass mit der D-Mark nicht nur dass große Einkaufsglück kam, sondern auch die halbseidenen, schmierigen Glücksritter aus dem Westen. Jene dröhnenden, endlosschwadronierenden Lautsprecher, die - völlig zu Unrecht - das Wessi-Bild vieler Ostdeutscher prägten und in Ostdeutschland den Witz prägten, dass die Westdeutschen aus dem Grund 13 statt 12 Jahre bis zum Abitur brauchen, weil ein Zusatzjahr Schauspiel-Unterricht dabei ist. Plötzlich marschierte im Tagestakt Drückerkolonnen durch unser Haus in der Kantstrasse 5 ... und wir verdrucksten, vermuggelten, trutschigen Ossis waren dieser Invasion völlig wehrlos ausgeliefert.

Zum einen waren wir zu dooflieb&höflich, um einfach laut und deutlich "Nein, danke" sagen zu können; zum anderen liebten wir Eingeborenen tatsächlich die Glasperlen, die uns im Tausch gegen Edelmetall von den weißen Seeleuten angeboten wurden, die von Bord der Santa Maria zu uns an den Strand kamen - und wir waren in jenen ersten Monaten nicht darauf vorbereitet, die Psychospielchen der Verkäufer zu durchschauen. Woher denn auch? Bis vor wenigen Tagen hatten wir schließlich in einem Land gelebt, wo wir Kunden oft genug den Verkäufern ihre 'Bückware' abschwatzen mussten. Mit dem Konzept des "aufschwatzen" waren wir einfach nicht vertraut.


So kaufte meine Mutter dem beredten Herrn mit der Alkoholfahne ein Stern-Abo ab, weil ein Teil des Erlöses an die Kindernothilfe ging, wie er ernsthaft versicherte. Ich ließ mir eine Lebensversicherung aufschwatzen, weil ich mich einfach nur schlecht gefühlt hätte, wenn der Herr mir gegenüber - der mir jetzt schon seit einer Minute den Kuli hinhielt und mir dabei zusammen mit seiner Partnerin wortlos und durchdringend in die Augen starrte - jetzt zwei Stunden seiner kostbaren Zeit verschwendet hätte, um mir meine gesicherte finanzielle Zukunft bis ins letzte Detail zu erklären, ohne dass ich wenigsten auch eine kleine Gegenleistung bringe und ihm endlich seinen Vertrag unterschreibe.

Meine Oma Erna Minna war 'spitz wie Nachbars Lumpi' auf ihren im Briefkasten gefundenen 5000 D-Mark Rubbelgewinn, zu dessen "Einlösung" man allerdings etwas bestimmtes kaufen und beachten musste, dass ... ähm, keine Ahnung, an diesen Stellen am unteren Ende der Werbung wurde die Schrift immer so unlesbar klein. Überall auf freiem Feld, Brachen oder Hinterhöfen schossen provisorische "Autohäuser" aus dem Boden, wo westdeutsche Händler ihre zuhause unverkäufliche C-Ware für gutes Geld an den Mann brachten.

Westdeutsche Käufer strömten ins Land, um sich die Rosinen unter den Immobilien und Firmen für kleines Geld und große Versprechen unter den Nagel zu reißen. Ja, ich erinnere mich sogar an einen akuten Ausbruch von Gelbfleckenfieber in Leipzig, tausende und abertausende bemitleidenswerter Seelen waren betroffen. Tschibo verteilte runde, gelbe 'Oh, frische Bohnen-Aufklebern', die man sich - sofern man Interesse hatte, einen Mercedes zu gewinnen - an gut sichtbarer Stelle auf die Kleidung, die Aktentasche oder denn Rucksack kleben und darauf warten sollte, vom 'Undercover Tschibo-Agenten' angesprochen zu werden. Und prompt beklebte sich halb Leipzig mit gelben Aufklebern - in der vagen Hoffnung, von 00Tschibo angesprochen und in einen glücklichen Mercedesfahrer verwandelt zu werden.


Mit der Eleganz betrunkener Bärenkinder auf ungewohnter Tanzfläche

Wenn man Freunde oder Verwandte anrief, melden die sich am Telefon plötzlich nicht mehr wie gewohnt mit "Meier" oder "Schulz", sondern mit einem vor Erregung zitternden: "Radio soundso, die beste Musik! Jeden Tag, den ganzen Tag!" 
An den Strassenrändern standen plötzlich Autos mit westlichen Kennzeichen, die aus dem Kofferraum heraus heißbegehrte Ware verkauften, meist Pornos. Die 20 DM für unser erstes 'Happy Weekend' brachte meine 'Schweißerbrigade des HKW Ernst Thälmann' gemeinsam auf, und dann standen wir in der Werkstatt um die Richtplatte, grölten, brüllten und stierten auf die Bilder und ihre dazugehörigen Anzeigentexte: "40-jährige Stute sucht erfahrenen Hengst, um ihr immerjuckendes Großarschloch mit allen möglichen und unmöglichen Ding zu befriedigen. Mindestschwanzgröße 20 cm."


So stellte sich der Westen im Osten vor. 
Der blanke Rinderwahn brach aus, denn der Tanz ums goldene Kalb hatte begonnen - und wir Ossi bewegten uns auf dieser neuen, ungewohnten Tanzfläche mit der Eleganz von betrunkenen Bärenkinder auf spiegelglatten Eis. Wenn wir dabei wenigstens ein schönes, gepflegtes, geschmeidiges Fell gehabt hätten, auf das die Tapsigkeit unserer Bewegungen nicht so ins Gewicht fällt ... doch - oje - nicht einmal das. Bei jungen ostdeutschen Herren war der Vokuhila-Oliba beliebt, bei den Damen die ondulierte Fönwelle. Schneejeans waren heißer Scheiß, ich liebte meinen braunen Streifencordanzug, noch Mitte der Achtziger war der sichtbar in der Arschtasche steckende Stielkamm ein modisches Accessoire, vergleichbar heute der ins Haar hochgesteckten 400 Euro-Markensonnenbrille ... und ich war als 14-jähriger wochenlang in einen einteiligen silbernen Glitzer-Anzug verliebt, der im Schaufenster unseres Exquisit-Modehauses hing und mich davon träumen ließ, oberlässig gewandet über die Tanzfläche der Schuldisco zu gleiten, welche gelegentlich im nach Kohl und chemisch geschälten Kartoffeln müffelnden unterirdischen Speiseraum meiner Schule stattfand.

Ich will euch also nichts vormachen. Wir waren in jenen Wendetagen unter ästhetischen Gesichtspunkten vollumfänglich ein Witz, eine Zumutung ... was uns die stilbewusst gekleideten und geschliffen formulierenden Edelfedern der Münchener, Hamburger oder Frankfurter Redaktionsstuben auch deutlich in ihren Artikeln spüren ließen.

Und so, wie 1945 nach dem Abzug der amerikanerischen Jeeps und Panzer die Russen in Pferdefuhrwerken in Leipzig einmarschierten, so rumpelte plötzlich eine Invasionsarmee aus alten Wohnwagen mit in den Fenster geklebten Herzen durch die Stadt und stellte sich, ein Wohnwagen hinter dem anderen, in der Roscherstrasse am Kraftwerk auf, unweit des Hauptbahnhofes. 
Ihr Inhalt?
 Als studierter Human-Ornithologe bin ich versucht, es so auszudrücken. In jenen Tagen wurde nach dem 'Wendehals' noch eine zweite neue Vogelart auf dem Gebiet Ostdeutschlands heimisch - die Bordsteinschwalbe.


Keine D-Mark für etwas, was es zuhause umsonst gab

Da standen sie also, die Damen des horizontalen Gewerbes, betrachteten mit wenig Begeisterung unsere derben Malocherfressen, während wir realisierten, dass das uns bis vor einem halben Jahr unbekannte Wort 'Einführungspreise' offensichtlich noch eine zweite Bedeutung hatte - und das es trotz harter DM offensichtlich immer noch 'Bückware' gibt. Aber als Kundschaft waren wir vermutlich eine Enttäuschung. Die meisten von uns kleinen Leuten - und in der DDR gab es eigentlich nur kleine Leute - waren viel zu geizig, harte D-Mark für etwas rauszurücken, was es zuhause umsonst gab.

Bei mir kam erschwerend hinzu, dass ich in meinem neuem Job, als Reparaturschweißer im 'Heizkraftwerk Ernst Thälmann', so wenig Geld verdiente, dass an mehr als 'Fünf Minuten Muschi zeigen' eh nicht zu denken gewesen wäre. Aber zum kostenlosen 'in-den-Ausschnitt-glotzen' kamen wir oft und gerne.
 Aber ich schaffte es trotzdem problemlos, sowohl bereitwillig&freudig den Verlockungen des Kapitalismus zu erliegen als auch lautstark dagegen zu protestieren.

Mein alter Metal-Look musste von Bord. Metallica, Maiden, Priest und Manowar hatten ausgedient, das Pentagramm verschwand im Schrank. Denn als neugewonnener Anhänger der Ideen von Mühsam&Bakunin, der anarchistischen Version von Marx&Engels, kam nur noch eine Musik in Frage. ÄHN WEI ÄTSCH ZI! New York Hard Core. Ab jetzt knüppelten mir im Leipziger Szeneschuppen Nr.1, dem 'Conney Island' beinahe im Wochentakt Bands wie die 'Cro Mags', 'Madball', 'Agnostic Front', 'Youth of Today', 'Pro Pain', 'Sick of it all', 'Biohazard' oder 'Gorilla Biscuits' existenzielle Weisheiten der linken Szene um die Ohren. Statt kill und evil/ death und slash/da hieß es plötzlich 'Fuck' und 'Smash'

"Fuck the System", "Fuck the Cops", "Smash Capitalism", "Smash the Machine" etc.pp. Ich und die vielen anderen Linksintellektuellen im Teenageralter fanden das einfach nur grandios. Kritisch, authentisch, kompromisslos, wild. NYHC war die Speerspitze des Widerstands, und ich wollte dazugehören. Auch optisch. Die linke Hälfte meiner Metallermatte wurde kahl geschoren, die Hosen zerfetzt, ich trug nur noch meine längsgestreiften DDR-Schweißerhemden, um die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse zu betonen. Kurz und gut, ich sah aus wie eines der Kinder vom Bahnhof Zoo - was allerdings neue Missverständnisse nach sich zog. Mit diesem Aussehen wurde ich plötzlich von dubiosen Leuten im vorbeilaufen angezischelt und angetuschelt. Es klang wie das zischen einer alten Dampflok.
"Sche Sche Sche. Hey, tz, Sche Sche Sche, tz tz, hey schschsch schschsch tz"
Irgendwann konnte ich schließlich phonetisch auseinanderklamüsern, dass diese Leute: "Haschisch, Haschisch??" zischelten ... aber das machte es nicht wirklich besser.


Wie alle Linken titulierte auch ich Kohl pflichtgemäß mit "Birne" oder "Tölpel"

Glaubt es mir oder lasst es bleiben, aber ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was dieses Wort bedeutet. In einer meiner Stammkneipen saß neben mir ein Iro-Punk, griente mich breit an und zeigte mir mit der rechten Hand den nach oben gereckten Daumen, während er mit der linken immer und immer wieder auf einen großen Button mit einer grünen, fünfblättrigen Pflanze deutete und mich Reaktion heischend anstarrte ... und ich spürte einfach nur pure, blanke Ratlosigkeit, weil ich nicht die allerleiseste Ahnung hatte, was all diese merkwürdigen Leute eigentlich von mir wollen.
Aber nach ein paar Tagen hatte ich es gerafft. Hurra, hurra, die Drogen waren da - auch wenn sie offensichtlich nicht jedem gut bekamen. Aber dazu muss ich länger ausholen.

Die jungen Leute von heute kennen Helmuth Kohl nur noch als siechen Greis im Rollstuhl. Mir ist Helmuth Kohl anders in Erinnerung geblieben. Ein Koloss, eine deutschen Eiche. Der ewige Kanzler meiner Adoleszenz. 16 Jahre an der Macht, länger als jeder Kanzler vor ihm, und, seit unsere hochverehrte Frau König entschied, die Tür sperrangelweit zu öffnen und zur großen Begeisterung ihrer Untertanen die Welt hereinzubitten, vermutlich auch länger als jeder Kanzler nach ihm. Die Machtmaschine. Der Riese, der alle neben ihm zu Zwergen degradierte - nicht nur körperlich. Oder, wie es das Nachrichtenmagazin SPIEGEL auf seinem Cover fett titelte: "DER BÜRGERKING".

Wie alle Linken titulierte auch ich ihn pflichtgemäß mit "Birne" oder "Tölpel", aber ich muss sagen, Kohl flößte mir schnell Respekt ein. Bei einer CDU-Freiluftveranstaltung in Halle, wo man sich immer darauf verlassen konnte, dass dutzende Leute wie ich auftauchen würde, um zu stören und zu provozieren, wurde er von einem - wie man es euphemistisch nennt - "Gegendemonstranten" mit einem Ei am Kopf getroffen ... und wie ein wütender Stier marschierte der von seinen Leibwächtern nicht zu stoppende Kohl los, mitten hinein in den Block der roten Pöbler, um dem Schuldigen höchstpersönlich die Fresse zu polieren. Kohl hatte Eier und Unbeirrbarkeit, dass musste man ihm lassen.

Und er schaffte es, im Frühjahr 1990 dreihunderttausend Menschen zur Wahlveranstaltung der Allianz für Deutschland in Leipzig zu mobilisieren, jener Allianz für Deutschland, die Kohl aus der CDU, der Ost-Blockflöten-CDU und den beiden neuen, unbelasteten konservativen Splitterparteien Demokratischer Aufbruch DA und Deutsche Soziale Union, DSU, geschmiedet hatte. 300.000!!!!!
 Und jetzt möchte ich den Kreis sich schließen lassen und zum Ausgangspunkt zurückkommen. Drogen. Diese schon erwähnte Splitterpartei Demokratischer Aufbruch hatte einen Vorsitzenden Namens Wolfgang Schnur, in der DDR Rechtsanwalt aus dem Dunstkreis der evangelischen Kirche. Jener Wolfgang Schnur lief bei einer Veranstaltung des DA in Halle vor ein paar hundert Leuten dermaßen zu Höchstform auf, berauschte sich dermaßen an sich selbst, dass er mit sich überschlagender Stimme folgenden Satz für die Fußnoten der Geschichtsbücher in das Mikrophon brüllte: "UND LASSEN SIE MICH EINES GESAGT SEIN; MEINE DAMEN UND HERREN: VOR IHNEN STEHT IHR NEUER BUNDESKANZLER!"
 Keine Ahnung, was er nahm und auf welchen Weg Kamerad Schnur die Musik hereingebeten hatte, ob durch Nase, Mund oder straight durch den roten City-Tunnel ... aber von dem Zeug hätte ich auch gerne einmal ein halbes Gramm probiert.

Was neben solchen amüsanten Episoden eher schockierte, war die Erkenntnis, wie weit "Firma Horch&Guck", wie wir die Stasi nannten, das ganze Land in ein Volk von Spitzeln und Zuträgern verwandelt hatte.
Ebenjenem Wolfgang Schnur wurde "die schon fast sichere Kanzlerschaft" dadurch entrissen, dass er als kleiner, schäbiger Spitzel enttarnt wurde. Aber das verblüffte bei Schnur, der auch ohne Maske und Schnorchelgeräusche wie Darth Vader wirkte, nur wenige. Was schmerzte, war die Enttarnung von Hoffnungsträger Ibrahim Böhme, Gründer der Ost-SPD, eine Lichtgestalt der DDR-Dissidentenszene. Was schockierte, war die Enttarnung von Knud Wollenberger, der seit 1982 seine eigene Frau Vera bespitzelte, spätere Gründerin der Oppositionsgruppe 'Kirche von Unten'. Was muss das für die Frau für ein Schock gewesen sein, in ihrer Stasi-Akte zu entdecken, dass derjenige, der jahrelang Berichte über sie beim Geheimdienst ablieferte, niemand anders als ihr eigener Mann war. Nun, sie ließ sich scheiden, nahm wieder ihren Mädchennamen Lengsfeld an und landete schließlich für die CDU im Bundestag. Aber das nur am Rande.

Was mich verzweifeln ließ, war die Enttarnung meines Lieblingsautoren Stefan Schwarz

Was mich verzweifeln ließ, war die Enttarnung meines Lieblingsautoren Stefan Schwarz. Schwarz war ein unglaublich witziger Journalist, ein Juwel. Sprachwitz, Lockerheit, feine Ironie,Sarkasmus. Seine Kolumnen verschlang ich regelrecht. Und dann stellte sich heraus, dass selbst Schwarz für die Stasi gearbeitet hatte. Nicht als 'Informeller Mitarbeiter' IM, sondern als 'Offizier im besonderen Einsatz', OibE. Heute würde man die OibE vermutlich als 'Schläfer' bezeichnen. Offiziere, die wegen ihrer besonderen Linientreue ausgewählt, ausgebildet und mit Legenden ins Privatleben zurückgeschickt wurden, um bei Bedarf für Geheimaufträge aktiviert zu werden. Und von einer Sekunde auf die andere verwandelten sich für mich all die wunderbar ironischen Texte über DDR- und Wendethemen meines Lieblingsschreibers in hässlichen schwarzen Zynismus. Heute ist dieser Stefan Schwarz übrigens wieder ein gefeierter humoristischer Autor, der gutbesuchte Lesungen hält - was für mich absolut okay ist ... und der beim MDR als Autor mitwirkt an "Sedwitz - die komödiantische Serie zum Mauerfall", einer "Satire" zum blutigen DDR-Grenzregime ... wo ich mir einfach nur den Finger in den Hals stecken möchte. Aber so ist wohl die Menschheit - mit dem Erinnerungsvermögen von Fruchtfliegen ausgestattet.

Wohin man also auch schaute in jenen Tagen, Spitzel, Spitzel, Spitzel. Kein Tag, an dem nicht alte Selbstverpflichtungen von ehemaligen Oppositionellen der Presse zugespielt oder von entsetzten Angehörigen/Freunden/Kollegen in der eigenen Stasi-Akte entdeckt wurden. Und die Spitzel und Mauerschützen waren weißgott noch nicht der Bodensatz. Es gibt - auch wenn das Verfahren eingestellt wurde - weit mehr als nur den begründeten Anfangsverdacht, dass die an Krebs verstorbenen DDR-Bürgerrechtler Jürgen Fuchs, Rudolf Bahro, Gerolf Pannach und Rudolf Tschäpe vorsätzlich durch die Staatssicherheit radioaktiv verstrahlt wurden. Wenn du, lieber Leser, mehr herausfinden möchtest - Google ist dein Freund.

Nachdem sich das erste revolutionäre Feuer wieder gelegt hatte, verlor ich dann doch wieder schnell das Interesse an der linken Szene. Irgendwann hörten sich die Sprüche, die mir anfänglich so imponiert hatten, als genau das an, was sie waren - auswendig gelernte Phrasen ohne Bezug zur Realität. Imponiergeplapper von Leuten, die wussten, dass sie nie in die Nähe der Verlegenheit kommen würden, auch nur eine ihrer oberflächlich-gutklingenden Parolen in die Tat umsetzen zu müssen. Als dann noch 'Panne', eine langhaarige, gutaussehende Szenegröße und Sohn eines Stasigenerals, in Diskussionen die RAF-Morde als 'Hinrichtungen' und 'notwendige Härten' bezeichnete und aus Berlin angereiste Antifas von 'Bordsteinkicks' berichteten oder vom 'ewigen Lächeln', dass mit einem Messer in die Mundwinkel geschnitzt wird, hatte ich genug. Ich beschloss, dass die Weltrevolution auch ohne mich zurechtkommen muss und entschied mich, wieder zu meinem alten Leben zurückzukehren. Bier trinken und Metal hören, Metal hören und Bier trinken ... und biken, Yiiiihaa!

Kein 14PS-Einzylinder/Zweitakt-Röngtöngtöng, sondern WWRRRUUUUUMM!!!

Denn, unglaublich aber wahr, plötzlich konnte jedermann auf der Bank einen Kredit aufnehmen! Ich glühte. Jahrelang hatten wir Jungs mit Motorrad-Quartettkarten gespielt, sehnsuchtsvoll auf die Bilder heißer Öfen geschaut, von denen wir wussten, dass wir nie im Leben die Chance bekommen würden, sie uns einmal in natura anzuschauen. Und jetzt redeten wir nicht von anschauen, sondern von besitzen. Kein 14PS-Einzylinder/Zweitakt-Röngtöngtöng, sondern WWRRRUUUUUMM!!! Mein Gott, war ich selig, von meiner neuen Suzuki GS 500 zu steigen, das knacken des heißen, ausgeschalteten Motors zu hören, das frische Leder und das Plastik zu riechen und zärtlich die Fliegen von der Lampe zu wischen.


Die ersten Dienstwochen des neuen Polizeipräsidenten, der wie allen Leipziger Spitzenbeamten per 'Buschzulage' aus dem Westen gelockt wurde, waren ein einziges Ärgernis, eine einzige Provokation für den Mann. Denn die Leipziger schienen Gefallen dran gefunden zu haben, dass sich die PS-Zahlen unter ihrem Hintern verfünfacht hatten. In jenen ersten Wochen pegelte sich das Durchschnittstempo des Leipziger Stadtverkehr auf 70-80 km/h ein (ich will Spaß/ ich will Spaß/ich geb Gas/ich geb Gas) und unser oberster 4-Goldstern-Grünrock war nur noch am jammern und wehklagen ob der Disziplinlosigkeit der Ostdeutschen. Wäre er nur ein einziges Mal mit uns in die Roscherstrasse gefahren, wäre ihm ein Licht aufgegangen. Einfach aller dreißig Meter eine geile Schlampe an den Strassenrand stellen und die Leute fahren freiwillig und gerne 30. It's really just that simple, dude!

Aber ich kön ...
MEINE FRESSE, ICH GEH FEST!!!
Sorry, aber grade eben ist mir eingefallen, wie ich das derzeitige Chaos in Deutschland beenden kann. Wie es sich doch manchmal auszahlen kann, als Ossi einen Scheissgeschmack zu haben. Es gab noch eine ungebeichtete Sünde der Wendetage. Mein damaliger Filmgeschmack. Baywatch, Police Academy, Rambo, Terminator, Jean Claude van Damme, Batman ... und Zurück in die Zukunft. Na, klingelt's ... ? Marty McFly müsste bald in seiner Zeitmaschine in Hill Valley auftauchen. Ich muss Marty überreden, mich ins Berlin des Jahres 1989 zu beatmen zu dem verfallenen Mietshaus in der Marienburger Straße 12 im Prenzlauer Berg.

Und zwar muss Marty in den Bordcomputer seines umgebauten De Lorean DMC-12 den 04.12.89 11:00 Uhr einstellen, damit ich das junge, unscheinbare Mädchen abfangen kann, das dort gleich im Berliner Büro des Demokratischen Aufbruch klingelt, um sich zu erkundigen, ob sie helfen kann. Ich werde vor ihr niederknien und sagen:"Angela, ich habe nur eine Minute und es ist sehr sehr wichtig, dass du mir zuhörst. Ich komme aus der Zukunft, aus dem Jahr 2016, mit EXISTENZIELLEN Informationen für dich. Es wird hier nicht lange bei deinem kleinen Ehrenamt bleiben. Du wirst schon sehr bald im persönlichen Umfeld von Wolfgang Schnur landen, wirst Pressesprecherin der Partei, Schnur stellt dich Lothar de Maiziere vor, unser Ministerpräsident stellt dich Kohl vor, in einem halben Jahr bist du Bundestagsabgeordnete und Ministerin.

Du wirst Gottvater Helmuth Kohl stürzen, den Parteivorsitz übernehmen, alle Andenpakt-Alphamännchen der Union wegbeißen. Du wirst Schäuble ins zweite Glied drücken, Bundeskanzlerin werden, dass Forbes-Magazin wird dich zweimal hintereinander zur mächtigsten Frau und zum fünftmächtigsten Menschen der Welt küren. Du wirst ganz Europa deinen Willen aufzwängen, und es muss dich nicht stören, dass Millionen Südeuropäer gegen dich protestieren und dich als Domina-Hitler und Hitlerdomina darstellen. Bis zu diesem Punkt machst du mehr richtig als falsch. Aber niemals, NIEMALS in deinem Leben darfst du vor einer Kamera den Satz sagen, dass "Deutschland aus humanitären Gründen vorübergehend Dublin zwei aussetzt", oder du riskierst die Zukunft Europas.
 Haut rein, Leute, ich muss meinen Flieger nach Kalifornien kriegen. Vielleicht glaubt mir die schüchterne junge Frau jener Tage am Ende gar nicht, aber ich muss es zumindest versuchen!

Foto: Deutsche Fotothek‎ CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com