Rainer Grell
Machen wir uns nichts vor: Nicht die Flüchtlinge sind das eigentliche Problem, sondern Angela Merkel und alle diejenigen, die hinter ihr hertrotten wie das Hündchen hinter Herrchen oder eben Frauchen. Die Flüchtlinge verhalten sich völlig normal: Sie folgen ihren ureigenen Interessen, wollen Sicherheit und die Aussicht auf ein besseres Leben für sich und ihre Familien. Dafür tun sie genau das, was unsere Brüder und Schwestern bis 1989 auch getan haben: Sie verlassen massenweise ihr Land, weil sie dort keine Zukunft für sich und ihre Kinder sehen. Wer will ihnen das zum Vorwurf machen?
Politiker wie die Bundeskanzlerin und ihre Minister sind dagegen bei allen ihren Handlungen an Gesetz und Recht gebunden (Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz) und haben darauf einen Eid geleistet. Dieser Eid hat folgenden Wortlaut (Artikel 64 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 56 GG):
“Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bun-des wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit ge-gen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.”
Die religiöse Beteuerung kann auch weggelassen werden, wovon Merkel natürlich keinen Gebrauch gemacht hat.
Nun kann man darüber streiten, ob Merkels Flüchtlingspolitik „dem Wohle des deutschen Volkes“ dient, seinen Nutzen mehrt und Schaden von ihm wendet oder gerade das Gegenteil bewirkt. Sind da nicht die „Fachkräfte“ gekommen, die die deutsche Wirtschaft angeblich so dringend braucht? Vielleicht, wenn da nicht die fehlenden Sprachkenntnisse, die vielfach mangelhafte Schulbildung und nicht zuletzt auch die andersartige Religion und Kultur wären. Dass sich diese Hürden durch beiderseitige Integrationsbemühungen überwinden lassen, ist nach 50 Jahren Erfahrung mit Immigranten nicht gerade wahrscheinlich, aber auch nicht gänzlich ausgeschlossen. Man hat ja dazu gelernt. Nur eines ist klar: Es wird dauern. Von zehn bis 15 Jahren ist die Rede. Dann schrieben wir das Jahr 2030.
Der Zusammenhang von Fachkräftemangel, Digitalisierung und Alterspyramide sollte nach Auffassung des Human-Resources-Experten Rainer Strack von der Boston Consulting Group (BCG) Wirtschaft und Politik veranlassen, „schon jetzt gezielt über ihre Grenzen hinweg nach mobilen und qualifizierten Jobsuchenden“ Ausschau zu halten. Hat Merkel dazu nicht gerade einen Beitrag geleistet?
„Maschinen könnten 18 Millionen Arbeitnehmer verdrängen“ lautete demgegenüber eine Schlagzeile der „Welt“ vom 2. Mai 2015: Von den 30,9 Millionen sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten, die in der Untersuchung der Volkswirte der Bank ING-Diba berücksichtigt werden, würden demnach 58 Prozent in den kommenden Jahren und Jahrzehnten durch Maschinen und Software ersetzt.
Dann wären die Flüchtlinge, die gekommen sind und noch kommen werden, überwiegend das „Proletariat von morgen“ (Henryk M. Broder).
Doch angesichts der Erkenntnis „Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht“ (Joachim Ringelnatz) wird man es der Bundeskanzlerin nicht anlasten können, sollte sich nach Jahr und Tag herausstellen, dass ihre Flüchtlingspolitik dem deutschen Volk mehr geschadet als genutzt hat.
Doch Frau Merkel hat ja auch geschworen, „das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes [zu] wahren und (zu) verteidigen“. Und hier sieht es für „die mächtigste Frau der Welt“ nicht so gut aus.
Artikel 16a GG bestimmt in Absatz 1 „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. In Absatz 2 heißt es dann aber: „Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften ... einreist.“ Selbst ein flüchtiger Blick auf die Landkarte macht deutlich: Deutschland ist, mit Ausnahme der Schweiz, einem „sicheren Drittstaat“, von Mitgliedstaaten der EU umgeben. Auf dem Landweg kann folglich niemand anders als aus einem Mitgliedstaat der EU oder einem sicheren Drittstaat einreisen, so dass das Asylrecht nur bei Einreisen auf dem Luft- und Seeweg eingreift.
Die Frage zu wessen Lasten es am Ende geht, wenn sich der Einreiseweg nicht eindeutig klären lässt, spielt im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Flüchtlingskrise allerdings keine Rolle, weil alle Flüchtlinge unstreitig auf dem Landweg über einen Mitgliedstaat der EU oder einen sonstigen sicheren Drittstaat eingereist sind. Nach geltendem Verfassungsrecht kann ihnen also kein Asyl gewährt werden, eine Rechtsfolge, die politisch weitgehend ignoriert wird.
Allerdings sind im Asylverfahren nicht nur das Grundgesetz, sondern auch das internationale und das europäische Recht zu beachten. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang das „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ vom 28. Juli 1951, die so genannte Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die in Deutschland seit dem 22. April 1954 gilt. Danach kann jemand, dessen Asylantrag abgelehnt wurde, gleichwohl als „Flüchtling“ nach der GFK bzw. den einschlägigen Regeln der EU Schutz erhalten.
Auch hier nimmt es die Politik mit der Auslegung nicht so genau, sondern versucht dem Stimmvieh, bei anderer Gelegenheit als „mündiger Bürger“ umworben, vorzugaukeln, dass die GFK Deutschland zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet. Dabei scheint noch niemandem aufgefallen zu sein, dass darin zugleich der Vorwurf an die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der EU liegt, diese Verpflichtung zu verletzen, was ausdrücklich aber noch niemand behauptet hat.
„Flüchtling“ ist nach der GFK nur eine Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“. Krieg, Bürgerkrieg oder sonstige bewaffnete Konflikte begründen diese Eigenschaft daher nicht, was in der politischen und medialen Darstellung einfach unterschlagen wird.
Allerdings hat die EU die GFK durch eine Richtlinie ergänzt, nämlich die „RICHTLINIE 2004/83/EG DES RATES vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes“ in der aktuellen Fassung.
Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet „‘Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will“.
Als ernsthafter Schaden gilt:
a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder
b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines An-tragstellers im Herkunftsland oder
c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Diese Richtlinie gewährt also letztlich Schutz vor Bürgerkrieg und regelt auch weitere Fragen wie Familiennachzug, Anspruch auf medizinische Versorgung, Wohnraum u.a.m.
Die Flüchtlingspolitik der von Angela Merkel geführten Bundesregierung kann sich im Ergebnis also auf diese so genannte Statusrichtlinie der EU berufen, wobei geflissentlich übergangen wird, dass Syrer, die aus Lagern in der Türkei oder dem Libanon kommen, nicht vor dem Bürgerkrieg in ihrem Herkunftsland, sondern vor den unerträglichen Verhältnissen in diesen Lagern geflohen sind.
Selbst diesem Personenkreis hätte bei Beachtung der einschlägigen Rechtsvorschriften nicht unbedingt die Einreise nach Deutschland gestattet werden müssen. Denn nach der „VERORDNUNG (EU) Nr. 604/2013 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist“, kurz Dublin III-Verordnung, die seit dem 1. Januar 2014 unmittelbar gilt, ist der EU-Mitgliedstaat für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, in dem der Antrag zuerst gestellt wird.
Das sind nach Lage der Dinge die Staaten Spanien, Malta, Italien, Griechenland und Bulgarien sowie Kroatien und Ungarn. Deutschland hat jedoch von dem „Selbsteintrittsrecht“ nach Artikel 17 der Verordnung Gebrauch gemacht und seine Grenzen freiwillig für Flüchtlinge insbesondere aus Syrien geöffnet.
Das war zwar kein direkter Rechtsverstoß, weil die Verordnung diese Möglichkeit zulässt, wirft aber die Frage auf, ob die Bundeskanzlerin dadurch nicht ihre Verpflichtung verletzt hat, Schaden vom deutschen Volk zu wenden. Denn die finanziellen Belastungen, die durch diese Entscheidung auf Deutschland zukommen, lassen sich noch immer nicht genau beziffern. Sie liegen auf jeden Fall im zweistelligen Milliardenbereich und dies bei einer Schuldenlast, die nur dank der gegenwärtigen Niedrigzinsphase die Haushaltsstabilität nicht bedroht. Von anderen Belastungen ganz zu schweigen.
Statt sich auf ihren Amtseid sowie ihre Bindung an Gesetz und Recht zu besinnen, ist der Bundeskanzlerin angesichts der Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik nichts weiter eingefallen als die verblüffend naive Aussage: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Ge-sicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.”
Vom „Rechtsstaat“, der nach den Ereignissen in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof wieder Hochkonjunktur hat, war in der ganzen Zeit nicht die Rede.
Rainer Grell, Leitender Ministerialrat a. D., hat als Referatsleiter im Innenministerium von Baden-Württemberg den Gesprächsleitfaden für die Einbürgerungsbehörden entwickelt, besser bekannt als der baden-württembergische „Muslimtest“.