Heute morgen hat mich die Post um 8.30 Uhr aus dem Bett geklingelt (hätte Gott gewollt, dass ich früh aufstehe, hätte er mich mich bei der Bundeswehr verpflichten lassen). Der Briefträger hat mir Briefe gebracht. Wie jeden Tag. Um 9.00 Uhr haben mich die Jungs von der Müllabfuhr aus der Dusche geschmissen. Sie wollten mich ent-sorgen, was meinen Müll angeht. Und während ich diese Zeilen schreibe, fährt draußen ein Krankenwagen mit Blaulicht vorbei, und ein Scherge der Stadtverwaltung klemmt mir seine Existenzberechtigung hinter meinen pflichtschuldig unvorschriftsmäßig geparkten Personenkraftwagen.
Merken Sie was? Genau! Sie merken nichts. Deswegen schreibe ich es Ihnen ja: Wir haben seit 24. September um 18 Uhr und drei Minuten keine Regierung mehr. Niemanden, der uns Leitlinien für ein Deutschland gibt, in dem wir gut und ungerne unser Zusammenleben täglich neu aushandeln. Niemanden, der uns ermahnt, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, indem wir dem Staat noch mehr von unserem verdienten Geld (bei mir täglich ab 9.30 Uhr) zum Umverteilen überlassen.
Keiner ist da, der eine Ehe „jetzt aber für wirklich Alle“ fordert. Niemanden, der mich an die Hand nimmt und mich mahnt, lieber kein Hackfleisch zu kaufen, weil sonst irgendwie Palau überflutet wird und die Palauer dann sehr dringend ein Klimaflüchtlingsvisum brauchen. Ich für meinen Teil befinde mich derzeit in meinem Traumstaat. Es läuft und ich kann in aller Ruhe meinem Lebensunterhalt nachgehen.
Ich kann ungestört den Fernseher anmachen und Anne Will und den anderen Chefunterhändlern der veröffentlichten Meinung beim Zappeln zusehen, wie sie sich verzweifelt bemühen, ängstlichen Politikern irgendwelche Halbsätze zu entlocken, die sie zu so etwas wie einem „Statement“ oder einem „Signal“ hochjazzen können. Oder amüsiert verschiedene Weltuntergangsszenarien in den Light-Medien verfolgen, weil doch das himmlische Führungstandem Erz-Angela Merkel und Erzengel Gabriel sozusagen das Jüngste Wahlgericht hinter sich haben und bis zum Erhalt der Entlassungsurkunde (DAS wäre mal innovativ für gefeuerte Mitarbeiter: Eine Urkunde zum Dank für geleistete Dienste, die zum eigenen Rausschmiss geführt haben) noch so ein wenig vor sich hin verwalten. Ex-Bundeskanzler Schröder nannte das damals „ruhige Hand“.
Die neue Option heißt Ignoration
Deswegen möchte ich, neben den verschiedenen Möglichkeiten wie „Jamaika-Bündnis“, Großer Koalition, Kleiner Koalazion oder einer Minderheits- oder einer Minderheiten-Regierung oder auch Wiederholungs-Wahlen eine siebente Option ins Gespräch bringen: die Ignoration.
Warum tun wir nicht einfach so, als wäre nichts passiert und lassen die Parteien bis zum 19. September 2021 in Ruhe sondieren? Die Politiker stören dann die Bürger nicht beim Arbeiten und Leben, greifen ihnen nicht noch mehr in Taschen und Kassen und gehen niemandem mit obskuren Forderungen und lächerlichen Projekten auf den Zeiger. Maischberger & Friends könnten völlig verzweifelt weitere sinnlose Stuhlkreise im offensichtlich-rechthaberischen Fernsehen vor sich hin moderieren, während ihr Brötchengeber die Gebühren für den lustigen Reigen nicht erhöhen kann.
Die Franzosen und der Rest der EU müssten sehen, wie sie mit dem eigenen Geld ’rumkommen, Forderungen von Potentaten wie Erdogan oder Putin könnte Gabriel mit einem „Sorry, ich habe keine Entscheidungsbefugnis mehr, nehme aber gerne Ihren Einwand zur Kenntnis und außerdem noch von den Schnittchen“ gegenübertreten.
Jede noch so blöde Idee könnte mit einem Schulterzucken abgeblockt werden. Geht nicht, gibt derzeit keinen Chef. Selbst das Rederecht der AfD als größte Oppositionspartei hätte sich erledigt, weil die SPD ja gleichzeitig in der Nichtregierung UND der Opposition wäre und worüber sollte auch debattiert werden, wenn es keine Änderungen oder neuen Gesetzesvorhaben gibt? Da geht es dann auch nur noch höchstens um den Speiseplan in der Reichstagskantine.
Wir haben die derzeit unanarchischste Anarchie, die es je in Deutschland gab. Das sollten wir uns dringend erhalten. Auch, wenn das vier weitere Jahre Merkelsche Weihnachtsansprachen bedeutet. Aber was ist schon perfekt?
Thilo Schneider, Jahrgang 1966, freier Autor und Kabarettist im Nebenberuf, FDP-Mitglied seit 2012, Gewinner diverser Poetry-Slams, lebt, liebt und leidet in Aschaffenburg.