Gastautor / 17.04.2013 / 18:45 / 0 / Seite ausdrucken

An die Stelle der Religion ist die Moral getreten

Alexander Grau

Wir leben im Zeitalter der absoluten Moral. Zumindest in den westlichen, pluralistischen Gesellschaften genießen moralische Begründungen des privaten und vor allem aber des gesellschaftlichen Handelns eine in der Geschichte nie da gewesene Bedeutung und Relevanz. Nicht, dass in anderen Epochen moralisch begründete Handlungen und Restriktionen keine Rolle gespielt hätte – im Gegenteil. Doch erstmals in der abendländischen Kulturgeschichte ist Moral heutzutage nicht länger der Ausdruck eines übergeordneten und normierenden Wertesystems wie etwa Tradition und Religion. Der moderne moralische Diskurs kreist ausschließlich um sich selbst und bekommt damit eine singuläre Geltung, die andere rationale Erwägungen diskreditiert.

Prima, könnte man denken. Denn was spricht schon gegen Moral? Und: Ist es nicht ein enormer Fortschritt, wenn moralische Werte und Einstellungen nicht aus der Tradition gewonnen werden oder einer archaischen Kultur, sondern aus der im besten Fall universal zu verstehenden Rationalität moralischer Diskurse? Handelt es sich dabei letztlich nicht um einen Triumph der Aufklärung, ein Sieg der vernunftorientierten Argumentation über willkürliche gesetzte Normen?

So könnte es sein. Doch leider: der Eindruck täuscht. Die Stellung, die die Moral in unserer Gesellschaft einnimmt, ist nicht Ausdruck einer rationalen Kultur, sondern das Ergebnis einer nie konsequent zu Ende gedachten Aufklärung.

Insbesondere in Deutschland ist die innige Liebe zu moralischen Diskursen das Produkt einer tiefen Skepsis gegen all zu aufklärerisches Denken. Moralische Normen bilden in Deutschland das Wohlfühlbecken, in dem die deutsche Seele munter planscht, den intellektuellen Wellnessbereich, in dem sich das deutsche Gemüt beschützt sieht vor den kalten Winden rationaler Begründung und nüchterner Erwägung.

Wann immer gesellschaftliche oder politische Entscheidungen anstehen, sei es zu militärischen Einsätzen, zu Fragen der Energiesicherung, zu Problemen der Verkehrpolitik oder zu den Herausforderungen eines finanzierbaren Sozialstaates – reflexartig bemüht man moralische Begründungen, um sachliche und nüchterne Abwägungen im Keim zu ersticken.

Doch Moral fühlt sich nicht nur gut an, sie verschafft auch eine wunderbare rhetorische Ausgangposition, mit der man etwaige Gegenargumente im Keim ersticken kann: Wer es wagt, zumindest in Erwägung zu ziehen, ob Atomkraft vielleicht doch eine sinnvolle Übergangstechnologie ist, wer – wie der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler – darauf hinweist, dass es notwendig sein könnte, die Freiheit der Handelswege, also wirtschaftliche Interessen, mit militärischen Mitteln zu verteidigen, wer vorsichtig andeutet, dass das derzeitige Hartz-IV-System die Menschen nicht unbedingt ins Elend stürzt, sondern vielleicht sogar zu wenig Anreize setzt, um sich um eine bezahlte Arbeit zu bemühen, wer gegen Quotenregelungen argumentiert und dafür, dass Einwanderungspolitik sich an den Interessen des aufnehmenden Staates zu orientieren hat, der bekommt umgehend den geballten Zorn der Empörten und Selbstgerechten zu spüren.

Und da Hypermoralisten in dem Bewusstsein leben, das Gute an sich zu vertreten, sind etwaige Kritiker gnadenlos zum verbalen Abschuss frei gegeben und werden je nach dem als neoliberal, kapitalistisch, militaristisch, sexistisch oder zumindest als verantwortungslos gebrandmarkt. Und wenn all das nicht hilf, kann man ja immer noch versuchen, ihr Gedankengut als „rechts“ zu entlarven.

Der allein auf moralische Kategorien fixierte Diskurs offenbart eine reflexive Trägheit und intellektuelle Unbeweglichkeit, die alarmierend ist, allerdings sehr gut erklärt, weshalb er so wunderbar funktioniert. Moralische Normen entlasten erheblich vom eigenen Denken. Wer weiß, dass militärische Interventionen Verbrechen sind, große Einkommensunterschiede sozial ungerecht und Atomkraft Teufelszeug, der muss sich nicht weiter in den jeweiligen Gegenstand einarbeiten und komplizierte Abwägungen zwischen Kosten und Nutzen treffen: der weiß, was richtig ist und vor allem was falsch. Mit nichts lässt sich Inkompetenz besser kompensieren als mit Moral.

Man braucht kein großer Psychologe zu sein, um zu erkennen, dass der radikale Moralismus zumindest in Deutschland ein Produkt der jüngeren Geschichte ist und des tief verankerten Bedürfnisses, endlich und für alle Zeiten auf der richtigen Seite zu stehen. Dieses Anliegen ist verständlich und lobenswert. Allein die Verbohrtheit und der Radikalismus, mit dem insbesondere in linksliberalen und alternativen Milieus einem rigiden Moralismus gehuldigt wird, erinnert verdächtig an die Verblendung, mit der schon Opa und Oma an ihr damaliges Wertesystem geglaubt haben. Von einer rationalen, abgeklärten und liberalen Geisteshaltung ist dieses totalitäre Denken auf jeden Fall meilenweit weit entfernt.

Allerdings wäre es zu viel der Ehre, den grassierenden Hypermoralismus allein den einschlägigen linken Milieus in Deutschland zuzuschreiben. Vielmehr haben wir es hier mit dem Produkt eines kulturellen Umformungsprozessen zu tun, der in der Aufklärung seinen Anfang nahm und bis in unsere Gegenwart – leider – noch nicht abgeschlossen ist: der Säkularisierung. In ihrer Folge wurden Werte, Normen und Regeln nicht länger aus religiösen Dogmen abgeleitet, sondern aus Normierungsinstanzen, die in der Lage waren, die normierende Funktion der Religion ebenso zu ersetzen wie den Glauben an höhere Sinnzusammenhänge. Typische Kandidaten hierfür waren im 19. Jahrhundert die Nation, das Volk, die Klasse und die Kultur

Diese Ersatzreligionen sind, teilweise unter erheblichen Schmerzen, im 20. Jahrhundert untergegangen. An ihre Stelle ist die Moral selbst getreten. Die Moral ist damit nicht länger ein sekundäres Phänomen, das beispielsweise aus kulturellen Überlieferungen abgeleitet wird, sie ist nunmehr zum alleinigen Normierungsfaktor geworden: Die Moral ist unsere neue Religion.

Das erklärt nicht nur die irrationale Inbrunst, mit der moralische Argumente in das Feld öffentlicher Debatten geführt werden, sondern vor allem die inquisitorische Wirkung, die sie entfalten. In dem Moment, in dem sich eine gesellschaftliche Frage oder ein politisches Problem als moralisierbar erwiesen hat, sind Lösungsvorschläge, die an den technischen Sachverstand und Nutzen appellieren, nicht nur unangemessen, sie sind verwerflich, sie sind Häresie.

Rationale, rein technische Abwägungen sind für die Gläubigen der neuen Moralreligion schlichte Ketzerei. Ein ausschließlich an der Sache orientiertes Vorgehen übersieht aus ihrer Sicht die Prinzipienfragen, um die es etwa bei der Energie-, Sozial- oder Außenpolitik geht. Dass beispielsweise Energieversorgung eine Sache der Physik sein könnte und nicht der Moral oder die deutsche Außenpolitik deutsche Interessen und nicht die der gesamten Menschheit zu vertreten hat, liegt so sehr außerhalb ihrer Vorstellungskraft, wie der Inquisition des 17. Jahrhunderts der Gedanke, dass die Erde um sie Sonne kreisen könnte.

Die insbesondere in Deutschland nie abgeschlossene Säkularisierung, die große Teile der Bevölkerung empfänglich für emotional aufladbare Ersatzreligionen macht, hatte einen nur halbherzig vollzogenen Individualisierungsprozess zu Folge. Sein Ergebnis ist ein tief sitzendes Ressentiment gegen alle Argumente und Erwägungen, die sich nicht aus Dogmen einer Glaubensgemeinschaft ableiten. Das ist auch der Grund dafür, dass die hypertrophe Moralreligion die Gefahr einer hoch reglementierten, totalitären und letztlich nivellierten Gesellschaft zur Folge hat. Der Gegner des Guten ist nie der Andere, sondern der Böse.

Lasst uns die Säkularisierung konsequent zu Ende führen. Nicht jede dahergelaufene Sachfrage ist gleich ein moralisches Problem. Moral ist die Art und Weise, wie Menschen ihr Miteinander organisieren. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Im gewissen Sinne ist Moral daher unvermeidbar. Das ist das schöne an ihr. Doch man sollte nie vergessen, dass moralische Aspekte immer nur ein Teil der Geschichte sind und nicht Götzen einer Ersatzreligion.

Zweitveröffentlichung eines Essays aus cicero.de

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