Es war einer dieser Fernsehmomente, an denen man denkt, schlimmer könne es nicht mehr kommen: Die britische BBC, weltweit Inbegriff der Seriosität, berichtete über die Pariser Kundgebung nach den tödlichen Attacken auf die Redaktion des Satireblatts «Charlie Hebdo» und einen jüdischen Supermarkt. Ob Juden in Frankreich noch sicher seien? Sie fühle sich an die 30er-Jahre erinnert, sagte eine jüdische Französin und Tochter von Holocaustüberlebenden dem Moderator Tim Willcox.
Dessen Reaktion war von einer Dummheit, vor allem aber einer Herzenskälte, die frösteln machte: «Viele Kritiker der israelischen Politik würden sagen, dass auch die Palästinenser unter jüdischen Händen leiden», entgegnete Willcox. Der absurde Gedankensprung des Journalisten zeigte, wie es in ihm denkt: Wenn Juden in Europa Opfer einer Gewalttat werden, dann sind sie für den BBC-Reporter Willcox letztlich selbst daran schuld.
Auf der anderen Seite des Atlantiks griff derweil Shmuel Herzfeld in die Debatte ein. Die Vereinigten Staaten, so forderte der Rabbiner der Washingtoner Ohev-Sholom-Synagoge, sollten es Israel gleichtun: Juden, die Europa verlassen wollten, so Herzfeld in einem Gastbeitrag für die «Washington Post», sollten eine zweite Alternative haben. Als letzte verbliebene Supermacht hätten die USA «eine gewisse moralische Autorität». Nähmen sie nun eine Führungsrolle beim Schutz der französischen Juden ein, so wäre dies für Herzfeld «eine Botschaft an die Länder Europas, dass wir keine Geduld haben, uns ihre Ausreden dafür anzuhören, dass sie unfähig sind, ihre jüdischen Bürger ordentlich zu schützen». Zunächst solle der Kongress das Lautenberg-Amendment wieder in Kraft setzen, ein Gesetz von 1989, das es religiösen Minderheiten aus der untergehenden Sowjetunion erlaubt hatte, sich in den USA niederzulassen.
Herzfeld verweist unter anderem auf französische Demonstranten, die riefen: «Juden, Frankreich gehört euch nicht!» sowie auf den Mord an dem 23-jährigen jüdischen Telefonverkäufer Ilan Halimi, der am 13. Februar 2006 sterbend an einem Bahndamm im Pariser Vorort Sainte-Geneviève-des-Bois aufgefunden worden war. Halimis Körper war durch Brand- und Stichwunden grausig entstellt worden. Zu der Tat bekannten sich der 26-jährige muslimische Ivorer Yusuf Fofana und seine Bande, die sich selbst «die Barbaren» nannten. Dieser Vorfall, so Herzfeld, sei für die französischen Juden ein Vorbote all der Spannungen gewesen, die bis heute folgten.
Vergleichbare Ereignisse sind aus Amerika nicht bekannt, ja vermutlich ist Amerika das Land, in dem jüdisches Leben so selbstverständlich stattfindet wie nirgendwo sonst auf der Welt. In den USA, dem Einwanderungsland schlechthin, sind die Juden eine ethnische und religiöse Gruppe unter vielen. Der jüdische Ausbruch aus dem Getto, er hat in Amerika stattgefunden, nicht in Israel, wo der unversöhnliche Hass der arabischen Nachbarn dazu führt, dass einmal mehr eine jüdische Gemeinschaft einer existenziellen Bedrohung gegenübersteht.
In seinem Roman «Operation Shylock» lässt Philip Roth einen jüdisch- amerikanischen Antizionisten auftreten. Dessen Argument gegen die Existenz Israels ist verblüffend schlicht. Juden, so meint er, könnten doch nicht in einem Land leben, in dem kein Baseball gespielt werde. Nicht, dass Roth sich die Ansichten seiner Figur über Israel zu eigen machen würde, ganz im Gegenteil. Doch hat er ihr mit der Rede vom Baseballspiel eine treffliche Metapher für das normale, unbeschwerte, amerikanische Leben in den Mund gelegt, für eine Welt, in der eine Synagoge ebenso wenig Polizeischutz benötigt wie eine Episkopalkirche, eine Moschee oder ein Hindutempel.
Wie prekär indes jüdisches Leben in Europa ist, zeigt sich nicht nur in Frankreich – und die Gefahr geht längst nicht nur von Islamisten aus: Auf keinen Fall sollten Europas Juden darauf rechnen, dass ihnen diejenigen, die glauben, das Abendland vor der Islamisierung retten zu müssen, im Ernstfall zur Hilfe kommen werden. Als im Dezember einige Leute auf einer Pegida-Kundgebung in Dresden mit einer israelischen Fahne erschienen, wurden sie von den demonstrierenden deutschen Wutbürgern mit wüsten Beschimpfungen eingedeckt. Die Rede von den christlich-jüdischen Wurzeln des Kontinents, die manche Konservative so gerne im Mund führen, wenn es darum geht, gegenüber dem Islam in Abwehrstellung zu gehen, sie hatte immer etwas Verlogenes an sich, zumal es Epochen gab, in denen man unter Europas Christen von jüdischen Wurzeln nichts wissen wollte.
Amerika, das weniger historischen Ballast mit sich herumschleppt, hat es auch in dieser Hinsicht besser. Rabbi Herzfeld hat eine wichtige Debatte angestossen: Angesichts der Lage in manchen Ländern Europas, aber auch im Nahen Osten, könnte es irgendwann tatsächlich an den USA (und anderen klassischen Einwanderungsländern wie Kanada oder Australien) sein, die Rolle Israels als einer Art Lebensversicherung für Juden einzunehmen. Hoffen wir, dass es nie so weit kommen möge.
Erschienen in der Basler Zeitung.