Gastautor / 26.12.2015 / 06:30 / 0 / Seite ausdrucken

Alte Liebe rostet doch

Von Manfred Haferburg

Als ich 17 Jahre alt war- und das ist ein Weilchen her -  verliebte ich mich. Nicht - wie damals fast täglich - in ein hübsches Mädchen, sondern in ein Boot.

Es war eine große Liebe auf den ersten Blick. Den warf ich auf einen mittelalterlichen Holzschnitt. Ich glaube, die Geschichte hieß „Kannitverstan“ von Johan Peter Hebel und das Bild zeigte eine holländische Tjalk.

Was für ein Schiff! Pausbäckig, breit und überaus kurvig, mit braunen Gaffelsegeln an einem geduckten Mast. Eine Konstruktion, hunderte von Jahren alt. Ein abgerundeter Kasten mit flachem Boden und mit großen eichenhölzernen Schwertern, die wie Hundeohren an den Seiten hängen. Ein Schiff, gebaut zum Segeln mit schweren Lasten in flachen Gewässern oder zum Trockenfallen bei Ebbe. Ein Schlickrutscher, sagen arrogante Hamburger.

Schönheit entsteht bekanntlich im Auge des Betrachters. So ein Boot wollte ich haben. Aber es war vor der Zeit, in der sich die zwei Deutschlands wiedervereinigt haben. Ich lebte auf der falschen Seite des Zaunes, dort, wo der Stacheldraht hinzeigte und nie eine Tjalk anlegte.

Bei einer Versteigerung kaufte ich daher erst mal einen alten Barographen und verkündete stolz: „Der wird eines Tages mal in der Kajüte meiner Tjalk das Wetter vorhersagen“.

Mein Heimatland mochte mich nicht, ich mochte das Regime nicht. Soweit war alles klar. Als ein folgerichtiges Resultat dieser gegenseitigen Antipathie warf mich die Stasi nach einem längeren Aufenthalt in ihrer zentralen Erholungsstätte Hohenschönhausen 1989, sechs Tage vor dem Mauerfall, mit verbundenen Augen irgendwo in Berlin aus einem fahrenden Auto. Mir blieb nach der Wiedervereinigung nichts außer meinem Leben und dem alten Barographen.

Ich hätte die Tjalk ja längst vergessen, wie man eine erste Liebe eben manchmal vergisst. Doch penetrant erinnerte mich der Barograph immer wieder an meinen Traum. Zwanzig Jahre stand er in einer Ecke. Das Uhrwerk hatte längs seinen Geist aufgegeben. Es galt für mich, von vorn anzufangen und ein neues Leben aufzubauen. Es galt vorrangig, sich eine Weltanschauung zu bauen, indem ich mir die Welt anschaute.

Ein paar Jahre später, als es in meinem Vaterland keine Schande mehr war, dass ehemalige Stasi-Spitzel im Bundestag saßen und dort die Demokraten über Demokratie belehrten, fand ich es an der Zeit, mich aus dem Staub zu machen. Bundesrepublikflucht - ehe sie mir nochmal so mitspielen konnten. Ein drittes Leben wurde aufgebaut. Ich musste Französisch lernen, was zugegebenermaßen nicht gerade meine Stärke ist. Aber der alte Barograph war immer noch dabei.

Eines Tages sprach mich meine schöne und kluge Frau an: „Warum kaufst du dir kein Boot?“ Sie hatte wohl bemerkt, dass ich mich vor der Rente fürchtete. Ich protestierte heftig: das geht nicht, nicht genug Geld, wohnen in Paris, hunderte Kilometer vom Wasser entfernt…

Eine Woche später betraten wir die Kajüte einer Tjalk in Holland. Es war die erste Tjalk, die ich je von Nahem sah.  Noch auf der Kajüten -Treppe säuselte mir meine Süße ins Ohr: „Kauf es, ich will es“. Zwei Stunden später knallte der Sektkorken und ich hatte den Kaufvertrag für ein Boot unterschrieben, das 17 Meter lang und über 100 Jahre alt war. Nur vollkommen Irre tun so etwas.

Meine Tjalk, die „Vrouwe Hendrika“ wurde 1906 bei Groningen gebaut, eine Konstruktion aus Eisen mit Nieten zusammengehalten – ganz wie der Eiffelturm in Paris. Eine arme friesische Familie hatte einst ein bisschen Geld von der Oma Hendrika bekommen und sich in Schulden gestürzt, um künftig auf einem Boot mit neun Kindern in eine Kajüte von 9 m² Fläche zu leben und zu arbeiten.

Hendrika war etwas Besseres unter den Tjalken. Sie brauchte keinen Schiet, keine Muscheln oder kein Torf zu schleppen, sondern transportierte ein hübsches Karussell und eine Schaukel von Dorf zu Dorf. Hendrika war ein „Kirmesschiffchen“. Die Familie lebte davon, dass sie das Karussell aufbauten, die Kinder mussten es drehen und die Dorfjugend konnte sich amüsieren.

Auch im Winter wohnten sie auf dem Boot. Die kleine Kajüte hatte einen winzigen Küchenherd, man schlief im Stroh. Aber es war nicht immer genug zum Heizen oder zum Essen da. Auch hatte nicht jedes der Kinder eigene Schuhe. So konnten sie nicht alle jeden Tag in die Schule gehen. Die Schuhe gingen reihum.

1906 gab es noch keine Motoren. Wenn der Wind aus der richtigen Richtung wehte, wurde auf den Kanälen gesegelt. Wenn kein Wind war, zogen die Kinder und der Vater das Boot an einer langen Leine vom Ufer aus, während die Mutter steuerte. In der Bilge fand ich noch die alten Trecksegel, braune Streifen von Segeltuch mit Ösen an den Enden, die den Druck des Zugseils auf den schmalen Brustkörben der Kinder verteilen sollten. Sie sind heute eine Reliquie, die mich erinnert, bescheiden zu bleiben.

Hendrika blieb ein Kirmesschiff bis zum Jahre 1955. Dann lag sie irgendwo in Friesland und verlotterte, bis sich jemand fand, der ein Boot für die Freizeit suchte. Der Laderaum bekam ein Dach und Fenster. In die so entstandene große Kajüte kam eine schlichte Einrichtung mit Etagenbetten und einen Tisch mit Stühlen. Über den schwarzen Teer der Bordwand wurde weiße Farbe gepönt und schon war der gesellschaftliche Aufstieg zur Yacht vollzogen.

Einen Motor bekam Hendrika erst 1973, als der nächste Eigentümer einen Traktormotor von Ford mit 80 PS einbaute. Zum Glück war es kein „Veteranenmotor“ aus einem alten ausgedienten Traktor, wie das damals durchaus üblich war, sondern ein funkelnagelneuer Motor mit einem vornehmen Wendegetriebe von Velvet. Aber ans Rückwärtsfahren hat sich Hendrika bis heute nicht gewöhnt, da macht sie alles Andere, als auf den Kapitän zu hören. Überhaupt, ihre Zickigkeit beim Manövrieren trug wohl dazu bei, dass Hendrika bald wieder am Ufer eines friesischen Gartens vor sich hingammelte.

In den 90iger Jahren bekam das Boot dann von einem neuen Eigner das wohlverdienten Refit, doppelte Böden, eine neue Kajüte und einen professionell herrlichen Yacht-Innenausbau aus Teakholz. Kurz vor dem Ende der Renovierung, im Jahr 2002 ging dem neuen Eigner die Puste aus und Hendrika bekam wieder ein neues Herrchen, diesmal einen Deutschen, der in Paris lebte.

Der hielt tapfer rostklopfend und farbstreichend das Boot weitere acht Jahre über Wasser. Nur leider – ein echtes Vollweib wie Hendrika duldete keine andere Frau neben sich. So kam es, dass sie im Jahre 2010 wieder einen neuen Eigentümer brauchte, weil dem alten Besitzer die Frau davongelaufen war und er die Lust am Rostklopfen verlor.

Jetzt kam ich ins Spiel. Ein Deutscher, der in Paris lebt - welch ein Zufall - kaufte die Holländerin Hendrika von einem Deutschen, der auch in Paris lebt.

Gekauft wie gesehen, frisch verliebt in die alte Liebe. 

Bekanntlich macht Liebe blind. Stimmt, in grenzenlosem Leichtsinn und durch einen günstigen Preis geblendet, wurde ich der Eigentümer dieses maritimen Pflegefalls. Ich wusste ja nicht, dass der Preis so gut war, weil niemand sich so einen Berg Arbeit aufhalsen wollte. Wie in der Ehe lernte ich Hendrika erst hinterher kennen. „Koop je Boot, werk je dood“, sagen die schlauen Holländer, wenn sie nicht gerade „kannitverstan“ sagen. Der Plan war - sie sollte mit mir nach Frankreich gehen - wenn ich denn gelernt hatte, sie zu manövrieren.

2016 wird Hendrika ein 110 Jahre altes Mädchen sein. Ich habe beschlossen, sie an ihrem Lebensabend in Holland zu lassen. Friesland ist ein schönes Land mit vielen Wasserstraßen, freundlichen Leuten und köstlichen Kibbelingen. Mit meinen Manövrierfähigketen ist es auch nicht so weit her. Ein Grund mehr, die über 700km Kanäle und hunderte Schleusen nach Paris zu meiden.

Hendrika bekam von Holland die Auszeichnung „fahrendes Erbgut“ verliehen. Mit amtlicher Nummer. Auch trifft sie in Holland hin und wieder eine alte Freundin aus ihrer Kinderzeit mit irgendeinem anderen Verrückten an Deck.

Wenn sie so auf dem Wasser daherkommt, bleiben die Holländer stehen. Auch die Touristen staunen. Sie ist eine Schönheit. Wie für es sich für eine Schönheit gehört, arbeitet sich für sie ein Mann den Buckel krumm. Das bin ich. Aber dafür sieht sie genauso schön aus, wie die Tjalk auf dem Holzschnitt aus meiner Kindheit - das schöne Schiff aus dem Land Kannitverstan.

Das Fahren mit Hendrika ist eine echte Herausforderung. Aus nostalgischen Gründen und aus Geiz verzichte ich auf Hilfsmittel wie Bugschraube und Heckschraube, mit denen moderne Boote per Joystick auf der Stelle drehen und querab anlegen können. Die Häfen sind eng und voller hochglanzlackierter Motorboote, deren Eigentümer dem Herzinfarkt nahe sind, wenn die 18 Tonnen schwere Hendrika wie eine Behinderte an ihnen vorbei zu einem Liegeplatz dümpelt und treibt. Bei viel Wind bewegt sie sich unkontrollierbar seitwärts, wie ein Bund Stroh auf dem Wasser. Das Warten vor Brücken inmitten eines Pulks moderner Boote ist ein Albtraum für sich. Um die 140m² brauner Segel zu bedienen, braucht es mindestens drei Personen, die nicht immer zur Hand sind.

Meine Ehefrau ist trotz Hendrika bei mir geblieben. Welche vernünftige Frau könnte auch auf eine 110-Jährige eifersüchtig sein? Sie vertragen sich einigermaßen. Der Beschluss, dass die Bordfrau auf dem Boot verwöhnt wird und keinen Finger zu rühren braucht, hat sich bis jetzt bewährt. Das fließend warme Wasser und die kleine Badewanne haben das Ihre beigetragen. Und die neidischen Blicke der anderen Frauen auch, wenn wir in einer Gracht unterm Sonnensegel Aperitivo schlürfen.

Ich bin immer noch verliebt in meine Tjalk, auch wenn ich sie manchmal heimlich verfluche. Sie ist einfach zu schön. Da darf sie sich auch ein wenig exaltiert beim Manövrieren aufführen.

Der alte Barograph hat seinen Platz in der Kajüte gefunden, so als hätte er schon immer dort gestanden. Wie durch ein Wunder hat er eines Tages angefangen zu ticken und seine Arbeit als „Wettermaschine“ wiederaufgenommen.
Und wenn ich in einem Hafen höflich frage: „Ich möchte hier anlegen, sagt mir doch bitte - wem gehört denn dieser schöne Liegeplatz?“, antworten die Holländer immer noch „Kannitverstan“. Und dann helfen sie mir beim Festmachen.

Manfred Haferburg ist in der DDR aufgewachsen und lebt heute in Paris. Das Vorwort zu seinem Roman Wohnhaft schrieb Wolf Biermann.

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