Der Ossi ist wieder da, jenes rätselhafte Wesen, das uns immer wieder ins Staunen versetzt. Er ist unberechenbar, unbedarft, unbotmäßig, unbehaust und vor allem: undankbar. Wir, die Wessis, haben Milliarden in seine Resozialisierung gesteckt, wir haben ihn aus seiner vierzig Jahre währenden Not befreit, und wie dankt er es uns? Er wählt die AfD.
Bei den Bundestagswahlen am 24. September bekam die Alternative für Deutschland bundesweit 12,6 Prozent der Stimmen. In den fünf neuen Ländern und im Ostteil Berlins, also auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, waren es 21,6 Prozent, sie kam damit auf Platz zwei, gleich nach der Union, die mit 27,1 Prozent am besten abschnitt. In Sachsen wurde die AfD sogar zur stärksten Partei mit 27 Prozent der Stimmen.
Das war sozusagen das Geschenk der Ossis an die Wessis zum 27. Jahrestag der Wiederbereinigung, der bundesweit am 3. Oktober gefeiert wird. Heuer war die Stimmung, vorsichtig ausgedrückt, etwas getrübt. „Wie konnte so etwas nur passieren?“ fragten Politiker, Journalisten und Fachleute für kollektive Verhaltensweisen. Und boten gleich eine Fülle von Erklärungen an.
Die Ossis hätten auch nach 27 Jahren das Trauma des Untergangs der DDR nicht überwunden, man habe ihre Lebensleistungen nicht anerkannt, ihnen die Biografien genommen. Und vor allem: Noch immer seien im Osten die Löhne und die Renten niedriger als im Westen, die von Kohl versprochenen „blühenden Landschafen“ ein Versprechen geblieben.
Deswegen müsse man zurück an den Anfang und ein gemeinsames „Narrativ“ suchen. Der Soziologe Harald Welzer, der sich auf Kaffeesatzanalysen spezialisiert hat, sagte in einem Radio-Interview, die Ostdeutschen hätten die AfD nicht aus Protest oder Unmut gewählt, sondern weil sie „die völkischen, rassistischen, antidemokratischen Inhalte dieser Partei“ gut fänden. Jetzt müssten die etablierten Parteien „deutlich machen, dass sie den Marsch nach rückwärts in eine autoritäre, biodeutsche Ausgrenzungsgesellschaft“ nicht hinnehmen werden.
Da gibt es nur eines: Wir müssen den Ossis die Autonomie anbieten, bevor sie ganz Deutschland in eine autoritäre, biodeutsche Ausgrenzungsgesellschaft verwandeln. Wir bleiben antiautoritär, multikultisch, tolerant und inklusiv.
Und wem das nicht passt, der soll nach drüben gehen.
Zuerst erschienen in der Züricher Weltwoche