Alle wollen Opfer sein

Von Roger Koeppel.

Achtung, ich betrete ein Minenfeld. Jedes Wort kann gegen mich ausgelegt, mir so im Mund verdreht werden, dass auch ich in der gegenwärtigen Post-Weinstein-Sexual­belästigungs-Hysterie plötzlich als Weinstein-Versteher und, Gott behüte, als «Sexismus»-­Verharmloser dastehen könnte. Jeder, der die mutmasslichen Übergriffe des Produzenten-­Grüsel aus Hollywood nicht in den allerschärfsten Worten verurteilt und darauf verzichtet, dessen Untaten weltgeschichtlich irgendwo zwischen Dschingis Khan und Idi Amin einzuordnen, lenkt unweigerlich den Verdacht auf sich, heimliche Sympathien zu hegen für den amerikanischen Schmuddel-Mogul, der laut Zeugenberichten vielen Frauen während Jahrzehnten unsittlich an die Wäsche ging. 

Oder ist das jetzt schon zu ironisch-ver­harmlosend formuliert?

Um Missverständnisse zu verhindern, schicke ich im Sinne einer Unangreifbarkeitserklärung voraus: Selbstverständlich verurteile ich sexuelle Belästigung in aller Form. Es widerte mich schon während des Studiums an, all diesen Feministen dabei zuzusehen, wie sie vor den Feministinnen feministische Bücher zitierten mit dem einzigen Ziel, möglichst viele Feministinnen flachzulegen. Obschon im Fall Weinstein noch kein Richter urteilte, gehe ich davon aus, dass sich die Vorwürfe gegen ihn mehrheitlich als wahr herausstellen werden.

Was nun aber wirklich irritiert, ist die Diskussion im Gefolge der Affäre. Die Debatte ist nicht nur weltfremd, sie ist gefährlich. 

Weltfremd ist, wenn plötzlich alle so überrascht und schockiert tun, dass es in Hollywood Produzenten und Schauspielerinnen gibt, die miteinander ins Bett gehen, obschon zwischen ihnen nicht das Feuer der ewigen Liebe lodert. Dass im Sündenbabel der Filmindustrie sexuelle Räuber zugange sind, die immer wieder willige Lustobjekte finden, die sich für Geld, Karriere, Ruhm oder alles zusammen mit den Beutejägern einlassen, dürfte sich schon vor den Weinstein-Enthüllungen herumgesprochen haben. Wer auf die Keuschheit seiner Tochter Wert legt, sollte ihr vielleicht nicht unbedingt eine Laufbahn in der Traumfabrik an der amerikanischen Westküste ans Herz legen. Das aber wussten wir auch ohne Harvey.

Jede Frau wusste, was auf sie zukam

Natürlich gibt es widerliche, grössenwahnsinnige Typen in Hollywood, die glauben, sich gegenüber Frauen alles herausnehmen zu können. Wahr ist aber auch: Keine der Frauen, die sich jetzt - zum Teil nach mehr als 20 Jahren - erstmals beklagen, wurde gezwungen, mit Weinstein zusammenarbeiten zu wollen. Und jede dieser Frauen wusste, was bei diesem laut Medienberichten branchenweit berüchtigten Belästiger auf sie zukam, wenn sie in einen seiner «Honigtöpfe» stieg.

Viele Frauen haben Weinsteins sexuelle Avancen zurückgewiesen. Andere machten mit, weil sie sich dadurch wohl karrieremässig Vorteile erhofften. Ihre Anschuldigungen scherbeln gewaltig. Es war das uralte Gegengeschäft: Der Mann will Sex. Die Frau will Geld und Karriere. Der Mann setzt auf die Macht seiner Position. Die Frau setzt auf die Macht ihrer Schönheit. Der Tauschhandel funktioniert, solange beide profitieren. Willkommen in der Wirklichkeit.

Es ist gut, dass übergrif­fige Chefs wie Weinstein abtreten müssen. Wir erleben es auch in der Politik. Neue Kräfte putzen die maroden Führungsschichten weg. Das System funktioniert. Klar, es hätte alles früher herauskommen können, aber vielleicht hielten es die Frauen vor allem auch deshalb unter dem Deckel, weil sie – dunkles Geheimnis – Harvey Weinsteins Produzentengenie für ihre Zwecke nutzen wollten und seine Schweinereien deshalb nicht als eingeschüchterte Opfer, sondern als insgeheim kalkulierende Karrieristinnen tolerierten. Solange Weinstein lieferte, lohnte es sich nicht, ihn abzuschiessen. Jetzt ist er über sechzig. Der Zenit ist überschritten, die Erfolge liegen Jahre zurück. Man kann ihn fallen lassen. Wobei sie ihn nicht ­fallen lassen würden, wenn er sich anständiger verhalten hätte. 

Ein neues zivilisatorisches Ideal

Nichts, was hier geschrieben wird, recht­fertigt oder verharmlost sexuelle Belästigung. Aber bitte hört jetzt auf mit diesem ­Opfertheater. Es scheint fast so, als sei im Zuge der Weinstein-Affäre ein neues zivilisatorisches Ideal entstanden. Alle wollen Opfer sein. Es erinnert ein bisschen an die Hysterie in den 90er Jahren, als auf einmal ungezählte Frauen ihre Väter beschuldigten, als Babys von ihnen missbraucht worden zu sein. Woher diese Massenbewegung kam, weiss ich nicht, aber sicher spielte die Psychoanalyse eine wichtige Rolle. Den Therapeuten war es gelungen, ihren Patientinnen den felsenfesten Glauben einzupflanzen, sie seien das Opfer väterlicher Übergriffe in einer Frühzeit, an die sie sich gar nicht mehr erinnern konnten. Das Ganze verbrodelte irgendwo zwischen Selbst-Hypnose, Psycho-Voodoo und Hexen­sabbat, aber für die Väter war es brandgefährlich. 

Ähnlich verläuft die Sexpest-Debatte um den Weinstein-Fall. «Sexismus» ist jetzt die grosse Menschheitsgeissel, wobei natürlich keiner genau weiss, was damit gemeint sein soll. Auch hier fällt die Guillotine der Moral, lange bevor die ordentlichen Gerichte tagen. Aus den Abgründen der Vergangenheit steigen die Giftdämpfe hoch, Verjährungsfristen kann es bei Verbrechen dieser Grössenordnung selbstverständlich keine geben. Eben wurde der homosexuelle Schauspielerstar Kevin Spacey an den Pranger gestellt, weil er einen Jungen vor rund 30 Jahren an einer Party im betrunkenen Zustand sexuell missbraucht haben soll. Scheue Gegenfrage: Warum brauchte das Opfer 30 Jahre, um sich an die Gräuel zu erinnern? Die Anwälte lassen derweil die Champagnerkorken knallen. 

Woher das alles kommt? Offenbar haben viele Menschen ein Bedürfnis, als Opfer ernst genommen, gepampert und betrauert zu werden. Als Opfer ist man gefragt, man kommt im Fernsehen, redet aus moralisch erhöhter Position. Das Opfer als Idol, als gesellschaftliche Autorität. Mit dem Opferkult kommt die politische Korrektheit, kommt die Tyrannei des öffent­lichen Mitleids, der richtigen Gesinnung. Ein rasendes Frömmlertum breitet sich aus. Man muss sich solidarisch zeigen als leidender Mitkämpfer gegen das Böse. Weinstein ist überall, vor allem in uns Männern. Wer nicht mitmacht, ist bereits ein halber Täter. Liebe Frauen, lasst es gut sein mit Harvey.

Zuerst erschienen in der Zürcher "Weltwoche".

Foto: Jürg Vollmer CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Werner Arning / 05.11.2017

Wer in den Medien erst einmal den sicheren Opfer-Status innehat, befindet sich eigentlich auf der Siegerstrasse. Es fehlt ihm nicht mehr an Anerkennung, Aufmerksamkeit und Unterstützung. Wer hingegen den Täter-Status erwirbt, und das kann sehr schnell passieren, kommt von der Verliererstrasse so schnell nicht mehr runter. Er wird publizistisch zum öffentlichen Abschuss freigegeben. Zu den Letzeren gehören etwa Machos, Trump, AfD-Angehörige, teilweise auch Reiche oder etwa Banker, manchmal auch einfach Deutsche. Die Reihe der Opfer ist mindestens so lang: Islam-Angehörige, Dritte-Welt-Bewohner, Flüchtlinge, Anghörige von Minderheiten. Die Einen sind per se böse, die Anderen per se gut. Auf diese Art und Weise wird die Welt so schön übersichtlich. Und wenn man sich selbstverständlich auf die Opfer-Seite schlägt, ist einem die Anerkennung der Mitbürger gewiss. Sieht man die Dinge differenzierter, setzt man sich dem Unverständnis und Zorn des im heutigen Sinne „anständigen Bürgers“ aus. Teil einer Meute zu sein, ist stets befriedigender und sicherer als Teil der Beute zu sein. Außerdem scheint jede Hetzjagd, im Gefühl des sicheren Sieges, Spaß zu machen. Na dann, Weitmanns Heil.

Winfried Sautter / 05.11.2017

Bill Clinton durfte mit “Zippergate” immerhin im Amt bleiben.

Manfred Haferburg / 05.11.2017

So vie Zeit muss sein: Um als Opfer gefragt zu sein, muss einem vor 15 Jahren ein Politiker die Hand ungefragt aufs Knie gelegt haben oder ein anderer angesäuselter ältlicher Politiker einer Nichtregierungspartei ins offenherzige Dekolleté gesabbert haben. Wenn allerdings eine Horde feuriger zu uns Gekommener ihre Triebe gemeinschaftlich an einer schon länger hier Lebenden ausleben, oder man von einer der 14 Identitäten eines Möchtegern-In-Den-Himmel-Zu-Den-72-Jungfrauen-Wollenden mit dem LKW plattgemacht wird, ist man als Opfer eher unsexy und kein Hastag-Hahn kräht nach einem.

Andreas Rochow / 05.11.2017

Die nüchterne Stimme Roger Köppels tut gut. Sie macht nachdenklich und misstrauisch gegen die Macht der medial organisierten einseitigen Erregungsstürme, die (fast) immer moralische Überlegenheit und politische Korrektheit signalisieren, andrerseits unangemessen verurteilen wollen. Auch das Opferthema der Quotenfrauen, die es gem. Gendermainstreaming gar nicht geben dürfte, ist nicht neu. Weinsteins Couch allerdings könnte als Plot dienen für einen spannenden kunst- und medienhistorischen Film, der von Stars, Sternchen und Celebrities handelt, die glaubten, dass an Harvey kein Weg vorbei führt. Und auch von denen, die wussten, was ihnen blüht.

Klaus Dittrich / 05.11.2017

„Alle wollen Opfer sein.“ Es hat mich – Ex-DDR-Bürger – nach der sog. Wende auch überrascht, dass die DDR-Bevölkerung offenbar nur aus wenigen Tätern – Honecker, Krenz . . . -, dafür aus 15 Millionen Opfern bestand. Überall die gleiche Leier „Wir konnten nicht anders“ (Staatsorgane), „Wir waren eigentlich immer dagegen“, „wir durften nicht . . .“. Meine Erklärung: Moralische Mitschuld wird kompensiert, wenn man das Versagen bei der anderen Seite – die offensichtlich mit Macht ausgestattet ist – verortet.

Leo Anderson / 05.11.2017

Scheinheiliger Lärm. Jeder weiß - und das besonders in den ultramaterialistischen USA - dass es im Leben nichts umsonst gibt, schon garnicht Starruhm, und dass Hollywood ein Vorort von Sodom und Ghomorra ist. Zum Nachlesen und für historisch interessierte empehlenswert: “Hollywood Babylon” (1975), von Kenneth Anger.

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