Ganz voll war der riesige Zoopalast nicht. Aber die vielen jungen Fans des Gurus waren unüberhörbar. Superstar-Atmosphäre mit Pfiffen, Kreischen und Popcorn. Die Al Gore-Show. Im neuen Film ihres großen Meisters, der am Dienstagabend im Berliner Kino Nr. 1 gezeigt wurde, waren sie immer wieder und nochmal staunende Staffage, wurden stets dann, wenn der Meister sprach, mit ihren großen, auf ihn gerichteten Augen in Szene gesetzt: die Absolventen der weltweit angebotenen Al Gore-Trainee-Kurse, die Al Gore-Schüler. Jetzt, zur Preview von Al Gores neuem Film („Immer noch eine unbequeme Wahrheit. Unsere Zeit läuft“, ab 7. September), waren diejenigen unter ihnen, die nicht weit genug von der Hauptstadt weg leben, angereist, ihm aus voller Kehle zu huldigen. Im Film, und später, stehend, als er auf die Bühne trat.
Der ehemalige Vizepräsident der USA (unter Bill Clinton) und gegen George W. Bush knapp gescheiterte Präsidentschaftskandidat hatte vor elf Jahren mit seinem Film „Eine unbequeme Wahrheit“ ein denkwürdiges Schreckensszenario in Sachen Klimawandel präsentiert. Sowohl die Oscar-Jury als auch das Nobelpreis-Komitee waren tief beeindruckt, so dass er mit Trophäen überschüttet wurde. Seine Übertreibungen, der sieben Meter hoch ansteigende Meeresspiegel, der schneefreie Kilimandscharo 2016, der eisfreie Nordpol 2014 – all das hatte ihn offenbar dafür ausgezeichnet. Jetzt also sein neuer Film. Auf den Plakaten für den Film taucht er zwar gar nicht auf. Und doch wird er überall als sein Werk gehandelt, er selbst korrigiert dies nicht, und genau das macht den Streifen unterm Strich zu einer beispiellosen Peinlichkeit.
Nach all dem Lob, das er damals bekam, fühlte er sich logischerweise bemüßigt, noch eins draufzusetzen. In Sachen Klimawandel, sowieso, aber der spielt, so merkwürdig es klingt, letztlich die Nebenrolle, neben Donald Trump, der anderen Nebenrolle, als Bösewicht. Die Hauptrolle: Al Gore. Al Gore, der große Lehrer, Al Gore, der Strippenzieher, Al Gore, der Moderator in allen Hinterzimmern der weltweiten Klimadiplomatie. Al Gore, der Klima-Messias, Tag und Nacht auf Achse, mit offenem Ohr für Klimaopfer, die ihm vor der laufenden Kamera tränenerfüllt erzählen, wie sehr sie genau sein Wirken schätzen, aber auch für die widerspenstigen Staatslenker, die er – logisch – höchstpersönlich und erfolgreich auf Klimarettungskurs einschwört. Der Filmbesucher darf seine Telefongespräche mithören.
Rot, röter, am rötesten
Natürlich erhalten die Katastrophen aus dem ersten Film eine Fortsetzung, seine Recherche nach dem schrecklichsten Bildmaterial von allen weltweiten Naturkatastrophen aus den vergangenen zehn Jahren war ergiebig. Vorbehaltlos würzt er sie mit Äußerungen, die ihn als Klimaexperten disqualifizieren, aber wenn die Menschheit allgemein und seine Schüler im Besonderen es so hören wollen, warum denn auch nicht: „Jeder Sturm heute ist anders als früher“, fühlt er, und später wieder, „heute ist jedes Wetter anders, wegen der Klimakrise“. Diagramme flimmern über die Leinwand, ohne genaueren Bezug, ohne Einordnung, rot, röter, am rötesten. Die Syrienkrise – eine Folge des Klimawandels. „Okay, natürlich, es gibt da auch einen Diktator“, aber die wahre Ursache auch für den Bürgerkrieg dort liege in der gewandelten Atmosphäre, wie überhaupt für alle Fluchten dieser Welt.
Al Gore fühlt sich in all dem bestätigt, was er im ersten Film vorausgesagt hatte und was ihm die böse Welt nicht glauben wollte. Der große Sturm Sandy, der 2012 New York heimsuchte, wird – es ist schließlich die US-Metropole – minutenlang als Beleg dafür in Szene gesetzt, dass die Wirbelstürme immer schlimmer werden. Habe er ja schon immer gesagt. Dass Sandy in Wahrheit, als er New York traf, kein Sturm der Kategorie 5, nicht 4, nicht 3, auch nicht 2 war, sondern nur mehr irgendwo zwischen 1 und einem starken Sturm ohne Wirbel lag, und dass das Katastrophale allein darin bestand, dass er eben nicht irgendwo, sondern in New York zuschlug – das muss ja nicht erwähnt werden, wenn es sowieso keiner hören will vom Guru.
Jetzt haben wir uns hier, im Blog, allerdings schon vergleichsweise lange mit den Passagen über das Klima selbst aufgehalten. Der Film ist währenddessen längst in eine bizarre Ego-Show des Global Players Al Gore abgestürzt. Sinnfrei erzählt er dabei, wie er in einem Restaurant von einer Dame angesprochen wird: „Sie sehen ja fast aus wie Al Gore“. Er schildert sogar, wie man in seiner Familie das Pro und Contra seiner Präsidentschaftskandidatur abgewogen hat („Nachteil: nicht mehr so oft zu Hause“), er zeigt Al Gore als Kleinkind im Auto seiner Eltern, als Tröster in Paris nach den Terroranschlägen. Und immer wieder: vor seinen jugendlichen Trainees, die ihn abwechselnd betroffen und begeistert anhimmeln wie den Chef einer Sekte. Weder die Macher selbst noch Al Gore als Schirmherr(?) haben versucht, hier einen Zusammenhang zu einer „immer noch unbequemen Wahrheit“ zu ziehen, auch nicht zum postulierten Ablauf der Zeit. Oder will uns Al Gore zwischen den Zeilen seine eigene unbequeme Wahrheit andeuten, dass eben seine Zeit als Groß-Akteur bald abläuft? Will er es nochmal wissen, irgendwo zwischen US-Präsident, Papst und UN-Generalsekretär?
Ein schreiendes Plädoyer an die Welt
Der Film, ein schreiendes Plädoyer an die Welt: Ich, Al Gore! Wollte jemand irgendwann später einen klassischen, wohlmeinenden Nachruf auf Al Gore senden, so könnte er ohne weiteres diesen Film zeigen, ungeschnitten.
Was bleibt da noch als Höhepunkt, als Schlussakkord im Film? Natürlich, Paris, das große Klima-Abkommen 2015. Die ganze Welt am seidenen Faden, der fast gerissen wäre. Wer hat sie gerettet? Genau. Und die Kamera war immer dabei. Zufällig auch, als Al Gore den entscheidenden Satz zu Obamas Außenminister John Kerry sagt: „Irgendwie müssen wir diese Nuss knacken.“ Er hat es dann natürlich allein gemacht, ohne Kerry erstmal, klar. Ein, zwei Anrufe von ihm bei einem alten Bekannten mit viel Geld (immer vor der Kamera), der Kredit für Indien für die Modernisierung seines Energiesektors war mal eben unter Dach und Fach – und das südasiatische Milliarden-Land gab seine Vorbehalte gegen die Zustimmung zum Paris-Abkommen auf. Al Gore, wenn es sein muss auch ein Nussknacker. Natürlich fing der Film auch die großen Dankbarkeitsadressen wichtiger Akteure für den Retter ein. Auch andere seien wichtig gewesen, fügt Al Gore an. Ach wirklich?
So einfach ist es. Kann eigentlich jeder. Lehrer Gore bringt es bei. Machen auch Sie mit, seien Sie dabei, liest man gegen Ende des Films auf der Leinwand. Nicht irgendwie einfach guten Willen zeigen, sich engagieren vor Ort. Nein, es werden natürlich gleich darunter die Adressen der Schulungen von Al Gore eingeblendet. Des Retters, Popstars, Sektenkönigs oder Messias. Man kann es sich aussuchen.
Und nun zu den Fakten: Björn Lomborg über Gores Film hier.
Eine kleine Kollektion deutscher Superstar-Schlagzeilen zur Filmpremiere hier und hier und hier.