Thilo Spahl, Gastautor / 11.05.2018 / 12:00 / Foto: Gloria / 35 / Seite ausdrucken

Abschreckbilder auf der Bierflasche?

Im April hat eine in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Studie zu den Risiken des Alkoholkonsums zu einem beachtlichen Echo in den Medien geführt. Die Überschriften lauteten: „Schon kleine Mengen Alkohol verkürzen das Leben“ (Spiegel Online), „Jedes 2. Glas Wein verkürzt Ihr Leben um 30 Minuten!“ (Bild), „Nur ein Glas zu viel Alkohol verkürzt bereits Ihr Leben“ (RTL), „Alkohol: Bloß nicht mehr als ein Bier pro Tag!“ (Zeit Online) usw.

Auch die hiesige Wissenschaft sekundierte. Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) teilte mit: „Ein regelmäßiger Konsum von mehr als 100 Gramm Alkohol pro Woche verkürzt das Leben erheblich […]. Wer dauerhaft mehr als zwei Liter Bier oder eine Flasche Wein pro Woche konsumiert, riskiert mehr Schlaganfälle, tödliche Aneurysmen und Herzversagen sowie eine insgesamt höhere Gesamtsterblichkeit.“

Schnell wurden Stimmen laut, die Richtwerte (140 Gramm für Männer und 70 für Frauen) sollten angepasst werden. Und da sich die Bevölkerung traditionell eher wenig für solche Richtwerte interessiert, kamen auch Ideen auf, wie die Fürsorglichkeit der um die Volksgesundheit Besorgten den Mann in der Kneipe und die Frau vor dem Fernseher – oder umgekehrt – noch besser erreichen könnte. Cornelia Lange, Leiterin des Fachgebiets Gesundheitsverhalten beim Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin, bekundete, dass abschreckende Aufkleber nach Vorbild der Tabakekelbilder auf Bier- und Weinflaschen oder klare Angaben, wie viele Gläser „erlaubt“ sind (immer nur eins), „enorm helfen“ würden.

Dass aus Sicht der Gesundheitsförderer starker Handlungsbedarf besteht, zeigt der Vergleich von erwünschtem und realem Trinkverhalten. Denn der durchschnittliche Deutsche über 16 Jahren nimmt heute nicht 100 Gramm, sondern 167 Gramm pro Woche zu sich (Stand 2014). Das ist zwar schon erheblich weniger als die 258 Gramm, die sich unsere Eltern 1976 gönnten, aber dennoch leicht zu berechnende 67 Prozent zu viel! Laut RKI ist damit der Durchschnittsdeutsche mit täglich knapp 24 Gramm eindeutig ein Säufer. Und nur deutlich unterdurchschnittliche Trinker weisen kein „riskantes Trinkverhalten“ auf.

Früher Tod wegen ein paar Bier?

Bevor ich jetzt vorschnell pro Tag nur noch ein Bier und einen Schluck Wein trinke, schaue ich mir die Beweislage etwas genauer an. Und es zeigt sich, was zu erwarten war: Von frühem Tod wegen ein paar Bier zu viel kann keine Rede sein. Wer zwei oder vielleicht auch dreimal so viel trinkt wie empfohlen, braucht sich deshalb noch keine großen Sorgen zu machen. (Das gilt zumindest im Großen und Ganzen, jeder Einzelfall ist natürlich auch hier verschieden und bei manchen Menschen wirkt sich Alkohol auch in moderaten Mengen tatsächlich deutlich negativ aus.)

Bei der Lancet-Studie handelte es sich um eine statistische Auswertung von 83 Untersuchungen, die alle Zahlen zu Alkoholkonsum und Herzkreislauferkrankungen sowie allgemeine Sterblichkeit erhoben hatten. Heraus kam, dass das Risiko für Herzkreislauferkrankungen oberhalb von 100 Gramm/Woche mit wachsendem Konsum ansteigt und dass sich die Lebenserwartung etwas verringert. Und zwar um 6 Monate für die, die zwischen 100 und 200 Gramm/Woche lagen, 1 bis 2 Jahre für die Gruppe mit 200-350 Gramm und 4 bis 5 Jahre bei über 350 Gramm. Das ist doch schon mal beruhigend. Wenn ich mich in die Kategorie 200-350 begebe, sind zwei große Bier oder eine halbe Flasche Wein pro Tag locker drin. Statt 85 werde ich dann vielleicht nur 83 oder 84 Jahre alt – und kann mir relativ gelassen sagen: Quantität ist nicht alles.

Ebenfalls beruhigend ist es, sich die Gruppe 100-200 Gramm genauer anzuschauen. Die Autoren suggerieren ja, dass es ab 100 Gramm ungesund werde und jedes Bier zu viel vermieden werden sollte. Ihre eigenen Daten zeigen jedoch, dass das Risiko für Herzkreislauferkrankungen erst bei über 200 Gramm leicht über das der Nichttrinker steigt (rechte Grafik) und davor verringert ist. Die Sterblichkeit ist ebenfalls erst ab 200 Gramm signifikant erhöht (linke Grafik).

Was in den Zeitungen ebenfalls nicht zu lesen war, zeigt diese Grafik. Das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, ist für alle Gruppen deutlich verringert. Und das Risiko für koronare Herzkrankheit ohne Herzinfarkt steigt ebenfalls keinesfalls ab 100 Gramm deutlich an, sondern erst bei knapp 200, um danach wieder zu sinken.

Jetzt wird klar, warum in der Mitteilung des Deutschen Krebsforschungszentrums nur von „Schlaganfällen, tödlichen Aneurysmen und Herzversagen“ die Rede war. Weil sich bei den Herzinfarkten eine Verringerung gezeigt hat. Und die sind insgesamt häufiger als Schlaganfälle und sehr viel häufiger als Aneurysmen und Herzversagen. Die Herzinfarkte werden zwar weiter unten im Text erwähnt, aber nur mit dem Hinweis, es habe sich wieder gezeigt, dass bei „moderatem Alkoholkonsum weniger Herzinfarkte auftraten“ (Soll ich daraus entnehmen, dass für das DKFZ auch 400 Gramm pro Woche noch moderat sind?)

Vielleicht liegt es gar nicht am Alkohol

Die Ergebnisse der Studien unterstützen also die Forderung nach einem niedrigen Limit für den Alkoholkonsum keineswegs so deutlich, wie es in den Medien erschien. Das ist aber noch nicht das ganze Problem. Fraglich ist auch, wie verlässlich die Ergebnisse überhaupt sind.

Es ist bekannt, dass solche Studien ein grundsätzliches Problem haben. Menschen, die kaum einmal ein zweites, drittes oder viertes Bier trinken, unterscheiden sich von solchen, die das öfter mal tun, häufig in sehr vieler Hinsicht. Die Mehrtrinker fahren vielleicht auch mehr Ski, haben vielleicht mehr Sex, essen zum Bier vielleicht eine Menge Salzstangen, grillen gerne, essen weniger Gemüse, sind häufiger unverheiratet, schlafen seltener mit offenem Fenster, usw. usf. Vielleicht. Wir wissen es nicht.

Aber wir wissen, dass es Unmengen an gesundheitsrelevanten Unterschieden geben kann. Deshalb ist es immer gewagt, zu behaupten, ihr geringfügig früheres Ableben müsse auf die zusätzlichen Biere zurückzuführen sein. Natürlich versuchen die Wissenschaftler, andere Faktoren herauszurechnen, aber ein Lebensstil ist eine so komplexe Angelegenheit, dass das immer nur als Versuch gewertet werden kann, der mal besser, mal weniger gut gelingt. Wir können also mit gutem Recht behaupten: Vielleicht liegt es gar nicht am Alkohol.

Deshalb muss es uns nicht wundern, dass andere Studien zu anderen Ergebnissen kommen. Eine in der Zeitschrift Stroke im Januar 2018 erschienene koreanische Studie mit über 200.000 Teilnehmern zeigt, dass das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall (cardio-cerebrovascular disease – CCVD) insgesamt selbst bei einem Konsum von über 400 Gramm pro Woche nicht erhöht, sondern sogar geringfügig verringert ist (rote Linie). Und auch die allgemeine Sterblichkeit (blaue Linie) steigt hier erst bei über 400 Gramm an. Und um auf 400 Gramm zu kommen, muss man schon recht trinkfest sein.

Ein bekanntes Problem besteht zudem darin, dass, nach ihrem Alkoholkonsum befragt, die meisten Menschen dazu neigen, weniger anzugeben, als sie tatsächlich trinken. Und je mehr vor den Gefahren des Trinkens gewarnt wird, desto deutlicher dürfte dieser Effekt ausfallen. Das führt dazu, dass in Korrelationsstudien negative gesundheitliche Befunde mit geringeren Konsummengen in Verbindung gebracht werden, als tatsächlich vorliegen. Vielleicht trinken die Leute aus der 100-200-Gramm-Gruppe also in Wirklichkeit 150 bis 250 Gramm.

18 Halbe für den Mitarbeiter – pro Woche

Eine Möglichkeit, diese Verzerrung zu vermeiden, besteht darin, sich nicht auf Befragung zu stützen, sondern zum Beispiel den Zusammenhang zwischen klinisch diagnostiziertem Alkoholismus und Herzkreislaufkrankheiten zu untersuchen. In einer amerikanischen Studie mit insgesamt fast 15 Millionen Patienten wurde so vorgegangen. Hier waren die Ergebnisse sehr deutlich: Unter anderem war das Herzinfarktrisiko bei Alkoholikern um knapp 50 Prozent erhöht. Doch als Alkoholiker wurden hier nicht Leute gewertet, die gelegentlich mehr als ein Bier am Tag trinken, also die Mehrheit der Bevölkerung, sondern solche, die ein echtes Alkoholproblem haben, was laut Studie bei 10 bis 15 Millionen Amerikanern der Fall ist.

Wir können also davon ausgehen, dass die drei bis fünf Prozent der stärksten Trinker auf jeden Fall ein signifikant erhöhtes Risiko für Herzkreislaufkrankheiten haben. Vielleicht auch ein paar mehr, aber eben nicht 50 oder 60 Prozent. Auch hier müssen wir zudem beachten, dass Alkoholiker oft noch eine ganze Menge andere Probleme haben, die sich ebenfalls ungünstig auf das Erkrankungsrisiko auswirken.

Fazit: Die 100 Gramm können wir getrost vergessen. Auf Warnhinweise und erst recht auf Ekelbilder lasst uns bitte verzichten! Aber ich ahne es schon: Das wird die „Aufklärer“ nicht abhalten, ihre Forderungen weiter mit Nachdruck und Ausdauer zu wiederholen. Die ersten, die vielleicht darunter zu leiden haben werden, sind die Brauereimitarbeiter. Denn dort herrscht noch immer der alte Brauch des Haustrunks. Tarifvertraglich festgelegt und steuerfrei erhält zum Beispiel in Bayern jeder Mitarbeiter 18 Liter Bier pro Woche, wie ich der FAZ entnehme. Das sind 18 Halbe für den Mitarbeiter und nochmal 18 für den Ehepartner. Pro Woche. Wenn sie Glück haben, ist noch ein bisschen mitzuversorgende Verwandtschaft da, die helfen kann, dass sich das Leben nicht gar zu arg verkürzt.

Was komischerweise nie berechnet wird, ist der Lebensfreude erhöhende Effekt von Alkohol. Denn das „riskante Zellgift“ wirkt bekanntlich angstlösend, entspannend und stimulierend. Die meisten von uns trinken gerne und in Maßen (wenn auch nicht den von offizieller Seite gewünscht niedrigen Maßen). Was nichts anderes bedeutet, als dass es uns Freude bereitet. Vor allem wahrscheinlich, weil es das Zwischenmenschliche fördert. Und das Zwischenmenschliche ist doch wohl unter den schönen und wichtigen Dingen im Leben nicht das Geringste!

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Novo.

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Leserpost

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H.Roth / 11.05.2018

Bevor die Bayern sich von diesen preussischen Gesundheitsförderern in ihr Bier spucken lassen, wird es eine Sezession geben.  Und diese wird an den bayerischen Stammtischen entschieden werden. Für das dann verbleibende, gesundgeförderte Deutschland empfehle ich als Abschreckbilder für die Flaschen: Fotos von Schulz, Juncker und Co.

Wolfgang Richter / 11.05.2018

Nach dem Tabak nun Ekelbilder auf Zuckertüten und Bierflaschen, dafür das Kiffen frei geben und als vergleichweise unbedenklich erklären, und alle sind glücklich in einer durch rosarote Brille betrachteten neuen Weltordnung. Willkommen im Land der zunehmend Durchgeknallten.

Albert Fütterer / 11.05.2018

Alkoholkonsum wird immer nur in Bezug auf Bier und Wein gebracht. Sehr viele Menschen konsumieren Alkohol aber in Form von Spirituosen, die sie mit anderen Getränken vermischen, z.B. das in meinem Bekanntenkreis weitverbreitete Bacardi-Cola. Hierbei geht aus meiner Sicht die gesundheitsgefährdende Wirkung nicht vom Alkohol, sondern von der Cola aus.

Elmar Schürscheid / 11.05.2018

Tja, Spaß ist verboten. Der große Bruder sieht Dich an. Das geht beim Essen weiter und hört beim Sex nicht auf. Und wer auch noch Sachen raucht…..? Hauptsache die GEZ wird bezahlt. Ich könnte nur noch lachen wenn es nicht so schlimm wäre.

Christoph Nahrgang / 11.05.2018

Ich bin seit vielen Jahren Pfeifenraucher. Da ich im wesentlichen immer den gleichen Tabak rauche, habe ich die stetig zunehmende Paternalisierung der Tabakdosen aus erster Hand und mit wachsendem Missmut beobachten können. Auch als dann vor einer Weile die regelmäßige Deckelbeschriftung „Rauchen kann tödlich sein“ eingeführt wurde, wuchs der Missmut weiter. Aber immerhin: Rauchen kann ja wohl tatsächlich - von Fall zu Fall - irgendwie tödlich sein. Als dann in einem nächsten nächsten Schritt diese Beschriftung wieder einer neuen weichen mußte, nämlich „Rauchen IST tödlich“, wuchs der Grad des Missmutes bis zur Obergrenze, von wo aus es ja - wie der Name schon sagt - nicht mehr weiter nach oben geht. Wer es dennoch versucht, findet sich dann nicht selten, aber auch nicht überraschend im Wut- oder Zornbereich wieder. Wer öffentlich solch apodiktische Aussagen zu letzten Dingen macht, leidet vermutlich unter Allmachtsphantasien, die nur darauf warten, einer Realisierung zugeführt zu werden. Und wenn alles, was tödlich sein KANN, auch schon tödlich IST: Oh, wie viele neue Paternalisierungsbeschriftungen sind da noch anzubringen!

Dr. Liu Mei / 11.05.2018

Jetzt wird das Volk halal-liert durch Taqiyya. Der Großmufti läßt grüßen!

armin wacker / 11.05.2018

Der Tod ist tot. Ich verlasse mich da auf Jesus Christus.  Die können mich mal alle.

Wiebke Lenz / 11.05.2018

Herzlichen Dank für diesen Artikel! Und bei Steuererhöhungen (ich gehe davon aus, dass die Diskussionen nichts anderes sind als schon mal eine versteckte Ankündigung) käme letzten Endes wohl heraus, dass noch mehr Menschen ihren Wein selbst ansetzen und ihr Bier selbst brauen. Beides überhaupt nicht schwierig. Beim Brennen habe ich persönlich Bedenken wegen des Steigungswinkels (Ethyl und Methyl haben ja nun einmal unterschiedliche Wirkungen auf den Körper.) Aber auch dies wird dann zunehmen - mit den bekannten Risiken der Erblindung etc. Andererseits - warum sollte das Ganze eigentlich in Anbetracht der Debatten um Demographie und Renten ein Problem darstellen? Die Rentner werden doch (leider!) vorwiegend als wirtschaftliche Belastung gesehen. Insofern mache ich mir jetzt ein Bier auf - getreu dem Motto: Ein guter Patriot ist ein Jahr vor der Rente tot. Prost - ein Hoch auf die Lebensfreude!

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