Vera Lengsfeld / 27.01.2009 / 11:21 / 0 / Seite ausdrucken

Siebenundzwanzigster Januar 1989/2009

Der gestrigen Sitzung der Wahlkommission folgt heute der Wahlaufruf zur Kommunalwahl im Mai. Wieder wird aufgefordert die Kandidaten der Einheitsliste der Nationalen Front zu unterstützen.
Zwar gibt es verschiedene Parteien und Massenorganisationen in der DDR, es gibt aber nur eine Liste für alle. Während die SED- Partei-, und Staatsführung bangen muss, ob die nächsten Wahlen problemlos über die Bühne gehen werden, ist Gorbatschow in der Sowjetunion in schwere Turbulenzen geraten. Die Währung der Sowjetunion ist außer Kontrolle. Der Rubel fällt ins Bodenlose. Die ohnehin geringen Einkommen der Sowjetbürger werden bedrohlich reduziert.
Die Versorgung gerät immer öfter ins Stocken. Auf dem Lande ist schon längst die Naturalwirtschaft zurückgekehrt, in den Städten blüht der Schwarzmarkt. nur hier kann man all die Produkte erhalten, die es in den staatlichen Läden schon längst nicht mehr gibt. Selbst in Moskau, in den großen Boulevards sind immer mehr Schaufenster mit Pappe vernagelt. Gorbatschow muss die geplante Preisreform auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. „Bild“ spekuliert, ob der sowjetische Staatschef noch in der Lage ist, diese Krise zu bewältigen, oder ob er stürzt.
Heute in Sofia. Die Stadt sieht zum größten Teil noch so aus, wie in tiefsten sozialistischen Zeiten. Wer vergessen hat, was der Realsozialismus für die Bausubstanz der Städte bedeutet hat, könnte sein Gedächtnis in Sofia auffrischen. Die neue Zeit erkennt man an merkwürdigen Kabelschnüren, die in der Höhe des ersten Stockwerkes sich an den Fassaden langschlängeln und sich über die Straße von Haus zu Haus schwingen. Das sind die Kabel für die Telefon-, und Internetverbindungen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gelegt wurden. Die Osttristesse wird noch durch die importierte Westtristesse in Form von Graffitti- Schmierereien verstärkt. Die Luft ist zum Schneiden Hier wird noch mit Kohle oder Holz geheizt. Alle Ofenbesitzer waren in diesem Winter im Vorteil, denn sie bekamen die Gasknappheit nicht so zu spüren, wie diejenigen, die auf die Fernheizung angewiesen waren. Viele Menschen in Sofia sind ärmlich gekleidet. Eine Besonderheit sind die herrenlosen Hunde der Stadt, die tagsüber faul auf den Plätzen herumliegen , nachts sich aber in Rudeln zusammenfinden und sogar Menschen anfallen. Eine tapfre deutsche Dame hat sich vorgenommen, diese Hunde zu sterilisieren und so zu helfen, diesem Problem Herr zu werden. Sie hat aber nicht bedacht, dass die Behörde, die ihr die Hunde zuführt, an ihrem Überleben interessiert ist, also dafür sorgen muss, dass immer genug Hunde da sind. Während sozialistische Ärmlichkeit und Verwahrlosung das Stadtbild prägt, herrscht in den Läden die Üppigkeit der Marktwirtschaft. Auf mich wirken manche Luxusgeschäfte in ihrer schäbigen Umgebung fast obszön. Das arme Bulgarien verfügt über jede Menge sehr reicher Leute. Tatsächlich ist die Millionärsdichte eien der höchsten Europas. Es soll sich überwiegend um ehemalige Mitarbeiter der Staatsicherheit und ihre Nachkommen handeln, die wie ihre DDR-Kollegen nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes das Geld der Machthaber beiseite geschafft haben. Sie konnten aber direkter profitieren, weil der Rechtsstaat in Bulgarien bis heute nicht funktioniert. Solange diese Leute die bulgarische Wirtschaft beherrschen, stehen die Chancen auf Erholung des Landes nicht gut.

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