Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 08.01.2007 / 09:20 / 0 / Seite ausdrucken

2007 - das Jahr der Westminsterastrologie

Die britische Politik bietet derzeit gute Beschäftigungsmöglichkeiten für arbeitslose Kremlastrologen. Wir erinnern uns: zu Zeiten des Kalten Krieges war es oft kaum möglich, eindeutige Stellungnahmen sowjetischer Politfunktionäre zu erhalten. Also war man darauf angewiesen, zwischen den Zeilen offiziöser Verlautbarungen zu lesen. Das war zwar nicht unbedingt eine zuverlässige, aber doch die einzige Möglichkeit, sich ein Bild von den Plänen der Regierung zu machen.

Nicht viel anders geht es derzeit in Westminster zu. Nachdem Tony Blair von der Opposition in seiner eigenen Partei dazu gedrängt worden war, öffentlich zu erklären, dass er sein Amt bis spätestens zum nächsten Gewerkschaftskongress im September 2007 niederlegen wird, blühen die Spekulationen über die Zukunft der Regierung. Genährt werden sie dabei von sibyllinischen Äußerungen aus dem Kabinett und der Partei.

Es gibt mehrere Gründe, warum es derzeit so schwer ist, die Zeit nach Tony Blair vorherzusagen. Noch ist nicht einmal klar, wann er tatsächlich 10 Downing Street verlassen wird. Noch diesen Monat? Vor oder nach den schottischen Wahlen im Mai? Vor der parlamentarischen Sommerpause? Für jeden nur denkbaren Zeitpunkt gibt es inzwischen Anhaltspunkte und Gründe - aber eben auch dagegen. Die nächste Unsicherheit: wer folgt auf Blair? Die besten Chancen hat sicherlich Gordon Brown, der seit Blairs Amtsantritt 1997 dessen Schatzkanzler war und sich seitdem als legitimer Nachfolger fühlt. Doch Browns Umfragewerte sind wenig überzeugend, ganz im Gegensatz etwa zum populären Innenminister John Reid, der im Hintergrund die Chancen einer Gegenkandidatur prüft.

Nehmen wir aber einmal an, es würde tatsächlich auf Gordon Brown hinauslaufen. Selbst dann wäre immer noch nicht klar, wie es in der britischen Politik weiterginge. Würde Gordon Brown die Bestätigung der Wähler für seine neue Regierung suchen und vorgezogene Neuwahlen ausrufen? Dafür spricht ein Schreiben der Labour-Geschäftsführung an die Parteiaktivisten, man möge sich auf einen Urnengang innerhalb des nächsten Jahres einrichten. Dagegen sprechen die Labour-Parteifinanzen, welche die Partei nur bedingt kampagnefähig erscheinen lassen. Und dagegen spricht im übrigen auch Brown selbst, der nicht dafür bekannt ist, das Risiko zu suchen. Wahrscheinlich hätte er gute Chancen, mit einem frischen Amtsbonus wiedergewählt zu werden - bessere Chancen zumindest als nach zweieinhalb Jahren im Amt als Chef einer verbrauchten Regierung.

Bliebe die letzte Unsicherheit. Mit oder ohne Neuwahlen: wofür würde Gordon Brown als Premierminister eigentlich stehen? Die bisherige Labour-Regierung war durch einen klaren Dualismus geprägt. Blair konzentrierte sich auf die Außenpolitik, und Brown nutzte seine Rolle als Finanzminister zur Gestaltung weiter Teile der Innenpolitik. Nun sind die in letzter Zeit bescheidenen Umfragewerte für Labour von vielen Analysten vor allem durch Blairs Irakpolitik erklärt worden. Was läge also für einen Premierminister Gordon Brown näher, als mit dieser Außenpolitik seines Vorgängers zu brechen, um sich eben damit als Neuanfang für Labour darzustellen?

Womit wir wieder bei der Kremlastrologie wären. Wenn man die jüngsten Äußerungen des Schatzkanzlers zugrundelegt, dann deutet sich eben dieser radikale Umbruch in der britischen Außenpolitik an. In einem BBC-Interview sagte Mr Brown nämlich, dass er gegenüber dem amerikanischen Präsidenten seine Meinung offen vertreten werde. Wörtlich fügte er hinzu: “The British national interest is what I and my colleagues are about.” Übersetzt kann dies nur heißen, auf Distanz zu Washington zu gehen. Und während man jenseits des Atlantiks über die Entsendung weiterer Soldaten an den Golf diskutiert, spricht Brown bereits offen davon, bis Ende des Jahres britische Soldaten aus der Region abzuziehen.

Für Westminsterastrologen sollte die Sache also klar sein: Gordon Brown hat erkannt, wie aus einem etwas trockenen, schottischen Finanzpolitiker ein mitreißender Parteiführer und Premierminister werden kann, nämlich indem er sich eindeutig gegen die US-Regierung stellt. Im Gegensatz zu kontinentaleuropäischen Politikern wird er dies wahrscheinlich nicht auf Marktplätzen verkünden, aber er wird die Abkehr vom Irakkurs Blairs zur eigenen Positionierung nutzen.

Die Sterne über Westminster lügen nie.

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